ROLLING-STONE-Hausbesuch bei Prince: Heiß, heilig und high im Paisley Park
Wie Prince, der einsame König von Minneapolis, mit der Kraft der Musik die Welt retten will: unsere Titelgeschichte aus dem August 2010.
Und um jeden Zweifel abzuwürgen, läuft Prince in softem Trab zu dem Flatscreen-Fernseher, auf dem ohne Ton ein Bette-Davis-Film läuft, klickt sich durch den Festplattenrekorder, bis er eine Aufzeichnung der Letterman-Show findet. Spult sich durch die Sendung und lässt mit voller Lautstärke den grandiosen Auftritt von Janelle Monáe laufen. Die mit Brickettfrisur, androgynem Smoking und riesigem Soul-Pop-Maulaufriss auf zehn Kilometer als Prince-Liebling zu erkennen ist. „Schau sie dir an“, zeigt er zum Bildschirm, „her eyes are wide open!“
Die Easy-Going-Freundlichkeit ist in Wahrheit vielleicht ein Kraftakt für ihn. Seine hyperaktive Gastlichkeit könnte auch ein Schauspiel für die Presse sein, mit dem Prince die eigene Schamhaftigkeit überspielt (Das „Daily Mirror“-Interview verläuft dem Bericht nach verdächtig ähnlich wie meines). Aber die übermütige Begeisterung, die man ihm beim Anschauen dieses Videos ansieht: Die ist zweifellos echt. Ich stelle mir vor, wie er Nachmittage lang im leeren Paisley Park sitzt, seinem gewaltigen Jungszimmer, wie er Musikvideos schaut, Akkorde erfindet, mit den drei Musen neue Lieder lernt, die der Herr ihm eingibt. Vielleicht ist es genau das, was der Künstler Prince nun mal so macht.
Im Internet hängt er jedenfalls nicht ab. Auf die Frage, ob es nach den abgebrochenen Fanclub-Projekten eine neue Online-Präsenz geben werde, antwortet er nur mit einem genervt klingenden Laut. „Das Internet ist für uns durch. Erinnerst du dich noch daran, wie es war, als MTV plötzlich nicht mehr cool, sondern alt war? So geht es uns mit dem Netz. Wir waren von Anfang an dabei, haben einen Haufen Awards dafür gewonnen – jetzt ist Zeit für etwas Neues. Ich muss meine Meinungen auch nicht mit der ganzen Welt diskutieren. Ich lerne nichts, wenn ich vor flachen Bildschirmen sitze – ich lerne nur von echten Menschen. Vor ein paar Tagen hatte ich hier ein paar Freunde zu Gast, wir saßen zusammen, unterhielten uns über den Planeten, über die Probleme und darüber, wie sie zu lösen sind. So kommuniziere ich mit der Welt.“
„Ich lebe im Jetzt“
Wäre es denkbar, dass er irgendwann keine Platten oder Tourneen mehr macht, einfach irgendwo die Bühne hinstellt, wie damals in den 21 Nächten in London, und die Leute zu sich kommen lässt, die seine Musik wollen?
„Schau, du lebst im Kopf schon im Jahr 2020“, beschwichtigt Prince, im geübten Bariton-Tonfall des weisen Gurus. „Ich lebe im Jetzt.“
Um so unerbittlich wie möglich zu spüren, wie es sich anfühlt, im Vorgestern zu leben, muss man nur das Hard Rock Café in Minneapolis besuchen. Wer hier seinen Apfelkuchen isst, muss dabei Videos von Led Zeppelin, Poison oder Foreigner anschauen. Im ersten Stock ist die Prince-Vitrine. Hinter Glas: die bunte Paisley-Stiefelette, der türkisfarbene Ganzkörperanzug, Lederhandschuhe mit Spitzenbesatz, ein Schlaghosen-Outfit mit Rüschenhemd, das wie ein Zimmermannsanzug wirkt. Eine „Sign ‚O‘ The Times“-Gitarre, die in Serie gehen sollte, aber wegen Problemen mit dem Tonabnehmer nie ausgeliefert wurde. Ein Brief, in dem Prince im Juni 1984 seinem Fan Annalisa The Great zum Junior-High-Abschluss gratuliert: „Ich war in der Schule ein hoffnungsloser Fall. I was 2 busy listening 2 the grass grow.“
Nichts in diesem Museum ist jünger als die 80er-Jahre. Und auch wenn man selbst dazu tendiert, lieber das Pure-Freude-Album „Parade“ von 1986 aufzulegen statt der wechselhaften 1999er-Platte „Rave Un2 the Joy Fantastic“, so kann man hier doch richtig tobsüchtig werden vor lauter bequemer, zeitvergessener Prince-Nostalgie. Der Mann lebt doch, wir haben’s gesehen!
Schwerfällig erklärt das Mädchen im Café-Shop, es habe mal so einen speziellen Kugelschreiber mit lila Mine gegeben, aber der sei vergriffen. Sie habe sich auch nie für Prince interessiert. Sie wollte immer Schauspielerin werden.
