Harry Styles: Auf Triumphtour von New York bis nach Hamburg
Ein weltweites Pop-Idol ist er bereits, doch nun hat Harry Styles auch Hollywood ins Auge gefasst. Das eigentliche Wunder aber ist: Wie schafft der Junge es nur, dass ihm alles so mühelos in den Schoß fällt?
Es war Freitagnacht, als Harry mit seiner Show New York eroberte. Es war natürlich keine gewöhnliche Show, die der Liebling der Götter hier ablieferte, sondern das erste Konzert, bei dem er das gesamte Material von „Harry’s House“ vorstellte, seinem dritten – und unweigerlich erfolgreichsten – Album. Die Fangemeinde, die in dieser Mai-Nacht die UBS-Arena in Long Island füllte, hatte sich mit Glitter und Federn aufgehübscht und den Tränen freien Lauf gelassen – ein kollektives Ritual, das inzwischen bei all seinen Auftritten zum festen Repertoire zählt.
Dass diesmal etwas anders war, bemerkten die Fans aber spätestens bei der Zugabe: Statt des üblichen „Kiwi“ schloss er den Gig mit der neuen Single „As It Was“ ab – seiner zwar leichtfüßigen, aber doch melancholischen Meditation über die Suche nach der verlorenen Zeit. Das Publikum reagierte mit Begeisterungsstürmen, wie sie Styles noch nie erlebt hatte. „Als wir von der Bühne kamen, wollte ich sofort in meine Umkleidekabine, um für eine Minute allein zu sein“, erzählt er dem ROLLING STONE zwei Monate später. „Nach One Direction hatte ich eigentlich nicht mehr damit gerechnet, noch eine vergleichbare Erfahrung zu machen. ,Extremere Gefühlsausbrüche werde ich in meinem Leben nicht mehr erleben‘, dachte ich mir immer. Aber an diesem Abend machte ich eine Erfahrung … Ich will nicht sagen, dass sie mir Angst machte, aber ich brauchte eine Minute, um sie zu verarbeiten. Ich wusste einfach nicht, wie ich diese unglaubliche Energie einordnen sollte.“
Keine Frage: Mit seinen 28 Jahren hat Styles ein neues Plateau seiner Karriere erklommen. Schon mit One Direction, seiner früheren Boy-Band, war er in den gleichen Arenen und Stadien aufgetreten, doch in diesem Sommer stand er allein im Rampenlicht. „As It Was“ hatte sich als sein erfolgreichster Song entpuppt, der alle Streaming-Rekorde brach, die Charts in mehr als zwei Dutzend Ländern dominierte und allein in den USA zehn Wochen lang Platz eins belegte.
Da er nun einmal ein vorwiegend junges und weibliches Publikum anspricht, weigern sich allerdings noch immer viele männliche Hörer, in ihm mehr zu sehen als ein hübsches Teen-Idol. (Wer die Annalen der Popgeschichte studiert, wird natürlich feststellen, dass dieser Fehler nicht zum ersten Mal gemacht wird.) Styles ist allerdings sicher, dass er momentan eine veränderte Großwetterlage erlebt. „Es ist mir noch nie passiert, dass mich so viele Männer auf einen Song ansprechen, wie es im Fall von ,As It Was‘ passierte“, konstatiert er. „Womit ich nicht sagen will, dass ich absichtlich Männer ansprechen wollte, aber es ist schon ein Phänomen, das mir auffiel.“
Bevor er im April seinen Headliner-Auftritt beim Coachella-Festival hatte, traf ROLLING STONE ihn backstage, umrahmt von James Corden, Harrys Gastsängerin Shania Twain und seiner Freundin, der Schauspielerin Olivia Wilde („Dr. House“). In den folgenden Monaten gab es ausverkaufte Shows in New York und dem Londoner Wembley Stadium – und überall spürte man diese grenzenlose Zuneigung, mit der Styles geradezu überschüttet wird. Man sah sie in den Gesichtern der Fans – gleichgültig, ob sie ihn „seit einem, zwei, fünf oder zwölf Jahren“ unterstützen, wie er es bei fast jedem „Thank you“ zum Konzertende formuliert. Selbst zwischen den Auftritten hörte ich ihn fast überall – ob ich wollte oder nicht. „As It Was“ lief im Taxi, „Watermelon Sugar“ untermalte mein Frühstück, „Golden“ säuselte im Hintergrund, als ich einen Londoner Drugstore betrat, „Late Night Talking“ donnerte aus den Boxen einer Bar in Brooklyn – und veranlasste einen männlichen Besucher zu dem Bekenntnis: „Ich geb’s offen zu: Ich mag Harry Styles!“
Er war 2022 praktisch überall – was es umso erstaunlicher macht, dass er mir just in dieser Minute in der Suite eines Hamburger Hotels gegenübersitzt. Nach einem morgendlichen Bad in der Irish Sea war er nach Hamburg geflogen, um seine erste Europa-Tournee seit 2018 mit einem raren Day-off fortzusetzen.
Vis-a-vis sieht er eher so aus wie der nette Bruder deines besten Freundes – und nicht wie die internationale Stil-Ikone, die sich allen sexuellen Zuordnungen entzieht. Er hat die Federboas und Pailetten-besetzten Overalls diesmal im Kleiderschrank gelassen und stattdessen Adidas-Jacke, Turnhose und Gucci-Sneakern den Vorzug gegeben. Seine Haare, die oft mit dem Wort „zerzaust“ beschrieben werden, als wäre er der missratene Prinz eines schwülen Liebesromans –, hat er mit einer Haarspange gebändigt, die ein fester Bestandteil seines Tour-Lebens geworden ist.
„Mein Großonkel lebt hier in Hamburg. Er heiratete eine Deutsche – was zur Folge hat, dass ich heute eine deutsche Cousine habe“
Für ein Kind der Millennials-Generation ist Styles ein höchst untypischer Kandidat. Er lädt sein Smartphone in einer anderen Ecke des Zimmers auf und macht während unseres Gesprächs keine Anstalten, einen Blick aufs Display zu werfen; er lässt den Augenkontakt nie abreißen, während er im verschlafenen Englisch seine Gedanken zu ordnen versucht; er ist fast schon Zen-like, in jedem Fall aber stoischer als der gutmütige Klassenclown, als den wir ihn vor zwölf Jahren in One Direction kennenlernten. Gleichzeitig ist er so charmant und leutselig wie immer, ja erinnert sich sogar an Details unserer Smalltalks, die wir zu einem früheren Zeitpunkt führten. Er scheint ernsthaft wissen zu wollen, wie ich meine Zeit in Hamburg zu verbringen gedenke und wie der Redaktionsschluss einer Zeitschrift funktioniert. Kurz zuvor in New York, als ich ihn bei einem Spotify-Event zum Album-Release treffe, fragt er mich, was ich vom jüngsten David-Crosby-Album halte – das er anscheinend überaus schätzt.
