ROLLING-STONE-Hausbesuch bei Prince: Heiß, heilig und high im Paisley Park

Wie Prince, der einsame König von Minneapolis, mit der Kraft der Musik die Welt retten will: unsere Titelgeschichte aus dem August 2010.

„Er sieht mich häufiger als ich ihn!“ amüsiert sich polternd Michael Bland, der überdimensionale Schlagzeuger, Ex-New Power Generation, mittlerweile Drummer bei Jonas-Brother Nick und Mitglied der besagten Bunker’s-Hausband, heute abend musikalischer Leiter beim Ehemaligentreff. „Wenn Prince kommt, kommt er durch die Küche, setzt sich hinten hin, und später erzählt mir jemand: Übrigens, Prince war da. Und ich: Oh, cool!“

Paisley Park soll ein offenes Haus werden

Vor ein paar Jahren, bei einem gemeinsamen Abend im New Yorker Club Nell’s, hat Bland mit-erlebt, wie aufsässig die Gaffer werden können. „Deswegen ist er auch aus L.A. zurückgekommen. Dort interessieren sich so viele Leute aus den falschen Gründen für dein Leben. Hier ist er der hometown hero und kann jederzeit Gemüse einkaufen gehen.“ Ohne Bodyguards? „Bodyguards? Mann, wir sind in Minnesota!“

Fans in Los Angeles
Fans in Los Angeles

Ein aufdringlich zurechtgemachter Prince-Doppelgänger ist dann tatsächlich im vollen Saal vertreten, als die Show losgeht und die All-Halbstar-Band „Head“ spielt, das Cunnilingus-Fellatio-Stück aus der „Dirty Mind“-Zeit, die Blaupause des Minneapolis-Sound aus Funk und New Wave, mit dem irren, wirren Synthesizersolo von Dr. Fink. Der Komponist selbst hat es längst aus dem Programm verbannt, aus religiösen Gründen. Bestimmte Prince-Stücke kann man nur dann hören, wenn er nicht dabei ist.

Wie er selbst die Show wohl fände? Im Publikum sicher öde, als Mitspieler auf der Bühne wohl grandios. Prince wird an diesem Samstagabend übrigens weder im Cabooze gesehen, noch im Envy, wo Dustin Meyer auflegt, noch in Cousin Mohammeds Restaurant Java. Keiner findet das komisch. Vielleicht haben manche ja das Gefühl, dass er trotzdem heimlich zuschaut, von einem Bildschirm oder Ausguck in Paisley Park. Weil er einer von ihnen ist. Die Geschichten, die auch an diesem Abend wieder erzählt werden, klingen noch immer frisch. Ob sie nun alle wahr sind oder nicht.

Am Tag davor, auf dem Weg zur Ausgangstür, hatte Prince übrigens noch eine eher überraschende Ankündigung gemacht. Er werde bald Einiges umdekorieren, und dann solle Paisley Park zum offenen Haus werden, das jeder besuchen kann. Wie ein Museum, eine Kirche? „Immer diese Fangfragen!“ Wie Graceland, könnte man auch sagen. Ein Wohlfühlraum zu Ehren des abwesenden, anwesenden Künstlers. Auch die Partys sollen wiederkommen. „Wir werden dieser Stadt schonend beibringen“, sagt Prince, konspirativ murmelnd, „dass wir wieder da sind.“

Prince lebt nicht nur im Jetzt. Er lebt auch hundertprozentig im Hier.

Diamanten und Perlen

So zerstreut wie ihr Schöpfer ist die Discografie: Für jeden Meilenstein wie „Purple Rain“, von dem 24 Millionen Stück verkauft wurden, oder den Kritikerfavoriten „Sign ‚O‘ The Times“ steckt ein zusammengeschustertes Nebenwerk in der Prince-Bilanz. Was nicht heißt, dass unter seinen weniger bekannten Platten keine Highlights sind. Mindestens sechs davon sollte man unbedingt nachhören.

Dirty Mind 1980

Nach den Disco-Soul-Anfängen: die Geburt des knochigen, neonfarbenen Wave-Sex-Funk, der ihm Jahre später die Hits verschaffen sollte. Und der hier gleich mit einer gewaltigen Erektion auf die Welt kommt. Gefistelte Oden an Oralsex und Inzucht, trotzdem unsagbar cool.

Around The World In A Day 1985

War ein Jahr nach „Purple Rain“ zwar ebenfalls eine Nummer eins, erntete mit Psychedelia, Kinderliedern und Wolkenklängen allerdings großes Kopfschütteln. Die Glücksbärchis, die Prince hier ritten, motivierten ein Pop-Meisterwerk.