Mit dem Begeisterungsmangel steht sie in der Stadt ziemlich allein da. Als 2008 für den Minnesota History Center im benachbarten St. Paul eine Schau mit den wichtigsten Personen der 150-jährigen Geschichte das Bundesstaates zusammengestellt werden sollte, erhielt Prince – der Oralsex- und Masturbations-Experte, der Tipper Gore 1985 zur Gründung ihrer Songtext-Kontrollbehörde bewegt hatte – eine überwältigende Menge an Nominierungen. Ein Mädchen beispielsweise schrieb als Begründung, sie sei an ihrem Ostküsten-College immer nur für ihre hinterwäldlerische Herkunft bemitleidet worden – bis sie den Leuten erklärte, dass Minneapolis doch der Schauplatz von „Purple Rain“ sei. Ein anderer kommentierte: „Er hat die Amerikaner darauf aufmerksam gemacht, dass wir überhaupt existieren.“
Wie schon gesagt: Jeder hier hat seine Prince-Geschichte. Vom ägyptischen Imbissbetreiber bis zum Kneipenwirt, der ihn in der Schulzeit bei Highschool-Talentshows erlebte und später beim Bau von Paisley Park die Auffahrt betonierte. Von Natalie, deren gute Freundin mal was mit Prince hatte und die man in einem bestimmten Video vorne rechts tanzen sehen kann, bis zu Lisa, deren Onkel exotische Tiere sammelt und für die nächtlichen Partys in Chanhassen immer ein paar Vögel liefern musste.
Der Künstler selbst, 1958 als Sohn ein Jazzmusikerpaares geboren, im Norden der Stadt aufgewachsen und bis auf die kurze Zeit in L.A. nie aus der näheren Umgebung verschwunden, kultiviert in seinem sonst so glamourös-spirituellen Werk einen überraschenden Lokalpatriotismus. Für das örtliche Footballteam Vikings (Vereinsfarbe: lila!) schrieb er kürzlich eine neue Hymne. Im unbetitelten Bonustrack des neuen Albums „20TEN“ platziert er sich explizit als Sohn aus dem „Herzen von Minnesota“. Minneapolis tauft er „Funkytown“.
Herz und Hirn im Austausch
Sogar der Kellner im Bunker’s, optisch ein strammer Redneck, freut sich enorm, wenn man ihn auf den Popstar anspricht. Der holzdunkle Laden im Warehouse District stinkt schon am frühen Samstagnachmittag nach Popcorn-Butter, hier gibt’s Baseball statt Letterman. Einen krasseren Gegensatz zum Veganerparadies Paisley Park kann man sich kaum denken. „Erst letzte Woche ist er wieder hier aufgetreten!“ schwärmt der Mann. „Wenn Dr. Mambo’s Combo ihren Abend machen, kommt er öfter mal als Gast auf die Bühne. Unglaublich toll ist das immer!“ Einige Mitglieder der Bunker’s-Hausband spielten früher bei der Prince-Begleitgruppe New Power Generation, daher die Verbindung. Dann wird plötzlich ein Telefon gereicht, vom eifrigen Kellner. Er hat schnell seinen Freund J.D. Steele angerufen, der den Künstler seit den 70ern gut kennt und öfter im Background gesungen hat. „Prince ist ein Mann, der einfach seinen Überzeugungen folgt“, erklärt Steele feierlich, „und im Moment sieht er mehr Sinn und Bestimmung in seinem Leben als je zuvor. Sein Herz und sein Hirn stehen in so regem Austausch miteinander, wie man es bei Menschen selten findet.“
Es fühlt sich so an, als würde man im Städtchen umhergehen und die Bürger fragen, wie sie den ominösen König finden, der einsam im Schloss vor den Toren haust. Und keiner, keiner sagt etwas Schlechtes über ihn. Obwohl die meisten ihn seit Jahren nicht gesehen haben.
„Er sorgt schon dafür, dass die Leute seine Anwesenheit spüren“, meint Dustin Meyer, langjähriger DJ in der Prince-Entourage, heute Resident in der örtlichen Saturday-Night-Disco Envy. Früher gab es ja auch die berühmten Partys in Paisley Park: Um Mitternacht bekam Meyer meistens den unangekündigten Anruf, zwei Stunden später war die Bude voll mit schnellentschlossenen jungen Leuten, bis fünf Uhr feierte Prince mit ihnen. „Klar benimmt er sich manchmal seltsam. Aber das macht er mit Absicht, um das Geheimnis zu wahren.“ Warum er 2006 wohl nach Los Angeles zog? „Keine Ahnung. Aber er ist ja zurückgekommen. Er kommt immer zurück.“
Könne übrigens gut sein, mutmaßt Meyer, dass Prince heute abend noch im Envy vorbeischaut. Falls ja, gibt er Bescheid.
Währenddessen ist im Cabooze, am Ostrand von Downtown, alles bereit fürs größte Klassentreffen des Wochenendes. Die Helden des Minneapolis-Sound haben sich schon miteinander warmgespielt, zeitweise mit 15 Mann auf der Bühne: die Gitarristen Dez Dickerson und Mike Scott, die Keyboarder Tommy Barbarella und Dr. Matt Fink, Bassist Sonny T, Rapper Tony M – sie alle haben irgendwann mal bei Prince oder in anderen Paisley-Park-Bands gespielt, länger oder kürzer, wichtiger oder unwichtiger. „Family Reunion“ nennen sie ihr jährliches Großkonzert, auch das ist Nostalgie, aber anders: Man muss halt ab und zu zusammenkommen, um deutlich zu machen, dass hier in Minneapolis wirklich noch alle da sind. Dass man in touch miteinander ist, eine Art stadtweite Musikerkommune, auch wenn der Platz am Kopf der Tafel leer bleiben wird. Vermutlich. Es sei nicht ganz unwahrscheinlich, dass Prince heute abend auftauche, nuschelt einer. Weil er ja immer gerade dann käme, wenn es keiner glaubt.
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