Ian Curtis: Die letzten Tage des Joy-Division-Sängers
Ian Curtis' Tod begründete den Mythos eines Mannes, der nur für kurze Zeit in der Popwelt wirkte.
Ian Curtis und Joy Division bleiben einzigartig. Nicht zuletzt, weil ihre Musik Emotionen, Trauer und Schrecken in einer Weise schildert, wie sie die Popmusik nur selten darzustellen vermochte. Außerdem deshalb, weil Ian Curtis nichts zurückhielt, um seine inneren Gefühle zu offenbaren, sowohl live als auch auf den beiden Alben der Band. In der Tat schien er die Zuhörer direkt anzusingen. Auf eine Art und Weise, die für ein Pop-Album ungewöhnlich persönlich ist.
Robert Smith von The Cure, selbst kein Unbekannter in Sachen Tiefgründigkeit, drückte es so aus: „Ich erinnere mich, dass ich ‚Closer‘ zum ersten Mal hörte und dachte: ‚Ich kann mir nicht vorstellen, jemals etwas so kraftvolles wie dieses zu machen. Ich dachte, ich müsste mich umbringen, um eine überzeugende Platte zu machen’“.
Aus tiefem Grau
Um zu verstehen, warum Joy Division so klangen, wie sie klangen, ist es wichtig, die Zeit und den Kontext zu betrachten, in denen die Bandmitglieder aufwuchsen und lebten. Das britische Empire und die Klassenstrukturen bröckelten, Arbeitslosigkeit und Inflation stürzten das Land in eine immer größere Krise. Großbritannien befand sich in einem wirtschaftlichen Niedergang mit enormen Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, politischer Polarisierung und einer unendlichen Anzahl von Streiks. Ganz zu schweigen von der zusätzlichen Gefahr durch IRA-Bomben. Der Optimismus der „Swinging Sixties“ war endgültig verflogen.
Dies galt insbesondere für den Norden Englands im Allgemeinen und Manchester im Besonderen. Eine Stadt, die in der industriellen Revolution eine wichtige Rolle gespielt hatte. Sie stand sinnbildlich für eine Region, die sich seit dem Niedergang so ziemlich aller dortigen Industrien (von der Kohle bis zur Tuchweberei) im Zustand der Daueragonie befand. Joy-Division-Gitarrist Bernard Sumner erinnerte sich an ein Manchester voller Fabriken, in denen „nichts, was hübsch war“ existierte. Laut ihm wuchsen sie an einem Ort auf, „an dem man keine großen Chancen hatte, in der Welt wirklich voranzukommen“.
Die Kinder Manchesters
In der Musik von Joy Division konnte man die Szenerien des Manchester der siebziger Jahre hören. Tatsächlich war das erste Album „Unknown Pleasures“ „das Album, das am perfektesten den Geist von 1979 heraufbeschwörte“, so der Journalist Mick Middles.
Viele Gesichter
Der Polizistensohn und Schulabbrecher Curtis hatte zunächst in einem Plattenladen gejobbt, später erst im Verteidigungsministerium, dann im Arbeitsamt gearbeitet. 1974 heiratete er seine Freundin Debbie Woodruff, die beiden haben eine Tochter, Natalie. Curtis war depressiv, er nahm Valium und Drogen. Er schrieb Texte, liebte Musik. Es gab den Ehemann und Vater, der stolz darauf war, Menschen mit Behinderung beim Arbeitsamt in Macclesfield zu helfen. Außerdem der Bursche, der mit der Band und seinen Freunden alle möglichen kindlichen Streiche mitmachte, darunter „Groupies jagen, in Aschenbecher pissen und Scheißhaufen in Toiletten begutachten“, wie sich Joy-Division-Bassist Peter Hook erinnerte.
Letztlich der Ästhet, der vom Tod und Rock- und Filmstars besessen war, die jung gestorben waren. Der über menschliches Leid in Dostojewski, Nietzsche, Hesse und Ballard las. Deiner Frau Debbie aus Oscar Wildes Der glückliche Prinz“ vorlas, dass „kein Geheimnis so groß ist wie das Elend“. Laut Peter Hook „gab es einfach zu viele Ians, mit denen wir nicht fertig werden konnten. Der perfekte Freund oder Partner für Ian hätte all diese Dinge miteinander kombiniert, aber wenn diese Person existierte, verkehrte sie nicht in unseren Kreisen, also musste er ein Chamäleon sein. Wenn ich darüber nachdenke, wette ich, dass nicht einmal Ian wusste, wer der ‚echte‘ Ian war“.
