Hurricane 2010: From Dust Till Dawn. Der Nachbericht.
Wer es auf dem Hurricane ein ganzes Wochenende aushalten möchte, der muss Staub fressen können. Eine Erkenntnis, die keine neue ist. Ein gelungenes Festival wurde es dennoch. Daniel Koch war da und versucht zu erklären, wieso.
Den Dreck noch unter den Fingernägeln. Der Hals fühlt sich an, als hätte man morgens einen Sandkasten zum Toast gereicht bekommen. Und seit wann hat man eigentlich diesen dunklen Vollbart? Oder ist das auch nur wieder der Staub der Lüneburger Heide, den man sich am Wochenende zwangsläufig reingeatmet hat und der einem nun überall auf der Haut klebt? Keine Frage, wer sich das vergangene Wochenende am Eichenring in der Nähe von Scheeßel um die Ohren geschlagen hat, der musste Staub fressen können.
Das Hurricane Festival ist bekanntlich neben dem Rock am Ring die andere große Festivalinstanz in Deutschland und hat sich seit 1997 auf die inzwischen recht stattliche Besucherzahl von 70.000 heraufgespielt. Dem branchenüblichen Wer-hat-den-Längsten-, pardon Wer-hat-den-größeren-Headliner-Battle stellt man sich dabei zwar auch – und griff sicher für die Strokes tief in Omas Sparstrump – dennoch setzt das Hurricane im Gegensatz zum Ring eher verstärkt auf das Indie-Segment und bekommt auf diese Weise meistens ein Line-up hin, das den stubenhockenden Indie-Nerd genauso auf’s Feld treibt, wie die Kategorie Festivalwildsau, die sich überwiegend im Rudel auf dem Campingfeld sammelt, um dann bei – sagen wir – den Beatsteaks oder Billy Talent als Stampede vor die Bühne zu preschen.
Wenn man sich diesem Zusammentreffen der Konzertkulturen mit norddeutscher Ruhe stellt und auch ansonsten nicht aus Zucker ist, hatte man jedoch wieder ein Wochenende, das überzeugende Künstler von groß bis klein zeigte, gepaart mit den üblichen Festivalbespaßungszombiebands und Kuriositäten vom Comeback-Karrussel. Also eigentlich genau das, was man von einem Festival dieser Größenordnung ein Stück weit erwartet.
Beinahe traditionell begann das Hurricane am Freitag nach Tagen der Sonne mit bescheidenem Wind- und Nieselregenwetter gepaart mit einer Niederlage der Nationalmannschaft, die dem publicviewenden Campingland für ein paar Minuten die Stimmung vergrätzte. Bis dann so langsam die Einsicht dämmerte, dass da draußen hinter dem Bauzaun ja noch ein Festival zu befeiern wäre. Selbiges brauchte jedoch ein wenig, um in den Tritt zu finden. So mussten die Get Up Kids vor einem komplett leeren vorderen Bühnenbereich spielen, weil anscheinend die Absicherungsarbeiten noch nicht abgeschlossen waren. Schade, dass man so was immer raten muss, weil die betont knurrbärigen Ordner nicht wirklich wussten, warum’s nicht läuft. Und anscheinend auch nicht wissen, wie man das Funkgerät anschaltet, das ja auch zur Klärung dieser Fragen genutzt werden kann. Die Get Up Kids gaben dennoch alles und spielten ihre nun etwas aus der Zeit gefallenen Die-Bösen-nennen-es-Emo-Hits wie „I’m A Loner Dottie, A Rebel“. Und alle so: „Come tomorrow I’ll be on my way back home!“ Was natürlich nicht ganz stimmte, aber sich schön mitsingen ließ in der noch jungfräulichen und noch nicht gänzlich angestaubten Euphorie. Wenig später offenbarte sich beim englischen Songwriter Frank Turner ein weiteres Problem: Auf der beliebten Mosphitposition Mitte-Mitte vor der Bühne hörte man Turner gerade mal in gehobener Zimmerlautstärke. Was schade war, denn Turner, der ein wenig wie Billy Bragg klingt, als der noch Eier hatte, ist kein Akustikgitarrenleisetreter sondern nimmt sich eher den Punk mit den musikalischen Mitteln des Folks vor.
Abseits der größeren Bühne warfen Kashmir schon wieder die Frage auf, warum zum Henker denn nicht alle Welt ihren zwar gefälligen, aber eleganten und elegischen Pop abfeiert, den sie auf ihrem letzten Album „Trespassers“ perfektioniert haben. Da hatten es die darauf folgenden The Temper Trap schon besser: Die Australier sind dank der Fürsprache diverser Society-Damen inzwischen weltweit hoch im Kurs und schon an der Schwelle zum Mainstreamdurchbruch. Wenn man sich anschaut, wie die Band mit viel Bewegung und dem charismatischen Sänger Dougy Mandagi an vorderster Front durch „Science Of Fear“ und „Love Lost“ tobt, geht das auch durchaus klar. So ist es denn auch vielleicht dieses Konzert, im staubfreien aber stickigen Zelt, das dem Freitag die besondere Note gab. Was noch dadurch verstärkt wurde, dass die Headliner an diesem Abend allesamt wirklich altbekannte Gesellen waren – die Beatsteaks zum Beispiel, die allerdings live wie immer eine Macht waren, oder aber Mando Diao, die sich während ihres schnöseligen Schnödel- pardon Schwedenrocks wie immer selbst viel zu geil fanden. An dieser Stelle auch nicht zu unterschlagen: Das formidable Late-Night-Skanken und Schunkeln bei den Specials, deren „Ghost Town“ bekanntlich nicht von Scheeßel inspiriert worden ist.
