Hauch der Geschichte
An geschichtsträchtigem Ort feierten The Felice Brothers und 350 Gäste sich selbst, die Musik und das Leben. Nur die versprochene Platte gab's leider nicht
LONDON, 100 CLUB. Man erzählt sich, Sid Vicious habe hier einst den Musikjournalisten Nick Kent mit einer Fahrradkette verprügelt. Verbürgt ist zudem — im Rahmen des ersten „International Punk Festivals“ im September 1976 — der Wurf mit einem Bierglas nach der Band The Damned.
Einen legendären Ruf hatte der „100 Club“ freilich schon vor den jungen Wilden: Seit der Eröffnung, 1942, spiegelt das intime Kellerloch zuverlässig musikalische Moden. Mit den Jahren gerieten Gastspiele an der Oxford Street zum Genreübergreifenden Pflichttermin für beinahe jeden, die Stones waren sogar zweimal hier. Nun also The Felice Brothers. Novizen im Vergleich zu den Vorgenannten, genießen sie in London beinahe Heimrecht: Hier sitzt ihre Plattenfirma Loose Music, deren Manager Mark Rogers heute eigenhändig die T-Shirts verkauft. Die angeblich exklusiv auf Konzerten zu habende, nebulöse Platte „The Adventures Of The Felice Brothers Vol. 1“ ist allerdings vergriffen.
Schließlich nehmen die „Kings Of Leon des Americana“, um Fiddler Farley erweitert, Formation ein. Ganz eng in einer Reihe stehend, selbst Simone Felices Schlagzeug steht am Bühnenrand. Überhaupt merkt man ihnen das Ex-Straßenmusikantentum in jeder Sekunde an: eine Band, die lange kein Publikum hatte und so lernte, auf sich selbst zu vertrauen und notfalls eben auch alleine für den Spaß zu sorgen. Was heute kaum nötig ist: Eben sah man Simone noch Einkaufstüten-bepackt die Oxford Street hinunter lauten, jetzt sitzt er mit irrem Jerry-Lee-Blick, schlabberiger Anzughose und schlechten Seemannstätowierungen angriffslustig hinter seinem Set. Und deutet im Verlauf des furiosen „Ruby Mae“ erstmals seine Rolle als theatralischer Luises- und showman mit ins Spastische tendierender Körpersprache und Mimik an – vom Publikum entsprechend goutiert. Ein Heidenspaß!
Mit „Whiskey In My Whiskey“ und „Hey Hey Revolver“ (ohne Gewitter und trotzdem gut!) sind sie endgültig in ihrem Element. Anschließend geht einem der mit Schlapphut und Whiskeyflasche um Klischeepflege bemühte Schunkelbär James Felice als Balladensänger ans Herz, und zwischendurch kommen ständig irgendwelche Leute auf die Bühne: Ein älterer Herr namens Hoss (nicht lachen!) spielt Saxofon, andere betätigen sich an Klavier und Waschbrett. Das gemeinsam gesungene „Frankie’s Gun!“ lässt einen dann an alte John-Ford-Filme denken. Abends, wenn der Treck gen Westen rastet und irgendein zahnloser Alter die Fiddle rausholt. Allerdings ohne patriotische Werte und Gottesfurcht. In den entscheidenden Momenten kommt die Band indes ohne Kabarett aus: Wie Ian Felice etwa „Greatest Show On Earth“ singt, das lässt einen geradewegs gen Himmel fahren. Am Ende zieht James erst einige Damen auf die Bühne, bis schließlich der halbe Saal oben steht und zusammen „Glory Glory“ schmettert. Bezeichnendes Ende: Eine Grenze zwischen Band und Publikum gab es zu keinem Zeitpunkt. God save the Felice Brothers!