Heinz Rudolf Kunze – Das Alte Testament
Heinz Rudolf Kunze schreibt über die Mono-Versionen der frühen Alben der Kinks und die großen Vier der Sechziger.
Feuer, Wasser, Erde, Luft. Norden, Westen, Osten, Süden. Beatles, Stones, Who und – Kinks. Die klassischen Elemente, die Grundachsen der Windrose und die wichtigsten Bands der Weltgeschichte. Immer wieder die Zahl 4.
Die meisten guten, die meisten „besten“ Gruppen haben seit eh und je vier Mitglieder. Selbst die Stones, wenn man den Worten von Keith Richards Glauben schenkt, dass Bill Wyman und Brian Jones eigentlich nur halbe Portionen waren. Alle vier erwähnten und erwählten Bands sind britisch. Großbritannien besteht aus vier teilautonomen Regionen. Und die Analogie gelingt fast bis in die Hauptstadt hinein: Die Kinks – North London, die Stones (zumindest Jagger und Richards) – East London, die Who – West London und die Beatles, nun ja: Liverpool. Aber da wären sie nichts geworden, damals konnte man noch nicht in Manchester oder anderswo bleiben. Schlagen wir sie halt einfach South London zu. Was ist das hier? Zufall? Zahlen-Alchemie? „So mystifying“, würde Ray Davies singen.
Unüberschaubar viel ist über dieses Olymp-Quartett von Kapellen gesagt und geschrieben worden. Kein Wunder: Jede Strömung, jedes Phänomen, das sich in der (zumindest weißen) Popmusik seit 1962 ereignet hat, lässt sich auf die eine oder andere Weise als subtile Gewürzmischung mit einer Prise von dieser und einem Hauch von jener genannten Band ableiten. Die Gemeinsamkeiten zwischen diesen vier Eckpfeilern des Rocktempels sind genauso prägnant wie die Unterschiede.
Allesamt sind sie zu Beginn beeinflusst, ja durchtränkt vom schwarzen Blues und vom Rock’n’Roll (im ursprünglichen Wortsinn) der 50er-Jahre, allesamt spielen sie Stücke von Muddy Waters und Chuck Berry und entwickeln ihre spezifischen Eigenheiten von diesem Ausgangspunkt her. Und das geht rasend schnell. Selbst die Stones, die eigentlich nur eine gute weiße Bluesband sein wollten (was sie immer noch sind), haben innerhalb von zwei, drei Jahren ab 1962 etwas höchst Eigenes gefunden. Die Beatles sind von einer guten Tanzcombo zur distinguierten Zweckgemeinschaft dreier hochtalentierter Songschreiber mutiert. Die Who haben sich in eine atemberaubende Dauerexplosion verwandelt. Und die Kinks – ja, die Kinks sind etwas ganz Besonderes und vielleicht (von heute aus betrachtet) das am Nachhaltigsten interessante Vorkommnis von allen. Große Songs, unvergessliche, haben sie alle hervorgebracht. Dennoch bewundert man die Stones und die Who mehr für die Art, wie sie es machen, für ihren „swagger“, ihre „attitude“ (Ray Davies), und die Beatles und die Kinks eher für ihre Songs, ihr Material, ihre Substanz.
Und dergestalt enthülle ich hiermit mein seit Jahrzehnten gepredigtes Credo: Auf höchstem Niveau verglichen, waren die Who die besseren Stones – und die Kinks die besseren Beatles. Natürlich ist das Geschmackssache, und es handelt sich vermutlich immer um ein haardünnes Foto-Finish – aber ich sehe es so, ich kann nicht anders. Wie man es auch dreht und wendet: Wer erfahren will, was Albion war, ist und immer bleiben wird, dem vermitteln die Stones, die Who und selbst die Beatles das eher über die Atmosphäre ihrer Stücke, die Kinks jedoch durch Atmosphäre und inhaltliche Präzision. Der Songschreiber Raymond Douglas Davies ist der genauste Beobachter und Chronist seiner englischen Gegenwart – und darüber hinaus einer der tiefsten Aufspürer englischen Wesens in der Popmusik, horizontaler Phänomenologe und vertikaler Kulturphilosoph in einem. Mit „You Really Got Me“ legte er den Grundstein für den Hardrock – nur um den Weiterbau dann Leuten wie Jimmy Page, Eric Clapton und Jeff Beck zu überlassen, denn sein Einfallsreichtum war viel zu sprudelnd, als dass ihn das Weiterverfolgen einer einmal ausprobierten Richtung langfristig interessiert hätte.
Die Kinks formte er zu einem brodelnden Laboratorium musikalischer und thematischer Möglichkeiten, ihr erster Produzent Shel Talmy war gleichzeitig für die Who tätig und deprimierte Pete Townshend & Co. immer wieder mit Berichten über die neu aufgestoßenen Türen bei der Konkurrenz des Davies-Brüderpaars und ihrer Rhythmusgruppe. Sicherlich soll man den Beitrag von Dave Davies nicht unterschätzen, aber letztlich waren die Kinks genauso das Vehikel der Vision von Ray wie die Who dasjenige (allerdings gewaltigere) von Pete. Von Townshend ist der Spruch überliefert: „Page kann zwar schneller spielen als ich, aber er würde seinen rechten Arm dafür geben, so gute Songs schreiben zu können wie ich.“ Vielleicht lohnt es sich zu fragen, ob der Who-Mastermind nicht immerhin seine linke Hand opfern würde für bestimmte Ray-Davies-Lieder, bei denen man das Gefühl hat, eine wiederauferstandener Charles Dickens porträtiert den Hexenkessel der Swinging Sixties: „Dedicated Follower Of Fashion“, „A Well Respected Man“, „Sunny Afternoon“ …
Aber Davies erschöpfte sich nicht in Ironie und Satire, er konnte genauso gut innig-geheimnisvolle, „schöne“ Stücke hervorbringen wie „See My Friends“, „Tired Of Waiting For You“ oder „Too Much On My Mind“, in deren Wechselspiel von A-Strophen und Bridges er manchmal klingt, als könne er die Persönlichkeiten Lennons und McCartneys gleichzeitig verkörpern, die er mit seinen absoluten Meisterwerken „Days“ oder „Waterloo Sunset“ eben nicht nur erreicht, sondern um eine Nasenspitze übertrifft.
Die neue Kinks-Box in Mono ist ein weiterer Sieg für Unsterbliches. Sie enthält die ersten sieben Original-Alben sowie drei Raritäten-CDs in der ursprünglich gewollten Klanggestalt, dazu ein Booklet im Hardcover. Ein Muss – für jeden Neueinsteiger die Möglichkeit, das Alte Testament der Rockmusik zu studieren. Bestand das nicht auch aus vier Teilen? Bin mir nicht ganz sicher …