Festival-Bericht

Heimspiel Knyphausen 2022: Der Große Gatsby von Eltville

Die Supergroup Husten kann beim intimen Festival auf der Gutswiese punkten. Bilderbuch überzeugen mit Doppelhals-Gitarre. Und Friedberg holt den Pokal.

Oberhalb des mittleren Rheins liegt der Draiser Hof, 1141 erstmals urkundlich erwähnt. In der Chateau-artigen Anlage stehen historische Gebäude, eins beherbergt ein Boutique-Hotel. Die Remise wird gerade umgebaut. Im modernen Weinladen gibt es edle Tropfen. Seminare und Merchandising. Um die zentrale Gutswiese gliedern sich die Weinreben. Das heiter-idyllische Anwesen im Rheingau ist seit Generation der Stammsitz des Weinguts Baron zu Knyphausen.

Picknickwiese vor der Festivalbühne
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Hier veranstaltet der Musiker Gisbert zu Knyphausen, zusammen mit seinem Bruder und dem Darmstädter Orga-Wizard Benjamin Metz seit Jahren ein sehr eigenwilliges Festival. Der Meister und sein Team laden die Bands ein, oft langjährige Kumpels und Freundinnen. Es gibt nur eine Bühne, die große wie kleine Acts gleichberechtigt bespielen. Essenziell für das dreitägige Programm sind allerlei Newcomer, die danach oft genug zum Karrieresprung abheben. Am Sonntag bewiesen Dana Margolin und die Girls von Porridge Radio das sie zurecht als UK-Indie-Darlings gefeiert werden.

Eingang Hall of Fame beim Heimspiel Knyphausen

Hier ist die Bilanz vom Freitag und Samstag:

Das Publikum in angenehm-überschaubarer Kapazität um 2.000 sitzt auf Picknickdecken und trinkt Spätburgunder-Rosé aus eigens hergestellten Festivalgläsern. Nach zwei Pandemie-Ausgaben in hybrider Form sind die Veranstalter in ihrer kurzen Begrüßungsrede sichtlich ergriffen, dass nach den Leerstellen 2002/21 nun alle wieder analog ihre Drinks nehmen können. Let’s Go!

So war der Freitag

Der Freitag bringt zum Auftakt den Mannheimer Anzug-Liedermacher David Julian Kirchner, der an der Gitarre „ein Loch in der Welt“ erkennt, bevor die Indie-Supergroup Husten einen Wochenend-Reigen von Bands mit exzentrischen Namen (Nichtseattle, Klebe, Friedberg…) einleitet.

David Julian Kirchner

Mit den Songs der Albums „Aus Allen Nähten“ haben Husten (die im September auf landesweite Tour gehen) in der Besetzung Knyphausen, Moses „Super-Produzent“ Schneider am Bass sowie Tobias Friedrich als „Der Dünne Mann“ einen Heimspiel-Bonus beim „Heimspiel“. Wo sonst Barden-Gefühligkeit gepflegt wird, wollen Husten gerade live lieber auf die Glocke. Knyphausen und Gesellen sagen „Ja im Sinne von Nein“ oder „Der Hier wird wehtun“. Sie haben Spaß daran, auch mal The Killers sein zu dürfen. Sie lassen es ordentlich braten. Las-Vegas-Rock-Atmo auf „eltvillisch“.

Die „Supergroup“ Husten mit Gisbert zu Knyphausen und Moses Schneider (Tocotronic Produzent)

Eine Steilvorlage für die Wiener Powerbrüder von Bilderbuch, die nach Übungen zu Funk und Dance offenbar in einer Prog- und REO-Speedwaggon-Phase angekommen sind. Gitarrero Michael Krammer im langen Glamrock-Mantel lässt sich gar ein weißes Doppelhals-Instrument reichen. Und gibt wild kreiselnd den Steve Hillage. Als Rampensäue allererster Kajüte haben sie die Meute von Anbeginn im Griff. „Hat Deutschland den Funk?“ ruft Sänger Maurice Ernst. „Yes, we can!“ für einen wilden Ritt von den (einstigen) Digital-Beats zu „Gelb ist das Feld“. Großes Stilwechsel-Entertainment!

Bilderbuch

So war der Samstag (mit Kaiserwetter)

Die Berlin Songwriterin Katharina Kollmann alias Nichtseattle nannte sich auf dem 2019er-Album „Wendekid“. Auch ihre neue Platte „Kommunistenlibido“ verhandelt ostdeutsche Identitäten, Bassistin Fania Jacob kann sich noch vage an die Jungen Pioniere erinnern.

Bassistin von Nicht Seattle

Privates Schicksal verquickt mit Zeitdiagnose. Der verschleppte Gitarrensound erinnert an die 1980er-Avantgarde der New Yorker Frauenband Bush Tetras. Zuweilen scheint es, als setze Kollmanns Live-Quartett bewusste Leerstellen. Ein sparsamer Umgang mit Tönen. „Wir haben uns bisschen ‚rumverspieltert‘, doch das ist nicht so wichtig“, meinte nach der Show die Bandchefin. Spröder Charme als USP.

Festival der lustigen Bandnamen: Nicht Seattle

Ebenso eigen ist die Hamburgerin Liza Ohm (33), die unter Klebe firmiert; was bei der digitalen Such-Kombi „Klebe, Band“ lustige Fundstellen erzeugt. ihr Debütalbum erscheint 2023 beim Indielabel Chateau La La. Die Arbeit daran unterbricht die Synchronsprecherin mit gelegentlichen Auftritten im Bandformat, unterstützt von Tim Jaacks sowie Dorothee Möller und Timon Schempp von The Girl & The Ghost. Süß-saure Chansons verperlen sich luftig zu hanseatischen Yachtrock-Harmonien. Die Songwriterin schätzt Fiona Apple und macht daraus Indiepop im Glöckchenfee-Style. Herzlicher Applaus, die Weinwiese ist gerührt.

Klebe aus Hamburg

Ein anderes Kaliber ist das österreichisch-englisch-deutsche All-Female-Quartett Friedberg, benannt nach dem Heimatort der steirischen Sängerin und Gitarristin Anna Wappel. Bassistin Cheryl Pinero stammt aus Koblenz. Die Band hat sich in London formiert. Mrs. Friedberg war einst mit Lederhosen-Funkster Lenny Kravitz unterwegs, auch die beiden UK-Frauen sind gestandene Profis. Ihre 2019er-Debüt-Single heißt „Boom“ und genauso boom und yeah ist auch ihre Show, in denen ihnen das Kunststück gelingt, das Sirenenhafte von Dream Pop mit einer gehörigen Portion Punk-Schmackes zu verquicken. Als die Vier am Ende kollektiv steil gehen, wird die Wiese für einige Minuten zum Party-Planet. „Go Wild“ heißt ein weiterer Song. Eine Band wie ein Energygetränk.

Friedberg Grrrlpower

Zum Grande Finale verdichten die US-Indierocker Algiers ihren Ambient-Rock noch schattiger als bisher. Sänger Franklin Fisher gibt den Beserker. Das Publikum tobt. Zum Abschluss laden die Maastrichter Psychedelic-Poppper Yin Yin zum Ritt in andere Sphären. Gitarrenwände im 1970er-Jazzrock-Style aufgeflottet mit Disco-Beats. Ausdruckstanz im Rheingau.

Funky Deep Dive bei Yin Yin aus den Niederlanden
Julia Harz
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