Helene Hegemann und „Axolotl Overkill“: Ich war gelangweilt von den bekloppten Teenagern!
Ein Buch wie eine Ohrfeige ins Gesicht eines jeden Erwachsenen, der denkt, er wüsste noch, wie Pubertät sich anfühlt: Helene Hegemanns Romandebüt, „Axolotl Roadkill“, das 2010 erschien, erzählt in blutroten, koksweißen und nachtschwarzen pulsierenden Bildern von einer durch die Berliner Technoszene vagabundierenden 16-Jährigen mit Liebeskummer und Verlusterfahrungen. Die 25-jährige Hegemann, Tochter des Autors und Dramaturgieprofessors Carl Hegemann, wurde als literarische Teenagerebellin hochgelobt und nach Vorwürfen, sie habe ihren Roman in Teilen vom Blogger Airen abgeschrieben, anschließend vom Feuilleton niedergemetzelt.
2013 erschien Hegemanns zweiter Roman, „Jage zwei Tiger“, 2008 der erste von ihr inszenierte Film, „Torpedo“, dessen Drehbuch sie mit 14 geschrieben hatte. Ein Jahr zuvor hatte sie bereits ein Theaterstück verfasst. Sie ist also schon lange in vielen Kunstgattungen unterwegs. Für die Filmadaption ihres Romandebüts schrieb sie das Drehbuch und führte Regie. Jasna Fritzi Bauer kippelt als Hauptfigur Mifti elegant zwischen traumwandlerisch und traumatisiert. Mavie Hörbiger spielt ihre lebensfeindliche, aber drogenfreundliche Freundin Ophelia, Laura Tonke Miftis überforderte Schwester. Auch wenn der Film nicht die Sogkraft des inneren Monologs der Vorlage entwickeln kann, ist er leidenschaftlich und auf verspielte Art verkopft.Helene Hegemann im Interview
War es schwer, die Protagonistin zu besetzen?
Ich dachte erst, Jasna Fritzi Bauer wäre zu alt, eine 26-Jährige könnte keinen Teenager spielen, das hätte an Verrat gegrenzt, aber dann habe ich sie in „Für Elise“ und „Scherbenpark“ gesehen und gedacht: Die kriegt das hin, weil es nicht ins Altkluge abdriftet und weil sie gleichzeitig etwas Männliches und etwas Weibliches hat – Jasna verbindet das auf eine tolle Art und Weise, es hat etwas Queeres, ohne dass es ausgestellt queer ist.
Im Roman „Axolotl Roadkill“ ging es um die 16-jährige Mifti, die von der Mutter verlassen worden ist und daran kaputtgeht. Im Film steht Miftis Liebeskummer im Fokus. Warum?
Einerseits hoffe ich, dass das Grundmotiv, das Mutter-Tochter-Drama, trotzdem noch mitschwingt, wenn auch nicht mehr so stark. Andererseits ging es im Buch ja ausschließlich um ihr Innenleben – man hatte keine Anhaltspunkte für ihre Umgebung oder für das, was sie eigentlich macht. Deshalb wollte ich all das dazu liefern – und da hätte ich sie nicht nur um die Mutter trauernd zeigen können. Wenn man Trauer in einem Film abbildet, wird sie direkt marginalisiert, das gefällt mir nicht.
Kann man denn Liebeskummer besser erzählen als Trauer um einen Elternteil?
Ja, das macht natürlich mehr Spaß – vor allem wenn man nur 90 Minuten hat. Ich wollte außerdem den Verlust nicht explizit ausstellen. Der Grundzustand Liebeskummer ist für einen Film griffiger, denn die meisten haben damit Erfahrung. In meinem Film wird thematisiert, dass Miftis Mutter vor Kurzem gestorben ist, man sieht aber weder eine Urnenbeisetzung noch etwa einen Heulanfall beim Durchsehen alter Fotos. Das muss man sich dazudenken, und das führt für mich als Zuschauer zu einer selbst erarbeiteten und angemessenen Emotion – anders als beim Abnicken ein paar nett gefilmter Szenen.
Was hast du beim Übersetzen des Romans in ein Drehbuch noch geändert?
Ich habe die Hauptfigur davon befreit, die Handlung vorantreiben zu müssen. Das verstößt ja eigentlich gegen das wichtigste Gesetz beim Drehbuchschreiben: dass sich alles, was passiert, aus der Hauptfigur und deren Impulsen und Konflikten heraus entwickeln muss, möglichst logisch oder für den Zuschauer nachvollziehbar. Bei Mifti ist das aber anders. Sie wird – genau wie wir Zuschauer – von einer Situation in die nächste geschmissen, muss sich ohne Hilfsmittel in ihnen bewegen und sie beurteilen. Sie ist eine passive Protagonistin …
… wie sie in Filmen seltener vorkommen als aktiv Handelnde.