„Mein Großonkel lebt hier in Hamburg“, erzählt er. „Er heiratete eine Deutsche – was zur Folge hat, dass ich heute eine deutsche Cousine habe. Als ich noch klein war, kamen sie uns immer in England besuchen. Das einzige englische Wort, das meine Cousine kannte, war ,Lemonade‘. Ich wusste aber nie, ob sie wirklich Limo meinte oder einfach nur irgendwas trinken wollte.“
Natürlich war nicht geplant, dass er Orte wie Hamburg erst im Sommer 2022 wieder ansteuern würde. (Am Tag nach unserem Treffen wird er vor über 50.000 Fans im Volksparkstadion auftreten.) „Love on Tour“, wie seine jüngste Weltreise heißt, sollte ursprünglich im Frühjahr 2020 beginnen – ein paar Monaten nach Veröffentlichung seines zweiten Albums „Fine Line“. Die Götter und Viren hatten andere Pläne.
Obwohl er erst im letzten Herbst wieder auf die Bühne konnte, hatte es zwischenzeitlich aber durchaus positive Entwicklungen gegeben: „Fine Line“ hatte die Single „Watermelon Sugar“ abgeworfen, die sein erster Nummer-eins-Hit werden sollte. Der Song war so nett und gutgelaunt, dass man dabei leicht überhören konnte, dass der Inhalt durchaus delikat war: Es ging um Cunnilingus. Knapp ein Jahr später gewann er damit sogar einen Grammy.
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Als die Pandemie nur noch schlimmer wurde, verkroch sich Styles nach L.A. (wo er schon früher einmal seine Zelte aufgeschlagen hatte) und zog mit drei Freunden zusammen. „Wir gingen zusammen spazieren, kochten, wuschen den Salat …“, bis er sich entschloss, die üppige Freizeit sinnvoller zu nutzen. Er schrieb neue Songs – und da das Shangri-La, Rick Rubins Malibu-Studio, gerade ungenutzt war, zog er mit seinen Produzenten/Co-Schreibern Kid Harpoon und Tyler Johnson gleich ein. „Wir wussten anfangs nicht so recht, was wir hier überhaupt wollten“, so Styles, „aber wenn man eh nur zu Hause dumm rumsitzt, kann man sich die Langeweile auch mit etwas Musik vertreiben.“
Bevor sie sich versahen, kristallisierte sich „Harry’s House“ heraus – eine entwaffnend ehrliche Selbstreflektion, die sich aber gleichzeitig auch als perfektes Radiofutter erwies. Der auslösende Funke des Albums war „Hosono House“, ein Album des Yellow-Magic-Orchestra-Musikers Haruomi Hosono von 1973, das er kennengelernt hatte, als er sich vor Jahren einmal länger in Japan aufgehalten hatte. Styles behandelte die Songs, als seien es innere Monologe, mit denen er einen Tag in seinem Leben beschrieb.
Als der Flugverkehr wieder aufgenommen wurde, nahm er einen Flieger nach London, setzte sich wenig später in den Wagen seines verstorbenen Stiefvaters und kurvte mit einem Freund durch Italien. Er hörte sich die Jazz-CDs an, die er im Wagen fand, besuchte den Trevi-Brunnen – vermutlich mit dem „Covid-Schnurrbart“, den er sich während der Pandemie zugelegt hatte – und wurde dort nur von vier Leutchen angesprochen, die den prominenten Besucher trotzdem erkannten. „Man hatte eigentlich jeden Tag das Gefühl: ,Ist schon eine verrückte Zeit, was?‘ – nur um sich dann selbst die Frage zu beantworten: ,Mein Gott, das darf doch alles nicht wahr sein! Man dreht inzwischen komplett durch.‘“
Er bedankt sich bei Wohngenossen, Freunden und Mitarbeitern, ihn sicher durch diese Phase gelotst zu haben. „Allein wäre ich schwer ins Schleudern gekommen“, sagt er und verweist auf die „Harry, you’re no good alone“-Zeile aus „As It Was“. Nach Italien besuchte er Freunde in Frankreich, um sich dann wieder an die Arbeit zu machen und im Real World Studio im englischen Bath Quartier zu beziehen. Als er sich schließlich wieder auf den Weg machte, um die verschobene „Fine Line“-Tournee auf den Weg zu bringen, war „Harry’s House“ praktisch im Kasten.
Von den zwischenzeitlichen Singles und einer Welt-Tournee abgesehen, gibt es aber noch andere Indizien, dass sein Ruhm neue Höhen erreicht hat. Er hat inzwischen nicht nur eigene Hautpflege-Produkte, einen Nagellack, eine Kleiderkollektion namens Pleasing und eine Mode-Coop mit Gucci, sondern auch eine überaus vielversprechende Filmkarriere. Er übernahm Hauptrollen im Psychothriller „Don’t Worry Darling“ und dem Beziehungsdrama „My Policeman“ – und unterschrieb einen Vertrag bei Marvel, um zumindest in einem der geplanten „Eternals“-Filme den göttlichen Eros zu spielen. „Absolut alles, was mir heute widerfährt, empfinde ich als eine unerwartete Zugabe“, versucht er sich an einer Erklärung. „Ich hatte keine Erwartungen, die über ,X-Factor‘ hinausgingen (die britische Talentshow, die zur Gründung von One Direction führte – Red.) ,Stell dich vor die Kamera und sing einfach drauflos!‘ Ich hätte nicht im Traum damit gerechnet, was sich aus diesem Auftritt alles entwickeln könnte.“
„Es ist wirklich unnatürlich, vor so vielen Leute zu stehen und diese Emotionen zu spüren. Indem man sich wäscht, reduziert man sich auf sein nacktes Ich. Man ist letztlich so nackt und verwundbar wie ein neugeborenes Baby“
Und doch gibt Harry Styles sich redlich Mühe, im Strom der Ereignisse so was wie einen Sinn zu finden. Er grübelt über das Wesen von Liebe, Scham und Ehrlichkeit, den Stellenwert von Anstand und Freundlichkeit oder die Bedeutung der Therapie, der er sich nach dem Ende von One Direction unterzog – auch wenn er sich anfangs dagegen sträubte. Er macht sich durchaus auch Sorgen. Er fragt sich, wie er einer der größten Popstars des Planeten sein kann, dem die Bedürfnisse seiner Fans am Herzen liegen, gleichzeitig aber auch ein guter Sohn, Bruder, Freund und Partner für all jene, die ihm auf seinem Weg geholfen haben. Während die Dimensionen um ihn herum immer größer werden, träumt Harry Styles lieber von einem bescheideneren Rahmen – einem kleineren Leben, das ihn nicht individueller und elementarer Erfahrungen beraubt.
