History-Remixer
Der britische Musiktheoretiker Simon Reynolds erzählt seine spannende Version des Post-Punk
Ohne es zu wissen, hatten viele Leute auf so einen Sound gewartet.“ Was Reynolds in „Rip 1t Up And Start Again“, seinem neuen Buch, über die Young Marble Giants schreibt, gilt für viele Bands der Postpunk-Ara: Ohne es zu wissen, hatte man auf diesen Sound gewartet. Für Reynolds waren daher die Jahre ’78 bis ’84 popmusikalisch mindestens so produktiv wie die ewig verklärten Sixties.
Auch die enge Verknüpfung der Musik mit sozialen und politischen Entwicklungen halte dem Vergleich mit den Sechzigern stand. Die fast gleichzeitige Machtübernahme von Ronald Reagan in den USA und Margret Thatcher in England markiert den großen Backlash der Errungenschaften von ’68. Diese Zäsur spiegelt sich im Postpunk bis in seine populärsten Spitzen.
Thatcher war ständiger Gast in den UK-Charts: The Beat hatten einen Top Ten-Hit mit „Stand Down Margret“, die Specials widmeten der eisernen Lady den Dylan-Song „Maggie’s Farm“, selbst die Post-Postpunk-Pop-Generation hatte Thatcher-Hits: Mit Gastsänger Curtis Mayfield luden die Blow Monkeys zu „Celebrate The Day After You“. Reagan inspirierte das grandiose „We don’t need this fascist groove thing“ von Heaven 17 und ungezählte Tiraden aus dem Postpunk-Underground der USA.
In Deutschland mußte sich Punk viel zu lange mit der kulturellen Hegemonie der Nach-68er-Hippies herumschlagen, die Ende der 70er in Gestalt der Grünen Partei einen realpolitischen Machtfaktor hervorbrachte. Verglichen mit dem Kampf gegen Öko-Spießer und Atomkraft-Nein-Danke-Folklore aus Bots, Brühwarm, Bettina Wegner und Konstantin Wecker (der jetzt die WASG-Hymne schreibt) auf der einen Seite und ein konservatives Rock-Establishment auf der anderen, war der politisch zunächst nicht allzu gravierende Übergang von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl 1982 eine Fußnote. Verglichen mit Thatcher und Reagan kann sich Kohl nur mit wenigen guten Hate-Songs schmücken. Daß der indizierte Ärzte-Song „Helmut K. schlägt seine Frau“ in den Debatten zum Tod von Hannelore Kohl keine Rolle spielte, ist wiederum typisch für eine politische Rumdruckser-Kultur, die Prüderie mit Pietät verwechselt. Wenn Thatcher stirbt, ist nicht mit solcher Zurückhaltung zu rechnen.
Wie man überhaupt wieder neidisch werden kann aut die Briten, die Bücher hervorbringen wie „Rip It Up And Start Again“. Nicht umsonst hat Reynolds den Orange Juice-Hit von 1983 zum Titel seiner umfangreichen Postpunk-Chronik gemacht. „Zerreißen und neu starten“, das entspricht seiner Vorstellung von (Post) Punk: die Ermächtigung zum Selbermachen, aber auch die Absage an bewährte Formeln. Damit argumentiert Reynolds gegen die landläufige Rezeption von Punk als überfälliger Frischzellenkur des Rock’n‘ Roll. Nach dieser Version der Geschichte, hierzulande starkgemacht von Männern wie Wolfgang Doebeling, war Punk gleichsam das reinigende Gewitter, das dem Rock die Flausen von Prog, Art, Fantasy und Fusion ausgetrieben hat. Nach dieser Version waren The Clash die Fortsetzung der Rolling Stones mit leicht veränderter Mannschaftsaufstellung, die Buzzcocks waren die neuen Kinks, The Jam die neuen Who.
Gegen diese rockistisch-wertkonservative Vorstellung von Kontinuität betont Reynolds den Bruch, den Neustart, den Remix als das ästhetische Credo im Augenblick seiner technischen Machbarkeit. Folglich waren nicht „White Riot“ oder „God Save The Queen“ die wichtigsten Singles des Punkjahres ’77, sondern „Trans Europe Express“ und Donna Summers „I Feel Love“. Kraftwerks Synth-Pop und Moroders elektronische Disco hätten Fenster geöffnet – nach Europa, in die Zukunft.
Und dann war da noch die Mutter aller Remixe: Wer im England der 60er und 70er aufwuchs, kam an Reggae und Dub nicht vorbei, wurde soundimprägniert und geschult im Wissen um die Nicht-Endgültigkeit der Musik. Großbritannien als postkoloniales Land.
Diese Tatsache mit all ihren Weiterungen hat Reynolds verinnerlicht. Die Pop Group, eine der wichtigsten Bands des Postpunk, habe Reggae eingeatmet wie die Lurt von Bristol, oder: „The Pop Group threw dub delirium into the mix.“ Heute schwärmt Pop Group-Sänger Mark Stewart vom hybriden Sound der Stunde: „Desi! Ein fantastischer Mix aus Indian, Ragga und HipHop, du hörst das aus den Autos mit riesigen Baßboxen, Punjabi MC oder die Punjabi Hit Squad. Das Politische an Desi ist, daß es working class kids sind, die erste wirkliche street culture. Punk war ein bißchen Art School, aber das ist eine richtige Mixtur, proper England.“ Für ihn repräsentiert der Mix aus Desi und Ragga das eigentliche postkoloniale England, während die Musikpresse 2005 solche Phänomene ignoriert, um ihr eigentliches England zu (re-) konstruieren – ein weißes. Ganz anders die Musikpresse der 80er. Ihr kommt bei Reynolds die Rolle des Geburtshelfers zu. Autoren wie Ian Penman, Paul Morley oder Jon Savage hätten als „anti-rockisti‘ sehe Vorhut“ das ideale Klima geschaffen für permanente Erneuerung.
Reynolds sieht eine „boom period for ideosyncratic female expression“. Nie zuvor und selten danach gab es so viele kreative Frauen in maßgeblichen Rollen: X-Ray Spex, Siouxsie, Lydia Lunch, Chrissie Hynde, Rip Rig & Panic. FGeenex (die sich nach einer Intervention des gleichnamigen Papiertuchherstellers umbenennen mußten und fortan Liliput hießen), und vor allem die (post-)feministischen (Post-)Punkbands: Slits und Raincoats. Judy Nylon hat diese Geschichtsklitterung relativiert: „Chrissie Hynde machte klassischen Radio-Rock und hatte schwer zu kämpfen, bis sie 30 war, Siouxsie mußte jahrelang touren, bevor sie ihren ersten Vertrag bekam, und was glaubst du, wie viele Platten von den Slits und den Raincoats überhaupt existierten? Sie hatten nie eine Chance.“
So stutzt Nylon den Mythos vom Postpunkfeminismus-Boom aufs Realmaß zurück und vergißt noch ein wichtiges Beispiel: sich selbst. Wären die Zeiten tatsächlich so günstig gewesen für aufregende Musik von Frauen, dann wäre „Pal Judy“. das einzige Album der Amerikanerin (von 1982), heute nicht vergessen. Simon Reynolds erwähnt es mit keinem Wort.