Ja, aber man hat ja gewisse filmhistorische Referenzen, an denen man sich abarbeitet, zum Beispiel „Permanent Vacation“ von Jim Jarmusch, der war ausschlaggebend dafür, dass ich mich für diese Art der Erzählweise entschieden habe. Man hätte ja auch Miftis SM-Fantasien verfilmen können – aber das war mir zuwider, ich wollte den Film von ihrem Innenleben wegholen. Ich war manchmal fast schon ein bisschen gelangweilt von den alten Bildern aus dem Buch, von diesen bekloppten Teenagern … Das wurde aber besser, als ich mit dem Casting anfing, weil die Schauspieler die Geschichte noch mal woandershin tragen. Hinzu kommt, dass sich natürlich meine Perspektive geändert hat: Ich bin eben nicht mehr 17 und beobachte Erwachsene; die 17-Jährigen beobachten mich, und das fühlt sich fast noch interessanter an.
Welche Filme hast du früher denn so geschaut?
Ich habe als Kind überdurchschnittlich viel ferngesehen, auch Sachen, für die ich zu jung war, „Poltergeist“ oder „Killerameisen greifen an“. Als ich nach Berlin kam, wohnte ich in der Nähe der Filmgalerie 451, da habe ich mir viel Nouvelle Vague und Berliner Schule ausgeliehen und mich jeder Art von Mainstream entzogen. Dann habe ich vor dem Hintergrund meiner ganzen Arthouse-Expertise irgendwann zu Blockbustern zurückgefunden, wahrscheinlich durch „Kill Bill“, als der mal zu Silvester auf ProSieben lief.
Mifti liebt die ältere Alice. Ist es heute leichter als vor zehn Jahren, eine lesbische Liebesgeschichte zu erzählen?
Ja, weil man nicht mehr gezwungen ist, es immer als Problem oder als besonderes Thema zu formulieren. Vor ein paar Jahren hätte eine lesbische Liebesgeschichte immer problematisch ausgehen oder zumindest aussehen müssen, eine der Frauen hätte als Exempel bestraft werden müssen: dafür, dass sie anders funktioniert als der Rest der Gesellschaft, als Kritik an den Umständen. Und trotzdem bleibt auch bei kritischer Abbildung von Ungerechtigkeit die Bebilderung dieser Ungerechtigkeit in der Welt.
Wäre das bei einer Verfilmung deines Buches damals auch so gewesen?
Wahrscheinlich, andererseits bin ich glücklicherweise mit einer großen Selbstverständlichkeit zu dem Thema aufgewachsen. Es fällt aber auf, dass das Publikum oder die Produzenten bei einer lesbischen Liebesgeschichte immer denken, sie müsste expliziter dargestellt werden, um sie glaubhaft zu machen. Bei der Konstellation Mann–Frau unterstellst du denen ja, dass die ohnehin etwas miteinander haben, du musst dich darum nicht so verausgaben wie bei zwei Frauen, um dem Zuschauer Liebeskummer zu vermitteln.
Also besteht da doch noch ein Unterschied.
Ja, und man freut sich deshalb auch, wenn man mal Filme guckt, in denen Männer und Frauen einfach nur befreundet sind oder Geschäftspartner. „Mad Max“ mochte ich zum Beispiel sehr gern. Toll, wie die glatzköpfige Charlize Theron und Tom Hardy sich am Ende einfach nur angucken – die Mission ist geschafft, und man hat kein bisschen Heterosex-Subtext zwischen ihnen erzählt. Das hat mir gefallen. Die Cutterin von „Mad Max“ ist übrigens die Frau des Regisseurs George Miller und offenbar eine totale Feministin.
In deinem Film werden Guccikleider thematisiert, und wie auch im Buch fällt der Begriff „Wohlstandsverwahrloste“.
Gibt’s die wirklich?
Vielleicht ist die Vokabel nur geeignet, um etwas runterzubrechen. Ich kenne ehrlich gesagt keine Wohlstandsverwahrlosten und bezweifle, dass es wirklich welche gibt … Ich selbst bin bei meiner Mutter aufgewachsen, die war Sozialhilfeempfängerin, da konnte man sich nicht mal ein belegtes Brötchen beim Bäcker leisten. Mein Vater ist auch kein draufgängerischer Großverdiener, der das Geld zum Fenster rauswirft. Im Gegenteil, der ist zwar Kulturelite, aber daraus schlägt man kein Geld. Klar, es geht einem besser als vielen anderen. Aber dass die Figuren in der Geschichte Kohle hatten, war eher für die Konzentration auf das Wesentliche notwendig, damit sie sich nicht auch noch um andere Konflikte kümmern müssen als die, die sie mit sich selbst haben.
Ist es schlimmer, wenn reiche Menschen sozial verwahrlosen, sich selbst verlieren, als wenn das armen Menschen passiert?
Oh, da muss ich aufpassen, was ich sage: Es ist nicht schlimmer, es ist auch Quatsch zu sagen, dass Geld unglücklich macht … Aber ich musste die Geschichte in einem Wohlstandskontext ansiedeln, sonst hätte sie nicht funktioniert.
Vielleicht weil es perverser ist, mit Geld sich und andere kaputtzumachen, als ohne Geld?
Ja, weil es für arme Menschen noch weniger nachvollziehbar ist, wie jemand sein Geld in Mist anlegen kann. Es geht schließlich um die Freiheit: Mit Geld hat man eine größere Freiheit. Und genau daran geht meine Protagonistin zugrunde. Mifti hat keine Begrenzungen, sie kann machen, was sie will, sich kaufen, was sie will – sie will aber gar nichts, das Geld liegt bei ihr in der Wohnung herum.