Als er im Juni zwei ausverkaufte Konzerte im Londoner Wembley-Stadion gab, ging er nach der Show umgehend unter die Dusche. Es war ein Reflex, der längst ein liebgewordenes Ritual geworden ist. Sicher, nach einem schweißtreibenden Konzert stellt man sich schon aus hygienischen Gründen unter die Dusche, doch für Styles bedeutet es mehr. Es ist ein Moment der Klarheit und Reflexion, ein absolut notwendiger Akt, um die grenzenlose Begeisterung von Fans abzuwaschen, die nichts mehr wünschen, als in seiner Nähe zu sein. Jeder würde von dieser Erfahrung überwältigt werden. „Es ist wirklich unnatürlich, vor so vielen Leute zu stehen und diese Emotionen zu spüren“, sagt er. „Indem man sich wäscht, reduziert man sich auf sein nacktes Ich. Man ist letztlich so nackt und verwundbar wie ein neugeborenes Baby.“
Die beiden Wembley-Duschen erwiesen sich dabei als besonders hilfreich. Als One Direction – die er immer nur „the band“ nennt – 2014 hier auftraten, plagte Styles eine Mandelentzündung. „Mir war zum Kotzen“, erinnert er sich. „Nach der Show kletterte ich in den Wagen und heulte wie ein Schlosshund, weil ich so enttäuscht war.“
Seine Solo-Shows in Wembley waren nicht nur musikalisch weitaus befriedigender, sondern gleichzeitig auch so etwas wie eine Reunion. Familien-Angehörige wie Mutter Anne Twist und Schwester Gemma waren hier, Olivia Wilde und ihre beiden Kinder, Freunde und die Mitarbeiter seines Teams, die alle ausgelassen im Publikum tanzten. Selbst der alte Band-Kollege Niall Horan schaute vorbei und grinste breit übers Gesicht, als auf der Bühne „What Makes You Beautiful“ angestimmt wurde.
Styles‘ Bedürfnis nach Privatleben – der instinktive Wunsch, das „neugeborene Baby“ vor schädlichen Einflüssen zu schützen – scheint mit den Jahren eher noch gewachsen zu sein. Die Konsequenz, mit der er seine Privatsphäre verteidigt, hat ihm zumindest dabei geholfen, neugierige Fragen nach seinem Sexleben ins Leere laufen zu lassen – obwohl ihm diese Fragen schon seit Ewigkeiten gestellt werden. In den vergangenen Jahren ist er dazu übergegangen, regelmäßig mit einem Therapeuten zu sprechen. „Ich nahm mir vor, ihn einmal pro Woche zu besuchen“, sagt er. „Wenn ich jeden Tag meinen Körper trainiere – warum sollte ich dann nicht auch regelmäßig etwas für meinen Kopf tun?“
Durch die Gespräche lernte er Teile seiner Persönlichkeit kennen, die ihm bislang fremd waren. „So viele unserer Emotionen sind uns unerklärlich, bis wir sie angemessen analysieren. Ich schätze es inzwischen, einem Gefühl direkt in die Augen zu schauen – nicht böswillig wie: ,Zum Teufel mit diesem Gefühl!‘, sondern eher neugierig wie: ,Ich frage mich, warum ich gerade so drauf bin?‘“
Ein Gefühl, das er so nötig brauchte wie einen Kropf, war die Art von Scham, die neugierige Fragen nach seinem Sexleben ausgelöst hatten, kaum dass er in geschlechtsreifem Alter war. Im Lauf der Jahre lernte er, sich von diesen Fragen nicht mehr einschüchtern zu lassen. Er weiß, dass er Anrecht auf eine Privatsphäre hat, ohne deswegen gleich als unsensibler Mensch wahrgenommen zu werden.
Und trotzdem macht er sich manchmal Gedanken, ob es nicht Heuchelei ist, sich derart von der Öffentlichkeit abzusondern. Für seine Fans, die ihm am liebsten ihr Herz ausschütten würden, sind seine Shows eine kathartische Erfahrung geworden. Vielen von ihnen hat er den Mut gegeben, sich vor ihren Eltern zu outen, hat heiratswillige Paare auf die Bühne geholt oder die Mini-Version einer Gender Reveal-Party organisiert.
Insofern fiel es ihm nie leicht, sein privates Leben von dem des Performers zu trennen. „Wenn ich arbeite, arbeite ich hart und versuche so professionell wie möglich zu sein“, sagt er. „Arbeite ich nicht, rücken andere Charakterzüge in den Vordergrund. Ich bilde mir ein, für alles offen zu sein. Manchmal kann ich dickköpfig sein, bin aber in jedem Fall dazu bereit, meine eigene Verletzlichkeit zu zeigen. Ich habe schon auch eine selbstsüchtige Seite, halte mich unterm Strich aber doch für eine mitfühlende Person.“
Er hält eine halbwegs harmonische Balance für möglich, glaubt aber auch, dass man dazu saubere Trennungslinien ziehen muss. „Ich habe über mein privates Leben nie öffentlich gesprochen und glaube, dass diese Entscheidung sehr hilfreich war“, sagt er, möglicherweise präventiv, um meine Neugier im Keim zu ersticken. „Es gibt immer Meinungen und Theorien, die sich in der Öffentlichkeit bilden und verfestigen, aber ich verschwende meine Zeit nicht damit, sie zu leugnen oder gar zu kommentieren.“
„Wenn jemand ein Foto von dir mit einer Frau macht, heißt das noch lange nicht, dass man auch eine Beziehung zu dieser Person hat“
Die Konsequenz, mit der er sein Privatleben abschirmt, hat der Neugier natürlich nur noch weiter Auftrieb gegeben. Seine Sexualität etwa ist ein Thema, das schon seit Jahren für hitzige Diskussionen sorgt. Wie schon Mick Jagger und David Bowie vor ihm, benutzt auch Styles modische Statements, um eine vage sexuelle Ambivalenz zu suggerieren. Es sei vorsintflutlich, sagte Harry Styles oft, eine individuelle Existenz auf Etiketten und Schubladen reduzieren zu wollen. Kritische Stimmen warfen ihm darauf „queerbaiting“ vor, also den Versuch, mit einer „queeren“ Ästhetik möglichst viele Anhänger*innen in den verschiedensten Lagern zu finden, ohne sich für eine Community entscheiden zu müssen. Seine Verteidiger wiederum weisen darauf hin, dass es ein Unding sei, einem Künstler nur dann kreative Freiheit einzuräumen, wenn er sich vorher auf seine sexuelle Identität festgelegt habe.
