Holly Herndon im Interview: „Künstliche Intelligenz kann etwas so zutiefst Menschliches wie Ekstase auslösen“

Zum Interview in Schöneberg hat es Holly Herndon nicht weit. Die in Tennessee geborene Künstlerin wohnt in Berlin. Mit 16 kam sie zum ersten Mal für einen Schüleraustausch in die Stadt, entdeckte dort auch ihre Faszination für elektronische Musik. Die Rolle neuer Technologien in der Kunst ist bis heute Herndons großes Thema.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich auf musikexpress.de

Zunächst erzählt Holly Herndon davon, wie sie mit ihrer Berliner Gastfamilie damals FKK-Ausflüge unternahm und gemeinsam mit deren Tochter das Nachtleben erkundete. Eigentlich stammt sie aus einer sehr religiösen Familie. „Aber hier wirst du schon als Teenager wie ein Erwachsener behandelt, das macht dich verantwortungsvoller“, sagt sie. Nachdem Holly Herndon Ende der 90er- Jahre die Möglichkeiten der elektronischen Soundproduktion für sich entdeckt hatte, studierte sie in Kalifornien Musik und ließ sich vom DIY-Spirit der Garagenbastler aus dem Silicon Valley anstecken.

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Musikexpress: Du nennst „Spawn“, die Künstliche Intelligenz, die auf deinem Album PROTO zu hören ist, deine „Baby-KI“. Warum?

Holly Herndon: Eigentlich finde ich es kontraproduktiv, Künstliche Intelligenz zu sehr zu vermenschlichen. Ich denke auch nicht, dass Cyborgs unsere Zukunft bestimmen werden, sondern dass KI systematisch die unterschiedlichsten Bereiche unseres Lebens durchdringt. Die Baby-Metapher wählte ich in diesem Fall, um zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, eine KI verantwortungsvoll zu erziehen. Ihr Blick auf die Welt ergibt sich daraus, was wir als Eltern ihr beibringen.

Wie kreiert man eigentlich eine Künstliche Intelligenz?

Mein Partner Mat Dryhurst und ich haben die Teile auf Amazon gekauft – Grafikprozessor, Ventilator, Gehäuse, Wi-Fi- und Soundkarte. Unser Freund Jules LaPlace, ein Programmierer und Musiker, hat dann die Software mit TensorFlow entwickelt, einer (von Google mitentwickelten – Anm. d. Aut.) Open-Source-Software, die zum maschinellen Lernen eingesetzt wird. Der kreative Prozess begann, als wir uns für die Datensätze entschieden, mit denen die Algorithmen der KI dann arbeiten sollten…

Womit habt ihr sie gefüttert?

Hauptsächlich Stimmen. Die eines kleinen Gesangsensembles, aber auch unsere eigenen und die von Freunden. „Spawn“ berechnete dann zum Beispiel, welches Stimm-Sample als Nächstes kommen könnte. Man kann die Arbeit des neuronalen Netzwerks gut in dem Album-Opener „Birth“ nachvollziehen, der auf meiner Stimme basiert. Auf anderen Stücken imitiert „Spawn“ das ganze Ensemble, aber das Ensemble macht umgekehrt auch „Spawn“ nach. Ein kreatives Hin und Her.

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Klingt fast schon nach einer gleichberechtigten Form der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine.

In professionellen Aufnahmestudios ist der Mensch längst zu einer Art kompliziertem Luxus geworden, mit eigenem Stundenplan und Macken. Wir wollten uns diesen Luxus leisten, aber gleichzeitig herausfinden, welche Dinge ruhig der Computer erledigen kann. Wir verfügen heute über die größten Datenpools der Geschichte. Umso größer die Datenmenge, umso effizienter kann die KI arbeiten. Doch die menschliche Arbeit dahinter soll für uns unbedingt sichtbar bleiben! Dieser Teil wird normalerweise in der schieren Menge an Information ausradiert.

Mich erinnern einige der Stücke an eine Art von Kirchenmusik aus einer fernen Zukunft.

Ich habe in meiner Kindheit tatsächlich viel in Kirchenchören gesungen. Ich denke, Musik kann so etwas wie religiöse Ekstase in ein säkulares Leben bringen. Das ist doch spannend: Dass eine KI beitragen kann, etwas so zutiefst Menschliches wie Ekstase auszulösen.

