Hüpfend durchs Museum
Naive Genies, Kasper und Kultur-Guerilla: Die Londoner Band Art Brut lacht den Rock'n'Roll zu Tode.
Bang bang, einfach loslegen, das sagt sich leicht und kann in der Praxis sehr schwer sein, wenn man vorher für fünf Cent nachdenkt, oder halt für fünf britische Pence. Zadong, erste Single: Da waren die Mitglieder der Londoner Rockband Art Brut schon hin- und hergerissen. Im Frühjahr 2004 kam die Frage auf, und Leadsänger Eddie Argos schlug vor, die Platte von vornherein nur an Second-Hand-Läden zu liefern. Weil das lustig wäre. Sie sollte plötzlich in den Ramschlasten auftauchen, eine Single namens „Formed A Band“, damit sich gebildete Kunden im „Camden Record Tape Exchange“‚ die Köpfe zerbrechen: Wer waren denn noch mal Art Brut, warum kennen wir die nicht? Verworfen, nächste Idee: die Guerilla-Strategie. CDs pressen und absichtlich an öffentlichen Orten liegenlassen, in Bussen und Zügen und Bibilotheken. Mit einer Mail-Adresse auf der Rückseite, um irgendwann zu erfahren, wie weit die Platte gekommen ist.
Das haben Art Brut dann echt gemacht, 50 Exemplare des „Formed A Band“- Demos in der städtischen Wildnis ausgesetzt. Es kam eine einzige Antwort-Mail.
So ist man schneller als gewohnt mittendrin in der lustigen, verblüffenden, sogar ein wenig lehrreichen Geschichte dieser Band, die noch vorletzten Monat keiner kannte, und fast geht dabei die unangenehme Frage verloren: Warum muß diesen Monat schon die nächste britische Sau durchs Dorf getrieben werden? 2005 ist in der Hinsicht zweifellos ein besonderes Jahr, in dem sich auch wieder der Rest der Welt dafür interessiert, was die Engländer gerade gut finden. Art Brut – deren Namen man französisch aussprechen müßte, obwohl die Musiker selbst es nicht tun —sind im besonderen Jahr die besonderste Gruppe.
Sie sind: bescheuert und gewitzt, übergeschnappt, clever, zerfranst und modisch, nervenzehrend und überall willkommen. Partyschrecks, die neuerdings auf jeder Einlade-Liste oben stehen, jetzt mit dem Album „Bang Bang Rock’n’Roll“, das so gut ist, daß man gar nicht daran denken mag, was darauf noch folgen soll. Helikopter-Gitarren-Riffs, auf die kein Mensch kommt, weil sie so naheliegend sind, eine rappelnde Schuhschachtel voll Sound, Hinterntritte mit 70er-Punk-Boots, der Gesang von Eddie Argos: empört, überquellend vor Vokabeln und süffisanten Witzen (die wirklich lustig sind, was Rockbands eigentlich nie gelingt), ein britischer Lumpen-Aristrokrat, der den Nachtbusfahrer polternd ausschimpft. Eine Band, die an allen Sicherheiten und Klischees scharf vorbeischlittert und trotzdem magischerweise ins Ziel kracht. Wie die Libertines ohne Drogen, mit Gags! Als Argos zum ersten Mal in einem Studio sang, fragte der Tontechniker besorgt, ob es ihm gut gehe. Ja“, sagte Argos, „das ist meine Gesangsstimme, die klingt so!“
Den Spruch hat er in die besagte Single „Formed A Band“ eingebaut, und die kam nach dem Umweg durch den Londoner Nahverkehr doch noch spießig und normal in die Läden. Rough Trade Records veröffentlichte das Demo ohne Korrekturen. Label-Chef Geoff Travis ging hoch- erfreut in die Highbury Garage, um sich seine neue Sensation anzusehen, verließ nach zwei Liedern vor Wut kochendden Club und verweigerte Art Brut den Album-V ertrag, weil er sie kindisch fand. „Das von dem Mann, der Adam Greens Platten herausbringt!“ antwortete Eddie Argos im „NME“. Der Witz wurde immer besser.