Styles hat in dieser Diskussion seinen ganz eigenen Standpunkt. Ohne dass ich ihn darauf ansprechen muss, gibt er zu Protokoll, dass er einige Argumente einfach lächerlich findet. „Viele Leute sagen mir: ,In der Öffentlichkeit sieht man dich immer nur mit Frauen.‘ Ich halte dagegen, dass ich mich in der Öffentlichkeit mit niemandem zeige. Wenn jemand ein Foto von dir mit einer Frau macht, heißt das noch lange nicht, dass man auch eine Beziehung zu dieser Person hat.“
Es ist eine Aussage, die in jüngster Zeit allerdings zunehmend unglaubwürdiger wird. Wo immer er aufkreuzt, ist auch Olivia Wilde zur Stelle. Die beiden trafen sich erstmals am Set des Films „Don’t Worry Darling“, bei dem sie Regie führte (mehr dazu später), und sorgten dann für Aufsehen, als sie händchenhaltend von Paparazzi abgelichtet wurden. Im Januar ‘21 hatten sie beide die Hochzeit von Jeffrey Azoff besucht, der nicht nur Styles‘ Manager, sondern auch einer seiner besten Freunde ist.
Schrille Töne hingegen kamen aus Teilen von Styles‘ weiblicher Gefolgschaft, die sich über Wildes entrückte Dance-Moves lustig machen oder TikTok-Videos in Umlauf bringen, in denen eine junge Olivia Wilde wenig sensible Witze erzählt. Wer sich einmal als Harry Styles‘ Freundin zu erkennen gibt, wird damit rechnen müssen, von einem Teil seiner weiblichen Gefolgschaft nicht gerade mit Liebe bedacht zu werden.
Styles ist kein sehr aktiver Social-Media-User – er nutzt Instagram nur für Posts über Pflanzen und Architektur, hat sich noch immer nicht die TikTok-App runtergeladen und bezeichnet Twitter als einen „Shitstorm von Leuten, die andere Leute zu erniedrigen suchen“ –, ist aber doch informiert über die toxischen Ergüsse, die im Internet auf der Tagesordnung stehen. „Natürlich finde ich so was nicht lustig“, sagt er vorsichtig, als ich ihn auf die dunklen Nischen des Netzes anspreche. Über dieses Thema zu sprechen, scheint für ihn ein Drahtseilakt zu sein: Er möchte an das Gute in seinen Fans glauben, mag aber auch nicht leugnen, dass es in jeder größeren Online-Community Fraktionen gibt, die von Hass und Anonymität gespeist werden.
„Es muss schon ein komisches Gefühl sein, mit mir liiert zu sein. Man zahlt einen hohen Preis“
Und selbst wenn ihm die Grenzlinie zwischen seinem öffentlichen und privaten Leben heilig ist, „kann ich nicht verhindern, dass andere Leute diese Linie verwischen“. Es gibt daher für ihn ein Gespräch, das er am Anfang einer jeden Beziehung führen muss – egal, wie bizarr und voreilig dieses Gespräch auch sein mag. „Man stelle sich die Situation nur einmal plastisch vor. Man lädt jemanden zum zweiten Mal zum Essen ein und sagt: ,Okay, es gibt da einen kleinen Haken. Im Internet werden sie die tollsten Sachen über uns erzählen, wirklich verrückte Sachen, bösartige Sachen – auch wenn nichts davon wahr ist … Davon abgesehen: Weißt du schon, was du heute Abend essen willst?‘“
Auch wenn er sich damit tröstet, dass die überwältigende Mehrheit seiner Fans alles andere als bösartig ist, fragt er sich schon, wie er mit dem Problem umgehen soll, wenn die schrillen Töne zu laut werden sollten. „Es muss schon ein komisches Gefühl sein, mit mir liiert zu sein. Man zahlt einen hohen Preis. Man muss damit rechnen, aus irgendeiner Ecke von Twitter mit Schmutz beworfen zu werden.“ Er schüttelt den Kopf. „Als ich erstmals auf eine Bühne kam, wollte ich doch nur singen. Ich wollte nicht in eine Geschichte verwickelt werden, mit der ich meinen Freunden nur wehtue.“
Als ich Wilde auf ihre Erfahrungen mit seinen Fans anspreche, gibt sie sich diplomatisch. Wie Styles glaubt sie an das kollektive Gute und nennt sie „deeply loving people“, die eine einzigartige Community gebildet hätten. „Und was Sie da über diese Grausamkeit im Internet erzählen … Diese toxische Negativität ist doch das genaue Gegenteil von Harry und allem, für das seine Musik steht. Ich glaube nicht, dass dieser Hass in irgendeiner Form seine Fangemeinde erreicht. Die meisten von ihnen sind doch die Menschenliebe in Person.“
Styles spielte seine erste Hauptrolle, als er vier Jahre alt war. Es war eine Theateraufführung mit dem Titel „Barney The Church Man“. Wenig später mimte er Buzz Lightyear in „Chitty Chitty Bang Bang“ („weil es aus unerfindlichen Gründen eine Buzz-Lightyear-Puppe in unserem Spielzeugladen gab“). Weitere frühe Theaterrollen umfassten Razamatazz in „Bugsy Malone“ („Ich war der Bandleader“) und den Elvis-inspirierten Pharao in „Joseph And The Amazing Technicolor Dreamcoat“. (Jahre später bot er sich auch für den „Elvis“-Film von Baz Luhrmann an, wurde vom Regisseur aber abgelehnt, weil sein eigener Kultstatus schon als störend empfunden wurde.)