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Vor Kurzem hat der chinesische Smartphone-Hersteller Huawei die sogenannte „Unvollendete Symphonie“ von Franz Schubert mit Hilfe einer KI vollendet. Was hältst du von solchen Projekten?

Ich finde das eine sehr fantasielose Herangehensweise an die Möglichkeiten von KI. Ähnliches gibt es ja bereits mit Bach oder den Beatles: Eine KI improvisiert aus alten Stücken vermeintlich Neues im selben Stil. Dabei entstanden diese Originale aber doch in einem bestimmten zeitlichen und kulturellen Kontext – warum müssen wir denn mehr davon erschaffen? Wenn du Kunst aus ihrem Kontext nimmst, verliert sie ihre Substanz.

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Aber wenn auf diese Weise bald Alben mit „neuer“ Musik von toten Megasellern wie Jimi Hendrix oder Nirvana bespielt werden können, wird vermutlich genau das geschehen…

Ja, sicher. Wir werden tonnenweise davon hören. Was die KI dabei tut, machen Plattenfirmen aber ja auch heute schon in kleinerem Stil: 20 Produzenten und 20 Songwriter konstruieren und optimieren gemeinsam einen Popsong, indem sie dafür alles anhören und statistisch auswerten, was gerade angesagt ist. Das Ergebnis ist Mood-Music, die dich letztlich an gar nichts mehr denken lässt. So etwas bringt das Medium Musik kein Stück weiter. Kunst sollte die Umwelt und Zeit reflektieren, aus der sie stammt. Und KI kann dabei tatsächlich ein gutes Werkzeug sein.

„Wir müssen die Künstliche Intelligenz verantwortungsvoll erziehen. Ihr Blick auf unsere Welt ergibt sich daraus, was wir als Eltern ihr beibringen.“

Du scheinst der ganzen Sache eher positiv gegenüberzustehen. Was hältst du von Prophezeiungen wie Ray Kurzweils sogenannter „Singularity“, nach der KI spätestens 2045 einen Bruch in der Menschheitsgeschichte auslösen wird, oder Elon Musks Aussage, KI sei eine größere Bedrohung für uns als Atomwaffen?

Ich denke nicht, dass es so dramatisch ablaufen wird. Ich betrachte KI nicht als das große Unbekannte. Sie ist eine Errungenschaft von uns Menschen und damit letztlich auch ein Teil der Evolution. Wenn wir uns als getrennt von dieser technologischen Entwicklung betrachten, verzerrt es zum einen unsere Realität und zum anderen entbindet es uns von jeglicher Verantwortung.

Du glaubst also nicht, dass uns die Kontrolle entgleiten könnte?

Doch, natürlich. Wir konzentrieren uns aber zu sehr auf die dramatischen Cyberpunk-Szenarios. Ich verstehe diesen Impuls ja: Dieser Nihilismus ist ein gemütlicher Ort, um sich einzuigeln. Aber er macht dein Leben kein bisschen besser. Er bringt dir keine Lösungen, ja nicht einmal eine Erleichterung. Kritik an einer Sache sollte der erste Schritt sein, um sie zu verbessern.

Was würdest du vorschlagen?

Der Titel meines Albums, PROTO, steht für den Begriff „Protokoll“. Unsere Werte und ethischen Grundsätze fließen immer in die Protokollschicht neuer Technologien mit ein. So war das auch beim Internet. Doch was haben wir aus dieser Utopie gemacht? Wir haben ein gigantisches Einkaufszentrum darauf gebaut!

Glaubst du, dass deine Musik sogar dabei helfen kann, einen Ausweg aus solchen Entwicklungen aufzuzeigen?

Mich bezeichnete mal jemand als Aktivistin. Diesen Titel verdiene ich nicht. Ich kann natürlich nichts dagegen ausrichten, wenn ein Staat wie China Milliarden in sein KI-Regime investiert. Mir geht es darum, alternative Denkansätze zu geben. Wenn du eine andere Zukunft haben willst, musst du sie dir erst einmal erträumen. Dazu gehört aber natürlich auch, die eigene Rolle als williger Teilnehmer im jetzigen System zu hinterfragen.

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Dieser Artikel erschien erstmals im ME 06/19.

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