Wer sich am frühen Samstagmorgen kaffeegestärkt gegen den rauen Wind und den leichten Regen stellte, der konnte sich ein wenig an den Stimmen der Local Natives wärmen, die aus der Ferne noch viel mehr nach den Fleet Foxes klingen. Was sich aber vor der Bühne relativiert, denn statt Bart und barfuß sah man dort fünf smart frisierte Herren und eine in die Füße gehende Performance, die vor allem dadurch aufblühte, dass Local Native Kelcey Ayer nicht nur ganz wunderbar singt, sondern auch ganz wunderbar den Percussion-Klöppler gibt. Ach, wenn aber doch nur ein Lied wie „Sun Hands“ mal die Sonne hervor gelockt hätte!
Da passte das dramatische Wetter schon besser zu Florence And The Machine, die ihre Auftritte inzwischen als stimmgewaltige Waldfee absolviert. Dabei allerdings in keiner Weise abgehoben wirkt, weil sie trotz unhandlicher Robe noch immer gerne das Publikum anscharwenzelt. „The dog days are over!“ Das kann man auch mal singen, wenn man Angst hat, dass es gleich die berühmten Cats & Dogs runterregnet.
Dass der Himmel weint, hätte sich so mancher dann vielleicht eher bei der semi-spannenden Rückkehr von Skunk Anansie und den Stone Temple Pilots gewünscht, die ihren alten Glanz kraftlos aber top gekleidet und rasiert zu Grabe trugen. Der Fan an meiner Seite jedenfalls fand’s traurig und bekam sich nicht mehr ein vor Wehmut nach den Zeiten, als Scott Weiland noch abgefuckt über die Bühne fegte. Schade eigentlich, wo doch das neue Album durchaus zu überzeugen wusste. Andererseits war dieser Auftritt ein guter unguter Vorgeschmack, weil danach Billy Talent ihren nervtötenden Hardcore auf Helium als Headliner an den Mann bringen durften. Hallelujah. Da konnte man nur flüchten, um sich von The XX und Massive Attack in den Schlaf singen zu lassen. Gekonnt, visuell stimmig – aber ein wenig fehl am Platze auf diesem so herzhaft raufigem Festival. Egal: Nach „VCR“ eine stille „Teardrop“ rausdrücken – das musste drin sein.
Tragische Geschichte des Samstags war dann leider die Schließung der neu eröffneten Electrostage. Schon bei Frittenbude war der Andrang so groß und die Security so überfordert, dass die Polizei mit großem Getöse den Gig abbrechen ließ, um das Zelt abzusichern. Kurze Momente der Panik bei allen Beteiligten, die glücklicherweise glimpflich zu Ende ging. Schade, dass das nix wurde, wo doch in der Nacht davor an selber Stelle Mr. Oizo mit seinen Flatbeats das Zelt auch schon fast zum Sprengen brachte.
Am Sonntag hatte man sich dann völlig von dem Gedanken verabschiedet, jemals wieder staubfrei zu atmen können. Der Staub schwebte nämlich noch immer so unheilvoll über dem Gelände wie der Satz von Julian Casablancas, der einem immer wieder in den Ohren klingelte: „Soll ich ganz ehrlich sein? Wir spielen diese Festivalgigs nur, weil die Angebote so irrsinnig hoch waren. Da konnten wir nicht nein sagen.“ Dennoch war es erstaunlich, dass es am Sonntagabend zu Strokes-Zeit beinahe leer vor der Hauptbühne war und selbst die Bühnenrückkehr der New Yorker die übliche Rückreisewelle nicht stoppen konnte. Oder aber lag’s am Konkurrenz-Programm der Remmidemmi-Fraktion Deichkind und Prodigy, die hinterheinander zur Elektro-Aerobic aufrufen durften? Man wusste es nicht. Ebenso wenig wie man wusste, ob die Strokes denn nun überhaupt an einem neuen Album arbeiten und wie das dann am Ende klingen soll. Statt neuer Songs gab’s nämlich nur die tollen aber ollen Kamellen von „12:51“ über „Reptilia“ und „Juicebox“ bis hin zum unvermeidlichen „Last Night“. Casablancas zerschlug diesmal auch nix, sondern gab den amüsanten verpeilten Sonnenbrillenträger, der zwischen den Songs gerade unterhaltsam war, weil er diese Entertainer-Nummer so gar nicht drauf hat. Aber bitte danke: Lieber solch Bühnengebrabbel als „Scheeßel, are you ready??“ oder ähnlichen Quatsch. Da das Wetter nun auch mitspielte und man gar so was wie einen Sonnenuntergang sehen konnte, trafen die letzten Minuten des Hurricanes die Stimmung eigentlich ganz gut: Man fühlte sich schlaff, erschöpft, dreckig – und dachte sich beim Blick in den tröstlichen Sonnenstreifen am Horizont: Das wird auch wieder besser.
Daniel Koch