Davon abgesehen gehörte die Schauspielerei aber nicht zu seinen Ambitionen. Er mochte sie durchaus, bekam aber einen weit größeren Kick, als er mit seiner Band White Eskimo auf die Bühne ging. Gleich bei ihrem ersten Auftritt gewannen sie einen Wettbewerb – und Styles hatte den Eindruck, als sei „ein Schalter angeknipst“ worden. Plötzlich waren es die Lehrer, die zu ihm aufschauten – und nicht andersherum. „Ich war wohl ein kleiner Wichtigtuer“, sagt er mit einem verschämten Grinsen. „Was aber natürlich nur auf die Vergangenheit zutrifft.“
Nichtsdestotrotz übernahm er 2017 eine kleine Rolle in Christopher Nolans Kriegsdrama „Dunkirk“, obwohl er zu diesem Zeitpunkt gerade die Veröffentlichung seines Debütalbums vorbereitete. (Erst später, so Nolan, sei ihm bewusst geworden, wie populär Styles zu diesem Zeitpunkt schon war.) Als Marvel ihn für die Rolle des Eros verpflichtete, hatte sich Regisseurin Chloé Zhao schon festgelegt, dass sie sich niemand anderen für die Rolle vorstellen könne. In den Comicstrips ist Eros der etwas waghalsigere Bruder von Thanos – ein intergalaktischer Playboy mit übermenschlichen Kräften und der Fähigkeit, die Gefühle von Menschen zu steuern. (Eine Rolle, die dem vielleicht angesagtesten Popstar auf diesem Planeten natürlich auf den Leib geschneidert ist.) Marvel-Boss Kevin Feige ließ unlängst durchblicken, dass die Zusammenarbeit langfristig sein werde, doch das erste greifbare Resultat war bisher nur der Mini-Auftritt im Abspann der „Eternals“, mit dem er in die Gilde der Götter eingeführt wird. „Es wäre schon seltsam, wenn danach nicht noch mehr kommen würde“, scherzt er, will sich aber weiter nicht äußern.
Es war seine Rolle in „Dunkirk“, die Wilde auf Styles aufmerksam werden ließ. Sie bereitete gerade „Don’t Worry Darling“ vor und sah in ihm die Idealbesetzung für „Jack“, einem charmanten, doch undurchsichtigen Ehemann, der vor seiner Ehefrau Alice (von Florence Pugh gespielt) offensichtlich Geheimnisse hat. Styles wiederum hatte Gründe genug, um sich seinerseits für „Don’t Worry Darling“ zu interessieren: Nachdem Wildes Regie-Erstling „Booksmart“ mit Lob überschüttet wurde, hatten sich 18 Filmstudios dabei überboten, „Don’t Worry Darling“ produzieren zu dürfen.
Doch die Prä-Covid-Gespräche zwischen Styles und dem „Darling“-Team verliefen im Sand, da er zu diesem Zeitpunkt noch davon ausgehen musste, 2020 fast ausschließlich auf Tournee zu verbringen. Stattdessen bekam Shia LaBoeuf den Zuschlag für die Rolle, doch auch diese Besetzung war nicht von Bestand: Weil er sich angeblich auf dem Set danebenbenommen hatte, zeigte ihm Wilde im Spätsommer 2020 die Rote Karte.
„Um ehrlich zu sein“, so Styles, „hätte ich zu diesem Zeitpunkt liebend gern wieder vor der Kamera gestanden.“ Zusammen mit seinen Quarantäne-Buddys hatte er Monate damit verbracht, sich einen Film nach dem anderen anzuschauen. Favoriten wie den belgischen Streifen „The Broken Circle Breakdown“ sogar schon mehrfach. Oft warfen die Freunde Zettel mit Filmtiteln in einen Hut und bestimmten auf diese Weise, was als nächstes gesehen wurde. „Da es im Haus unterschiedliche Geschmäcker gab, musste man sich manchmal zwischen ,Parasite‘ und ,Coyote Ugly‘ entscheiden“, erinnert er sich lachend. Einen Monat vor Drehbeginn wurde bekanntgegeben, dass Styles die Rolle von LaBouef übernehmen würde.