The Black Album 1987

Regulär veröffentlicht erst 1994 – zuvor hatte Prince die Platte in letzter Sekunde selbst aus dem Verkehr gezogen, weil ihm die abgründigen, lüsternen Vibes nicht mehr geheuer waren. Gnadenlosere Partymusik hat man selten gehört: quäkend, schmierig, teilweise prügelhart funky. „Bob George“ zeigt Prince sogar als fluchende Gangsterparodie.

Emancipation 1996

Die Drei-CD-Box, mit der er – als „Symbol“ – die Trennung von Warner Brothers und die Ehe mit Mayte Garcia feierte. Über weite Strecken daher seine Easy-Listening-Platte (auch wenn es nach hinten raus technoid wird). Prince schmiegt sich in den Soul, wie es nur ein echter Freund kann, und verhaut sich dabei kein einziges Mal.

The Rainbow Children 2001

Kurz zuvor zu den Zeugen Jehovas konvertiert, lag Prince gleich ein Konzeptwerk über den Weg zur Erleuchtung auf der Zunge. Wer das Salbungsvolle der Texte erträgt, kann die jazzigste, luftigste Platte des Oevres genießen, die voller glorioser Soul-Jam-Momente steckt und mit „She Loves Me 4 Me“ auch einen Evergreen enthält.

3121 2006

Wie die meisten jüngeren Alben eine gemischte Angelegenheit, aber die mit den schönsten Synthesizer-Riffs („Lolita“, „Fury“), dem zwielichtigsten Partytrack („3121“) und dem überzeugendsten Sprung in die R&B-Gegenwart: In „Black Sweat“ spielt er – mit Clicks, Claps und hoher Stimme – gleichzeitig Produzent und Tussi. Genial. jh

Das Album im Heft: „20TEN“

Das Album „20TEN“, das diesem Heft beiliegt (unserer Zählung nach Prince‘ 27. Studioplatte), ist ein Grund zur Freude: Mit Analog-Synthesizern, drahtigen Gitarren und dem alten Linn-Drum-Schlagzeugcomputer kehrt er endgültig zum frühen Elektrofunk-Spirit zurück. Die Stücke entstanden in den Paisley-Park-Studios mit den Sängerinnen Shelby J, Liv Warfield, Elisa Fiorillo sowie den Bläsern Maceo Parker, Greg Boyer, Ray Monteiro.

1 Compassion Straighter Beat, Keyboard-Stakkato, Gitarrenfauchen: Von der ersten Sekunde an stehen wir auf der Tanzfläche im Prince-Hauptquartier. Gospel-Pop-Party-Ode ans menschliche Mitgefühl.

2 Beginning Endlessly Dieses resolute Synth-Riff riecht nach frischem Haarspray. Prince leckt dem Hörer das Ohr, diesmal im Duett mit sich selbst.

3 Future Soul Song In diesem Schaumbad-Soul zeigt sich Prince erst als echter Crooner, jubelt entrückt „Sha-la-la“ im Refrain, bis er am Ende doch noch aus der Haut fährt, maunzt und kreischt.

4 Sticky Like Glue Ein schwer anzüglicher Fünf-Minuten-Hüftschwung, mit wenig mehr am Leib als einem klaren Beat, ein paar schmatzenden Basslinien, einer funky Gitarre.

5 Lavaux Da freut sich die Tourismusbranche: Prince versprüht Fernweh, preist die Schönheit der Weinberge im Schweizer Lavaux. Ein Song über Visionen und Freiheitsdrang: „Life back home depresses me/ Just another form of slavery.“

6 Act Of God Das geht los wie ein Stromschlag, tritt zu wie ein samtverkleideter Stiefel: Prince erklärt in drei Minuten Wirtschaftskrise und Irakkrieg, lässt sich von seinen drei Musen die Stichwörter zuwerfen, während der Groove tiefrote Funken aus dem Boden haut. Höhepunkt des Albums.

7 Walk In Sand Ein schmeichelnder Showstopper, Prince als Samtpfötchen am Klavier, ausnahmsweise sogar echte Drums und Live-Band-Feel.

8 Sea Of Everything In dieser Schlafzimmerballade geht er in den Nahkampf – inklusive Reflexion: „Will you still feel the same when the spotlight fades?“

9 Everybody Loves Me Rock’n’Roll-Stomp mit Boogie-Piano-Breaks und Feelgood-Garantie. Kann man schon nach 30 Sekunden mitsingen.

10 Unbetitelter Bonustrack Ein hartes Stück, die Prince-Version von modernem R&B. Und vielleicht ein kleiner Hinweis darauf, was uns demnächst auf der Nachfolge-Platte erwarten wird. jh

ROBYN BECK AFP/Getty Images
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