Hermann Hesse – Sturm und Drang in Mecklenburg
Vor 50 Jahren starb Hermann Hesse, Held der Gymnasiumshöfe. Der Schriftsteller Peter Wawerzinek erzählt, wie der Dichter ihn und eine ganze Generation behexte
Damals auf dem Schulhof, die Zigarette in der Hand und demonstrativ cool über allen Belangen stehend, fiel rasch schon mal die Wendung: „Fresse, Hesse“. Und ich musste dann auf ein Zeichen hin Hermann Hesse zitieren, aus „Demian“ diesen Satz zu unserer Rechtfertigung: „Man braucht vor niemand Angst zu haben. Wenn man jemanden fürchtet, dann kommt es daher, dass man diesem Jemand Macht über sich eingeräumt hat.“ Wir begehrten auf. Wir wurden Gruppe. Wir waren uns einig (auch aus „Demian“): „Man hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist.“
Wir gaben mächtig an und taten so, als hätten wir den Hesse gefressen, könnten ihn ausspucken, wann immer wir wollten. Und die Mädchen fanden das beachtlich, wo wir doch sonst als desinteressiert am Literaturunterricht galten. „He“, sagten wir dann, „wenn wir einen Menschen glücklicher und heiterer machen können, so sollten wir es in jedem Fall tun, mag er uns darum bitten oder nicht.“ Das war original aus „Das Glasperlenspiel“ entnommen. Und die Mädchen kreischten, wie sie halt kreischen und auf sich aufmerksam machen inmitten ihrer Pubertät. Und Joachim, der sonst so maulfaule Schüchterne, hat durch Hesse einen Quantensprung zu den Mädchen getan, indem er in den Tiefstart ging, den Hintern zum Himmel gestreckt „Stufen“ zum Besten gab: „Stufen. Wie jede Blüte welkt und jede Jugend/ dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe/ blüht jede Weisheit auch und jede Tugend/ zu ihrer Zeit“. Und dabei umkreiste er die Mädchen, die schweigenden Lämmer gleich zusammenrückten, wie ein Wespenschwarm, wie ein Wolf und ließ wohl auch seine Zähne dabei blitzen.
Jeder hatte sich in eines der Mädchen verguckt, und unsere Bäuche waren voll von zappligen Wünschen, Träumen. Und dass man die Mädchen kriegen kann mit ein paar einstudierten Zeilen oder Zitaten von Hessefresse, das war uns klar. Oder es mit Hesses „Die Morgenlandschaft“ zu sagen: „Gerade das ist es ja, das Leben, wenn es schön und glücklich ist – ein Spiel!“ Und jeder von uns fünf Jungen hat in dem Sommer dann etwas mit einem Mädchen gehabt. Und jeder gab an, und man sollte von jedem denken, dass es zum Sex am Strand mehrfach gekommen ist.
Besonders Heinzi störte mich schwärmerisch aufgeputscht im Unterricht. Weil er wusste, dass ich es auf Bianca abgesehen hatte und mich mit deren Freundin Roswitha begnügen musste, die mich den gesamten Sommer über dann mit dem Versprechen aufgehalten hat, sie würde mich mit Bianca bald schon sicher zusammenbringen. Und dann erhob dieser Heinzi sich, breitete die Arme mitten in der Unterrichtsstunde aus, sah aus wie Jesus mit Übergewicht und schrie (wir waren gerade beim Thema Ressourcen und dem Ende der reichlichen Erdölvorkommen): „Sich wegwerfen können für einen Augenblick. Jahre opfern können für das Lächeln einer Frau. Das ist Glück!“ Und er wurde dann gerügt, und er musste beim Direktor antanzen. Und er hat dann dessen Schreibtischschmuck heftig durcheinandergebracht. Und ich wusste, das waren die Folgen von Hermann Hesse.
„Eine Fußreise im Herbst“ – das hatte ich selbst gelesen. Das hat mir rundum zugesagt. Das war so klug. Ich durfte mir erwarten, wenn ich daraus etwas zitiere, auswendig vortrage, Bianca zu erobern. Also kannte ich auswendig, was Heinzi zum Skandal werden ließ und ihn zu Bianca trieb. Sie hatten einander so furchtbar lieb. Sie sprachen bereits von Ehe und Hochzeitsreise nach Budapest. Bianca, die gar nicht zu dem passte. Bianca, die eher was für mich Heimlichanbeter war. Allein schon von der Größe her. Das hat sehr geschmerzt und mich gegen Heinzi aufgebracht und auch die Gruppe meiden lassen. Und ich bin dann sehr oft und viel mehr sehr oft sehr allein am Ostseestrand entlang gegangen. Mit einem Stein in der Faust. Mit etlichen Tränen im Gesicht, von denen ich sagen könnte, der Wind habe sie mir aus den Augen gequetscht. Nein, nein. Ich hatte Hesse im Hirn. Ich schmeckte scharfe Worte auf der Zunge. Und meine Lippen waren ganz rissig geworden von immer wieder diesem einen Satz aus meiner heimlichen Fußreise im Herbst barfüßig die Küste entlang. Und sang und rief und schrie und wimmerte den Satz gegen Welle und Schaum und Sturm und Krach übermenschlich laut: „Indem ich allein dahinmarschierte, fiel mir ein, dass ich im Grunde alle meine Wege so einsam gemacht habe, und nicht nur die Spaziergänge, sondern alle Schritte meines Lebens.“
Und dann schloss ich mich drei Tage in mein Zimmer ein. Und hörte Musik. Am meisten Niemen, den Polen. Und UFO, Chicago, Zappa, Led Zeppelin. Und die Roten Gitarren und Adamo, die Beatles, Stones und schließlich Pink Floyd. Und spielte die Platten allesamt süchtig geworden herunter. Mal mit zu rascher, mal mit zu lahmer Geschwindigkeit. Und versuchte es mit Schumann, Mozart, Liszt aus dem Plattenschrank meiner Alten. Und war nicht zufrieden, bis ich dann bei Modest Petrowitsch Mussorgsky landete. Und dudelte „Bilder einer Ausstellung“, tanzte und grölte dazu innerhalb meiner vier Wände, ganz wie von Sinnen, nur immer wieder dieses eine Gedicht: „Seltsam im Nebel zu wandern!/ Einsam ist jeder Busch und Stein,/ Kein Baum kennt den andern,/ Jeder ist allein.“
Peter Wawerzinek, Schriftsteller, Performance-Künstler, Sänger und Stegreifpoet, wurde 1954 in Rostock geboren. 2010 erhielt er für einen Auszug aus seinem Roman „Rabenliebe“ den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2011 erschien sein Band mit literarischen Parodien „Wawerzineks Raubzüge durch die deutsche Literatur“. Dort persifliert er u.a. auch Hermann Hesse.