Und es stellte sich schon bald heraus, dass er die perfekte Besetzung war für Ehemann Jack, der seine Frau in die abgelegene, fiktive US-Stadt Victory bringt, wo die Männer an einem geheimen Projekt arbeiten, von dem sie ihren Frauen nichts erzählen dürfen. Jack, der um Lob und Zuneigung seines Vorgesetzten buhlt, macht seinen Job anscheinend besonders gut und avanciert zum leuchtenden Vorbild. „Wir suchten nach einem Schauspieler, der Charme und eine natürliche Herzlichkeit besitzt“, so Wilde. „Die ganze Story funktioniert nur, wenn der Zuschauer diesem Jack uneingeschränkt glaubt.“
Styles drehte „Don’t Worry Darling“ zwischen September 2020 und Februar 2021 in Los Angeles und Palm Springs. Es waren schier endlose Monate, da Styles seit elf Jahren nicht mehr so lange an einem einzigen Ort gelebt hatte. Er spielte sogar mit dem Gedanken, sich für die Zeit der Dreharbeiten völlig von der Außenwelt zu verabschieden. Sollte er vielleicht auf ein altes Klapphandy umsteigen? Das Musikmachen für eine Weile vergessen? Die Realität eines Drehtages holte ihn schnell wieder ein. „Man kommt morgens an und muss dann 75 Prozent des Tages warten. Dann kommt zwangsläufig der Punkt, an dem man sich denkt: ,Hey, ich könnte jetzt auch mein Smartphone rausholen und meinem Kumpel eine kleine Nachricht schicken.‘“
Die Vorstellung, die Hauptrolle in einem Film zu übernehmen, in dem immerhin etablierte Stars wie Pugh, Chris Pine, Gemma Chan und Nick Kroll mitwirkten, hatte ihn zu Beginn der Dreharbeiten durchaus aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. „Wenn du auf der Bühne stehst und Musik machst, gibt es immer gleich eine spontane Reaktion“, sagt er. „Du beendest einen Song und das Publikum klatscht. Stehst du vor der Kamera und es heißt ,Klappe!‘, erwartet man zunächst, dass die Anwesenden ebenfalls klatschen. Tun sie aber nicht. Alle drehen sich um und gehen einer anderen Tätigkeit nach. Und man fragt sich unwillkürlich: ,Shit, war ich wirklich so schlecht?‘“ Die Arbeit eines Schauspielers erinnert ihn auch ein wenig an einen Session-Musiker: „Man ruft ihn rein, nimmt sein Solo auf und schickt ihn dann wieder nach Hause. Es sind andere, die die Einzelteile zusammensetzen und das Endprodukt machen.“
In diesem Fall aber sieht es ganz so aus, als habe die filmspezifische Schikane keinerlei Einfluss auf das Endprodukt gehabt: Er als auch Pugh werden bereits heute als aussichtsreiche Anwärter für die kommende Awards-Saison gehandelt. „Es gab eine Szene“, so Wilde, „die uns alle zu Tränen rührte.“ Während einer Firmen-Gala wird Jacks Promotion bekanntgegeben – „und die Szene ist geladen mit faschistischen Anspielungen und bedenklichen Exzessen männlicher Aggression. Zusammen mit Frank (Chris Pine) steht er auf der Bühne und schreit immer wieder diesen grässlichen Slogan heraus: ,Who’s world is it? Ours!‘ Es ist eine bedrückende Szene, der Harry aber eine unerwartete Intensität gab. Er hatte sich so sehr in seine Rolle hineingesteigert, dass er völlig unkontrolliert zu schreien begann.“
Chris Pine, so Wilde, habe wohl instinktiv gemerkt, dass Styles zur Höchstform auflief, und sich unauffällig in den Hintergrund verdrückt. „Der Kameramann folgte Harry, als er wie ein wildes Tier die Bühne auf und ablief. Wir alle saßen fassungslos vor dem Monitor. Ich glaube, dass selbst Harry von seinem Ausbruch überrascht war. Das sind die besten Momente im Leben eines Schauspielers: Wenn er so jenseits von Gut und Böse ist, dass er sich selbst nicht mehr an seine Performance erinnern kann.“
Bereits wenige Wochen später verließ Styles den Set, um mit den Dreharbeiten für „My Policeman“ zu beginnen, die sich als deutlich zivilisierter herausstellen sollten. Er hatte das Drehbuch ein Jahr zuvor gelesen und war von der Story so angetan, dass er Regisseur Michael Grandage kontaktierte und um ein Treffen bat. Als er bei Grandage aufkreuzte, stellte sich heraus, dass er jede Zeile seiner möglichen Rolle bereits auswendig kannte.
Styles spielt den Polizisten Tom, der sich von einem Museumsdirektor namens Patrick (David Dawson) angezogen fühlt. Da gleichgeschlechtliche Beziehungen im England der Fünfziger-Jahre noch verboten waren, ziehen beide heimlich zusammen. Gleichzeitig bittet Tom eine Lehrerin namens Marion (Emma Corrin), ihn pro forma zu heiraten. „Natürlich kann man heute kaum nachvollziehen, dass Schwulsein damals schlicht und einfach verboten war“, sagt Styles. „Ich denke, dass jeder – ich eingeschlossen – eine ganz eigene Entwicklung durchläuft, um sich mit seiner individuellen Sexualität anzufreunden.“ Für ihn ist „My Policeman“ primär eine menschliche Geschichte. „Es ist keine schwule Story mit Typen, die schwul sind. Es geht in meinen Augen um Liebe und die verpassten Chancen, einen Menschen zu lieben.“
Laut Styles wollte Grandage am Beispiel von Tom und Patrick auch herausarbeiten, wie eine schwule Beziehung tatsächlich aussieht. „Schwule Liebe wird in Filmen oft auf den nackten Sex reduziert und kehrt die Zärtlichkeit völlig unter den Teppich. Ich nehme mal an, dass dieser Film auch von vielen Leuten gesehen wird, die ihr Schwulsein damals noch verleugnen mussten. Michael wollte zeigen, dass es diese Zärtlichkeit und Intimität aber schon immer gab.“
„Ich mag die Schauspielerei, wenn sie mir spontan Spaß macht, kann mir aber nicht vorstellen, dass ich übermäßig lange in diesem Metier beschäftigt sein werde“
„Darling“ und „Policeman“ werden in den nächsten Wochen auf Filmfestivals in Venedig und Toronto uraufgeführt, doch Styles ist sich nicht einmal sicher, ob seine Romanze mit der Schauspielerei wirklich von Dauer ist. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich in absehbarer Zeit einen weiteren Film drehen werde.“ Es gibt Gerüchte, dass er sich zu mehreren Marvel-Filmen verpflichtet habe – und selbst andere Franchise-Filme sollen ihm angeboten worden sein. Das Gerücht, dass er auch in einem künftigen „Star Wars“-Film mitspielen werde, ist ihm allerdings gänzlich neu. „Das ist das erste Mal, dass ich davon höre. Sieht also ganz so aus, als sei das eine Ente.“
Er schließt hingegen nicht aus, mittelfristig wieder passende Angebote anzunehmen. „Die Zeit wird bestimmt kommen, in denen ich mich nach solchen Rollen sehne“, sagt er. „Aber wenn man Musik macht, spürt man, wie dieser kreative Funke überspringt und unerwartete Reaktionen auslöst. Die Filmerei hingegen besteht zu einem großen Teil aus Warten – was mich natürlich eher abstößt. Ich mag die Schauspielerei, wenn sie mir spontan Spaß macht, kann mir aber nicht vorstellen, dass ich übermäßig lange in diesem Metier beschäftigt sein werde.“
Wie ein echter zerzauster Märchenprinz lädt mich Styles dazu ein, gemeinsam mit ihm ein Konzert zu besuchen, das acht Stunden vor seinem eigenen Auftritt in der Hamburger Elbphilharmonie stattfindet. Der Grund für den Ausflug ist sein Interesse, die Stadt endlich einmal genauer kennenzulernen. „Ich komme oft in Städte und denke mir: ,Ich war jetzt schon sechs Mal hier, hab aber noch immer nichts von der Stadt gesehen.‘“ Auf dieser Tour gilt der Schwerpunkt seiner Neugier vor allem der Architektur. „Das ist ein Sightseeing-Programm, das ich auf eigene Faust arrangieren kann“, sagt er. „Ich setze mich einfach irgendwo hin und schaue mir Gebäude an.“
Das Interesse an architektonischen Details passt zu dem streng reglementierten Tagesablauf, den er sich auf Tourneen verordnet hat. Nach zehn Stunden Schlaf beginnt der Tag mit Infusionen, die Vitamine und Minerale in seinen Körper pumpen, gefolgt von einer strikten Diät, die nicht nur auf Kaffee und Alkohol verzichtet, sondern auch auf bestimmte Nährstoffe, die die Stimmbänder beeinträchtigen könnten, wegen derer schließlich 50.000 Zuschauer kommen. Zwei Luftbefeuchter unterstützen diese Bemühungen, haben aber auch einen unübersehbaren Nachteil: Als er morgens aus seinem Hotelzimmer tritt, sieht er so aus, als käme er gerade aus einem Dampfbad.