Und als Zuschauer wird man langsam mißtrauisch, so unbedingt gewollt schräg klingt das alles. Adjektive, mit denen Argos sich selbst beschreibt: kleinkariert, autistisch, krankhaft begeisterungsfähig. Und nach jedem dieser Wörter, die man aus dem übererregten Redefluß herausziehen muß, lacht er irre, als würde er sich genieren.
Anfang 2002 zog Argos aus dem südenglischen Seebad Bournemouth nach London, wegen der Popmusik, wollte seine Band The Goblins eigentlich mitbringen, aber die wollte nicht. Er erreichte Camden just zur Zeit der letzten Garagen-Rock-Explosion, als die Strokes, die Vines, der Black Rebel Motorcycle Club in den Graffitis standen. „Hat mich alles nicht interessiert. Ich höre keinen Cock Rock.“ Das Amerikanische störte ihn kaum, mehr das Vulgäre. Argos wurde Betreuer für Erwachsene mit Lernschwäche, formte nebenher die Band. Wir kennen nur die Spitznamen: Ian Catskilkin, Gitarrist, der Eddies Goblins in Bournemouth immer ins Vorprogramm seiner Bands gelassen hatte und mittlerweile im „HMV-Plattenladen in der Oxford Street arbeitete. Chris Chinchilla, Computer-Spezialist, Hochzeits- und Bar-Mitzwah- Musiker, den Argos bei einer Party traf und der ihm gleich noch Fredie Feedback vorstellte. Bassistin und L’Oreal-Angestellte, eigentlich Friederike aus Bödefeld im Sauerland. Der zweite Deutsche in der Band ist Mike B. aus Isny im Allgäu, der Argos auffiel, als er bei einer Stadtbusfahrt herumbrüllte und dabei erwähnte, er sei Schlagzeuger.
Die Sessions für 30 Album-Minuten „Bang Bang Rock & Roll“ dauerten übrigens zwei Wochen, weil die berufstätigen Musiker es nicht schafften, alle gleichzeitig im Studio zu sein. Die Platte, die Eddie Argos vor dem Rock’n’Roll retten sollte, kommt lustigerweise in eine Zeit hinein, in der in London dank der aktuellen New-Wave-Renaissance alles wieder gut ist. „Ich bin ein grantiger, verwöhnter Mensch“, sagt er, irre lachend. „Ich will, daß andere Leute für mich Sachen machen, die mich interessieren.“ Wenn Art Brut im Konzert das Stück „Bad Weekend“ spielen, hängt er oft einen Publikumsaufruf ans Ende: Die Leute sollen bitte heimgehen und eine anständige Zeitschrift oder Soap Opera für ihn schreiben. .Auslöser war so ein Samstagabend in London: Ich wollte nicht ausgehen, weil mich kein Konzert interessiert hat, und im Fernsehen kam auch nichts Gescheites. Ich war angetrunken und habe mich da reingesteigert: Wie unfair, es gibt nichts mehr für mich, ich bin gefangen im Niemandsland! Darüber hab ich das Lied geschrieben – ein sehr klein- kariertes Lied, oder?“ Kernzeile in „Sad Weekend“: popular culture no longer applies to me“, ich bin immun gegen die Popkultur. Eine Beschwerde, keine stolze Askese.
Und wenn man das Absurde und Komische kurz beiseite läßt und der Band Art Brut zugesteht, daß sie cleverer ist, als sie vortäuscht: Das Leiden an der Popkultur zieht sich durch die ganze Platte. Die Sehnsucht nach der ersten, von Beziehungsmustern unberührten Liebe („Emily Kane“), die Erkenntnis, daß sich die Eltern mit Rock’n’Roll nicht mehr ärgern lassen („My Little Brother“), die Enttäuschung, daß man Amerika nach dem Überkonsum von Celebrity-Magazinen nur noch als Klischee sehen kann („Moving To LA.“). Art Brut haben nicht den Hintergrund und Ehrgeiz der sprichwörtlichen Kunststudenten, kommen in ihrer Musik aber zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Obwohl es beim Hören sicher nicht schadet, selbst grantig, verwöhnt und kleinkariert zu sein. Leute, die gerade fies verlassen wurden, singen die Geschichte von der unerreichbaren Emily Kane am lautesten mit.