Das Bild des Ian Curtis
Ein großer Teil des Mythos und der Mystik, die Joy Division und Ian Curtis umgeben, neigt dazu, ein eher eindimensionales Gefühl von Qual und Düsterkeit zu vermitteln. Vielleicht, weil die Band nur wenige Interviews gab und die Gestaltung der Album-Cover wenig Informationen über sie enthält. Zudem waren die Bilder und das Filmmaterial, das von Joy Division veröffentlicht wurde, fast ausschließlich in schwarz-weiß gehalten. Einschließlich des Biopics „Control“, das auf dem Buch „Touching From a Distance“ von Ians Frau Debbie Curtis basiert. Den Film schuf Anton Corbijn, der Ende der Siebziger mit seinen Schwarz-Weiß-Fotos für das wöchentliche Musikblatt NME die mythische Optik von Joy-Division entscheidend mitgeprägt hatte. Durch die Veröffentlichung 2007 ist Curtis endgültig zur historischen Figur geworden.
Laut Kevin Cummins, dem weiteren zentralen Fotografen Joy Divisions, war Ian Curtis ein unterhaltsamer Zeitgenosse, „aber er hat dieses Bild eines depressiven, zurückgezogenen, düsteren, romantischen Helden, weil ich nur Fotos veröffentlicht habe, auf denen Ian deprimiert aussieht“.
Deutliche Zeichen
Doch wie sehr Ian auch immer ein undurchschaubare Fassade bewahrte und es seinen Mitmenschen Freude bereitete, mit ihm Zeit zu verbringen, zeigt der Rückblick deutliche Anzeichen dafür, dass es ihm nicht gut ging. Seine Epilepsie, die im Dezember 1978 diagnostiziert worden war, wurde zur immer größeren Last, da die Anfälle sowohl auf als auch neben der Bühne immer stärker und häufiger wurden. Die Medikamente, die er zur Prävention nahm, wurden von zahlreichen unangenehmen Nebenwirkungen begleitet.
Ian Curtis Texte schilderten immer Bilder von menschlicher Grausamkeit und Kälte, Druck, Krisen, Versagen und Kontrollverlust. Als sich seine Ehe und sein Gesundheitszustand gen Abgrund bewegten und er den Druck spürte, Frontmann einer immer beliebteren Band zu sein, nahmen sie trotz allem bis dato unbekannte Ausmaße an. So sang er Zeilen wie „Existence, well what does it matter“, „It’s creeping up slowly, that last fatal hour“, „I’ve lost the will to want more“ und „Look beyond the day at hand, there’s nothing there at all“. Der Journalist Paul Morley bezeichnete das Album „Closer“ als „eine Reihe von unverhohlenen Abschiedsbriefen an eine Reihe von Menschen in Ians unmittelbarer Umgebung“.
„Joy Division an sich ist schon eine so große Verantwortung“
Aber wollte Ian Curtis einen romantischen Tod sterben, frei nach dem Vorbild von David Bowies „Rock’n’Roll-Suicide“? Waren es die Medikamente, die ihn dazu brachten, sein eigenes Leben zu beenden, wie seine Frau und einige Freunde glaubten? Oder war es die ganze Seelensuche, die Krankheit und die Notwendigkeit, eine Lebensentscheidung zwischen seiner Frau und der Affäre mit der belgischen Journalistin Annik Honoré treffen zu müssen?
Curtis selbst gab einen Hinweis, als er 1980 gegenüber „Radio Blackburn“ sagte: „Im Grunde genommen wollen wir spielen und es genießen. Ich denke, wenn wir das nicht mehr tun, dann ist es an der Zeit, es zu beenden. Das wird das Ende sein.“ Debbie Curtis zufolge hatte er lediglich die Absicht, ein einziges Album und eine Single zu machen. Mit dem Musikgeschäft und dem Druck, in Joy Division zu sein, war er unzufrieden. Wie Curtis in einem Brief an Annik Honoré schrieb: „Joy Division an sich ist schon eine so große Verantwortung. Nicht nur für meine eigene Gesundheit und meinen Seelenfrieden, sondern auch wegen die Tatsache, dass die Zukunft anderer auf mir ruht. Die Belastung wurde in der Tat zu groß“.
Ian Curtis ist tot
Bald war es zu Ende. Ian Curtis erhängte sich in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai 1980 in seiner Wohnung in Macclesfield bei Manchester. Er wurde 23 Jahre alt. Am nächsten Tag sollte er in die USA zum Start der Joy-Division-Tournee fliegen. Ein paar Wochen zuvor hatte seine Frau die Scheidung eingereicht, Curtis die Affäre mit Annik Honoré beendet. Seine epileptischen Anfälle hatten zugenommen, sein Tabletten- und Drogenkonsum auch.
Ian Curtis hatte Kaffee und Schnaps getrunken, Iggy Pops Album „The Idiot“ lag auf dem Plattenspieler. Darauf der Song „Tiny Girls“, der mit der Zeile beginnt: „Well the day begins, you don’t want to live, cause you can’t believe in the one you’re with“. In der Nacht zuvor hatte er Werner Herzogs Film „Stroszek“ gesehen. Er handelt von einen Musiker, der nach Amerika zieht, von seiner Freundin betrogen wird und sich am Ende das Leben nimmt.