Die Elbphilharmonie ist ein beeindruckendes Gebäude am Hafen, das mit seinen Konturen ein aufgeblähtes Segel zu imitieren scheint. Styles trägt heute das gleiche Outfit wie gestern, hat die Shorts aber gegen eine gestreifte Hose ausgetauscht und eine Covid-Maske angelegt. Wir kommen zu spät und können die Halle erst in der Pause betreten, nutzen aber die Zeit, um den Backstage-Bereich zu erkunden und mit dem Fahrstuhl in die oberen Etagen zu fahren, die ein atemberaubendes Panorama liefern. Styles saugt alles begeistert in sich auf.
Wir kommen in einen klimatisierten Raum, in dem diverse Pianos untergebracht sind. Er fragt unseren überforderten Tour-Guide, welches wohl das beste ist („Gibt‘s eins, das alle anderen aussticht?“), setzt sich dann aber gleich ans nächste und spielt für ein paar Minuten Beatles-inspirierte Melodien. (In unserem gestrigen Gespräch erwähnte er bereits, dass er zeitweise die Angewohnheit hatte, seinen Morgenkaffee am Klavier einzunehmen.) Er interessiert sich selbst für kleinste Details, bewundert die Holzverkleidung des Raumes und macht – ganz der Tourist – von allem ein Foto.
Schon als ich Styles erstmals begegnete, hatte ich einen ähnlichen Eindruck von ihm gewonnen. Vor einem Auftritt in San Francisco, auf seiner ersten Headliner-Tour durch die USA 2017, war ich hinter die Bühne gegangen, um ein Interview mit Kit Harpoon zu führen. Styles stolperte in den Raum und sah eher aus wie ein Lichttechniker als wie der Headliner, der gerade vor dem Halleneingang einen Menschenauflauf ausgelöst hatte. Er war offensichtlich ein Typ, der sich so entspannt und ungezwungen verhält, dass seine Nonchalance einen geradezu unwiderstehlichen Charme hat. (Schaut man sich auf YouTube ein Video mit den witzigsten Interviews von One Direction an, stellt sich wohl jedes Mädchen die Frage, wie viele Pappaufsteller dieser süßen Typen in ihr Schlafzimmer passen.) Er begrüßte mich, als sei ich ein alter Freund – obwohl ich insgeheim noch immer ein Fan seiner alten Band war, der sich um nichts in der Welt von dem geliebten One Direction-Schlüsselbund trennen wollte. Er fragte mich, wie‘s mir ginge, was ich in San Francisco so mache und ob ich mich schon auf die Show freue. Natürlich genoss ich jede Sekunde.
„Wenn man sich ständig einredet, keinen Ort mehr zu besuchen zu können, ohne einen Tumult auszulösen, wird man nie mehr einen Schritt vor die Tür setzen“
Styles hat die seltene Begabung, jeden in seiner Umgebung aufblühen zu lassen. All die Fans, die ihm zufällig im Central Park oder auf Hampstead Heath begegnen, werden das bestätigen können. Sie werden sich an jedes noch so kleine Detail erinnern und davon schwärmen, als hätten sie gerade den Papst getroffen. (Wobei nicht jeder unbedingt von einem Papst-Treffen schwärmen würde.)
Als wir durch die Menge schlendern, die sich zur Pause in den Gängen der Elbphilharmonie gebildet hat, wird Styles von niemandem erkannt. (Die Gesichtsmaske hilft.) Es ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit sich einer der größten Popstars seinen Weg durch die Besucher bahnt – ganz so, als habe er sich das magische Cape übergestülpt, das ihn unsichtbar macht. „Wenn man sich ständig einredet, keinen Ort mehr zu besuchen zu können, ohne einen Tumult auszulösen, wird man nie mehr einen Schritt vor die Tür setzen“, sagt er. „In London bin ich ständig zu Fuß unterwegs. Man stolpert nicht zufällig über Restaurants oder andere interessante Dinge und Plätze, wenn man nur im Auto sitzt. Diese Art von Leben macht einfach keinen Spaß.“
Auf meine Frage, wie seine nähere Zukunft aussehen wird, gibt er mir einen Einblick in seinen Terminkalender. Im August, wenn seine Europa-Tournee in Lissabon zu Ende geht, will er mit ein paar Freunden Urlaub machen, sich dabei vielleicht die Folgen von „Love Island“ anschauen, die er zähneknirschend verpasst hat, vielleicht auch auschecken, ob die neue TV-Serie „The Bear“ wirklich die begeisterten Reviews verdient hat. Der nächste Abschnitt seiner Tour umfasst dann Stationen in Los Angeles, New York, Austin und Chicago, wo er allerdings mehrfach in einer Stadt auftreten wird. Diese „residencies“ sind ein Arrangement, das seinem Wunsch nach einem entspannteren Tour-Schedule entgegenkommt. Obendrein habe er auf diese Weise eher die Möglichkeit, Filmfestivals zu besuchen oder Studios zu buchen, in denen er tagsüber an neuer Musik arbeiten kann. „Ich bin ständig am Schreiben“, sagt er. Zusammen mit seinen engsten Getreuen bastelt er schon an konkreten Ideen fürs nächste Album. „Wir alle sind schon richtig heiß darauf, neues Material einzuspielen – auch wenn das etwa seltsam klingt, da wir schließlich gerade erst ein Album veröffentlicht haben.“