„Mein musikalischer Held ist Jonathan Richman. Er ist ehrlich und wahrhaftig, er singt einfach über Maler oder darüber, wie er sich eine neue Hose kauft. Zum Beispiel unser Lied .Modern Art‘: Ich liebe moderne Kunst! So sehr, daß ich gern tanzen und herumhüpfen würde, wenn ich sie sehe, selbst wenn es nur ein ungemachtes Bett ist oder ein Hai in Formaldehyd. In Museen sind die Leute leise und grübierisch, dagegen richtet sich ,Modern Art‘. Ein Protestsong!“ Argos überlegt kurz. „Ich bin so leicht erregbar. Vielleicht handelt der Song auch nur von meiner Erregung.“
Art Brut heißt „rohe Kunst“, der Begriff kommt vom Maler und Kunstsammler Jean Dubuffet: Werke von Nicht-Künstlern, die ohne die Absicht entstehen, etwas Ausstellungsreifes zu schaffen. Wer von sich selbst behauptet, art brut zu machen, lügt automatisch—für Argos war der Name am Anfang vor allem ein Privatwitz, weil der Rest der Band die Bedeutung nicht kannte und sich unwissend als Dilettanten-Gruppe präsentierte. Seine Faszination für alle Arten naiver Genialität geht so weit, daß er als Debütplatte eigentlich ein Konzeptalbum über die Enrico-Gatti-Gang geplant hatte: angeblich eine obskure italienische Terroristengruppe, die zehn Jahre lang pannenreich den Umsturz vorbereitet hatte und sich nach einem spektakulär verunglückten Bankraub unverrichteter Dinge auflöste. „In meinen Augen sind sie keine Loser, sondern Helden. Man braucht Mut, um zu sagen: Ich höre auf, ich kann das nicht. Außerdem haben sie nie jemandem wehgetan, das gefiel mir.“ Die verrosteten Gewehre, die die Gatti-Gang in einem Antiquitätenladen gekauft hatte, waren beim Überfall nicht losgegangen. Peinlich grinsend hat Argos das historische Beispiel in „Rusted Guns Of Milan“ als Metapher für seine Erektionsprobleme benutzt.
15jährige singen den „Guns“-Song bei Art Brut-Auftritten frohgelaunt mit, und wenn Argos das sieht, denkt er sich: Die lieben Kleinen, denen ist das noch nie passiert, die haben keine Ahnung! „Formed A Band“ war natürlich auch ein Spottlied über geltungssüchtige Londoner Indie- Rocker gewesen, doch der letzte Do-It- Yourself-Gitarren-Aufbruch hat Art Brut viel genutzt: Das derzeit extrem begeisterungsfähige Publikum umarmt diese uncoole Band und stürmt regelmäßig zum Mitsingen die Bühne. Ein Scherz-Aufruf, im Franchising-System weitere Ausgaben von Art Brut zu gründen, hat nach offizieller Zählung 70 Gruppen zusammengebracht, die Country-Art Brut in West Virginia, die Elektro-Art Brut in Southhampton, polnische Versionen. Als die Originale bei der Launch-Party zur „Modern Art“-Single einen Malwettbewerb ausriefen, wurden im „Barfly“ in Camden 700 Cover-Motive gemalt, bis einige Gäste (angeblich Mitglieder von Art Brut 4) damit begannen, Eimer mit Acrylfarbe durch den Saal zu werfen – die an diesem Abend besprenkelten Jacken gelten heute als Erkennungszeichen unter Londoner Fans. „Wir sind schon oft kindisch“, sagt Eddie Argos, obwohl die Erkenntnis sie den ersten Plattenvertrag gekostet hat. „30- oder 40jährige fragen sich zurecht, warum der Spaß aufhören soll, wenn man älter wird. Heute ist das anders als früher: Man trägt die Teenager-Probleme doch sein Leben lang mit sich herum.“
Und manche Witze sind nur gut, wenn man sie auf Englisch erzählt.