Auf dem Kaminsims hinterließ er einen Zettel an Debbie, die ihren Noch-Ehemann wenig später fand. Nach Angaben des Nachbarn Kevin Wood schrieb Ian Curtis darin, dass er nach seiner Rückkehr aus Amerika weiter mit ihr leben wolle. In den folgenden Wochen, Monaten und Jahren entstanden viele Meinungen darüber, was geschehen war und warum. Peter Hook sagte, Ian Curtis schien glücklich darüber zu sein, in den USA unterwegs zu sein. Curtis Freund und Kollege Genesis P-Orridge hingegen war sich sicher, „dass er lieber sterben würde, als auf diese Tournee zu gehen“.
Laut Curtis Schwester Carole war einer der Gründe dafür, dass ihr Bruder „seine Emotionen maskieren konnte. Er ließ dich nie wissen, was wirklich vor sich ging. Er wollte dich nicht beunruhigen. In meiner Vorstellung hätte ich nie gedacht, dass er älter als 30 wird.“
Realität und Vermächtnis
Joy Division verkauften im Laufe der Jahre unzählige Alben ohne Werbung oder Marketingbudgets, was auf die Freiheit zurückzuführen ist, die ihre anarchische und idealistische (manche würden sagen, leichtfertig und finanziell unsolide) Plattenfirma Factory Records ihnen bot. Tatsächlich erhielten die beiden Alben der Band bei ihrer Veröffentlichung exzellente Kritiken vom damals maßgeblichen NME. „Closer“ erreichte Platz 6 der britischen Album-Charts.
Gleichzeitig gingen die Bandmitglieder während Großteils der Existenz von Joy Division Broterwerbs-Jobs nach, die sie irgendwie mit dem Leben in einer Band in Einklang bringen mussten. Vor den Aufnahmen zu „Closer“ entledigten sie sich dieser Hindernisse und lebten von etwa 50 Pfund die Woche. Zu Lebzeiten von Ian Curtis verdiente niemand von ihnen viel Geld. Laut dem hauseigenen Designer Peter Saville, der die Cover von Joy Division entwarf, „ist Ians Geschichte eine der letzten wahren Geschichten im Pop … in einer geschäftsdominierten Popkultur“.
ROLLING-STONE-Autor Ralf Niemczyk über Ian Curtis:
Zu seinen Lebzeiten blieb Curtis ein Indie-Maestro innerhalb einer kleinen Gegenkultur. Sein Suizid am 18. Mai 1980 erhöhte den depressiven Sänger schließlich zu einer legendären Gestalt der Popkultur. Die Platten „Unknown Pleasures“ (1979) und das tiefmelancholische Album „Closer“ (1980), die Curtis mit seiner Band Joy Divison aufnahm, waren zunächst eher in Insiderkreisen bekannt. Zu den raren Deutschland-Shows, etwa im Kölner Basement oder im Berliner Kant Kino, kamen im Januar 1980 jeweils nur 300 bis 350 Leute.
Ein Gottesdienst der Wissenden, bestehend aus Punks, Wavern mit schmalen Schlipsen, Bowie-Fans und England-Gutfindern. Heute gelten beide Alben als visionär und epochal. Düster-aggressive, unterkühlt vorgetragene Lyrics. Der von Martin Hannett eingerichtete Sound, der klaustrophobisch und kalt klang. Dazu Peter Hooks berühmten Brummelbass und Stephen Morris von Produzent Hannett auf das Dach des Aufnahmestudios verbanntes, einsames Schlagzeug.
Mehr noch als durch seinen tiefen Bariton-Gesang und den energetischen Bühnenvortrag lebt die Legende Ian Curtis durch die Ideal-Verkörperung des tiefsinnig-schwierigen jungen Mannes weiter. Als Dichter, Songwriter, Philosoph eines ganz und gar nicht heiteren Alltags. Auch über dreißig Jahre nach seinem Tod ist er damit zum ewigen Charakter im weiten Arsenal der Popkultur geworden.
Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob ein später Ian Curtis den Weg des Robert Smith gegangen wäre, der als junger, noch schmaler und kurzhaariger Gitarrist von The Cure Anfang der Achtziger eine nicht unähnliche Aura ausstrahlte. Ebenso wenig werden wir je erfahren, ob ihm der Wechsel seiner Bandgenossen zum elektronischen Nachfolgeprojekt New Order gefallen hätte.
Ian Curtis liegt in Macclesfield begraben. Sein Grabstein trägt die von seiner Frau gewählte Inschrift „Love Will Tear Us Apart“ – der Titel der letzten Joy-Division-Single. In einer Notiz an seine Frau schrieb er vor seinem Tod: „Die Wirklichkeit nur ein Begriff, der auf Werten und eingefahrenen Prinzipien beruht, während der Traum ewig weitergeht“.