Mehr denn je scheint er sich mit seiner Zukunft zu beschäftigen. Irgendwann einmal möchte er sich längerfristig von der Bühne verabschieden, um mehr Zeit für Familie und Freunde zu haben. (Songs schreiben will er aber auch weiterhin.) In der Zwischenzeit, sagt Styles, habe er nämlich gelernt, was Liebe wirklich bedeutet. „Die idolisierte Vision oder Fantasie, die Fans von einem haben, scheint zu suggerieren, dass die betreffende Person keine Fehler hat. Was ich aber am meisten an meinen Freunden schätze, ist die Tatsache, dass sie mir meine Schwächen nachsehen. Ich kann manchmal ganz schön von der Rolle sein und dumme Fehler machen. Und deshalb ist es für mich der wahre Beweis von Zuneigung, wenn jemand die Defizite seines Gegenübers sieht und sagt: ,Ich liebe dich nicht trotz deiner Fehler, sondern gerade weil du so bist, wie du bist.‘“
Ich frage ihn, wie er wohl seine Vaterrolle angehen würde, wenn er eines Tages selbst Kinder haben würde. „Sollte der Fall je eintreten“, sagt er, „würde ich sie in jedem Fall dazu ermutigen, ihre Individualität zu feiern, Mut zur eigenen Verletzlichkeit zu haben und über alles offen zu reden.“
Er denkt auch darüber nach, was er heute selbst sagen möchte. Er räumt ein, sich als Teenager nicht für Politik interessiert zu haben: Alles, was ihn nicht privat tangierte, sei an ihm abgeprallt. Mit wachsender Popularität sei ihm diese Haltung aber nun fragwürdig, ja unheimlich geworden. „Ich nahm mich kritisch unter die Lupe und stellte fest: ,Du tust nicht genug, du engagierst dich zu wenig.‘“ Als die „Black Lives Matter“-Diskussionen in den USA ihren Höhepunkt erreichten, sei er selbst auf die Straße gegangen und habe Bücher wie „How To Be An Anti-Racist“ von Ibram X. Kendi oder „The Will To Change“ von Bell Hooks gelesen. Er habe verstärkt über die Ungleichheit in der Gesellschaft nachgedacht, ob durch Hautfarbe oder Geschlecht bedingt, und sich gefragt, inwieweit auch seine eigenen Entscheidungen davon betroffen waren. Es sind schließlich eine Menge Menschen, die in seinem Tross sind, wenn er auf eine Tournee geht. „Sich als Weißer einzureden, dass man nicht einen Startvorteil hat, deckt sich nicht mit der Realität.“
Wir sprachen über diese Themen zu einem Zeitpunkt, als der US-Supreme Court gerade „Roe v. Wade“ revidiert hatte und damit Abtreibungen gravierend erschwerte. „Ich kann mir die Agonie nicht einmal ansatzweise vorzustellen, die eine Frau in Amerika momentan durchlebt“, sagt er. Bei dem Hamburger Konzert sieht er im Publikum ein Poster mit den Worten „My Body, My Choice“, lässt es sich auf die Bühne bringen und zeigt es demonstrativ in die Runde. „Es gibt mir Hoffnung“, sagt er mir später, „dass es selbst im Rahmen dieser Tour genug Leute gibt, die sich mit dieser Botschaft identifizieren. Ich glaube, dass diese Generation weit weniger Angst hat als die Generation vor ihr. Diese Kids reden nicht nur über akute Missstände, sondern unternehmen auch etwas dagegen.“
Während wir noch darauf warten, dass in der Philharmonie der zweite Teil des Konzertes beginnt, beobachte ich ein paar jüngere Mädchen, die mit ihren Eltern gekommen sind. Ich frage ihn, inwieweit es wohl Überschneidungen gibt mit dem Publikum, das ihn heute Abend im Volksparkstadion erwartet. Er schaut sich um und studiert die überwiegend älteren Gesichter und sagt: „Weniger als ein Prozent. Und ich muss es wissen: Ich bin einer der wenigen, die beide Konzerte besuchen.“
Styles verfolgt aufmerksam die Performance des Orchesters. Als der Dirigent die Bühne verlässt, um dann unter tosendem Beifall zur Zugabe wiederzukommen, flüstert mir Styles zu: „Aufgepasst! Jetzt spielt er seinen größten Hit.“ Selbst wenn er nicht gerade vor 50.000 Fans auf der Bühne herumtobt, macht er sich noch immer die Mühe, zumindest seine Begleiterin zu unterhalten.
Wir verlassen die Halle, während die meisten Zuschauer noch klatschen. Styles schießt noch schnell ein paar Fotos vom Auditorium, bevor er sich auf den Weg macht, um den eigenen Auftritt vorzubereiten. Er wird sich auf der Bühne verausgaben und austoben – unablässig befeuert von den Schreien seiner jungen Fans, die jahrelang auf diesen Moment gewartet haben.
Und selbst nach dem Konzert werden noch Hunderte von ihnen vor dem Stadion stehen, sich gegenseitig in ihren Outfits fotografieren, sich durch die Tränen-, Schweiß- und Glitter-bedeckten Gesichter wischen und ihre nun ausgedienten Boas achtlos auf den Boden gleiten lassen. Im Licht ihrer Smartphones werden sie seine größten Hits für ihn singen – angefangen von One Directions „Night Changes“ bis hin zu „Falling“ von „Fine Line“.Und während das Echo noch durch die Stadt hallt, wird Harry Styles vielleicht schon unter der Dusche stehen, um die aufgewühlten Gefühle endgültig wegzuspülen.
- Styling by Harry Lambert for Bryant Artists
- Styling Assistants: Ryan Wohlgemut and Naomi Phillips
- Fashion Direction by Alex Badia. Production by James Warren for DMB Represents
- Hair by Matt Mulhall for Streeters
- Grooming By Laura Dominique for Streeters
- Set Design by David White For Streeters
- Bild 1: Vest and Skirt by Vivienne Westwood. Shoes by Erl
- Bild 3: Spread Vest By Vivienne Westwood
- Bild 4: Tank by Loewe. Suspenders, Stylists Own. Trousers by Gucci
- Neil Mockford /GC Images from Top: Rich Fury; Warner Bros.; Parista Taghizadeh / Amazon Content Services