Harry Nilsson: Leben und Tod eines Egozentrikers
Harry Nilsson prägte die 60er und 70er mit Songs wie „Everybody's Talkin'“ und „Without You“. ROLLING STONE erinnert an einen nonkonformen Singer-Songwriter.
Als Harry Nilsson am 15. Januar 1994 im Alter von 52 Jahren an Herzversagen starb, ging eine der wohl meistunterschätzten Stimmen des vergangenen Jahrhunderts von uns. Eigentlich aber war sie zu diesem Zeitpunkt schon längst verstummt. 14 Jahre war es her, dass Nilsson ein Album veröffentlicht hatte. „Flash Harry“ (1980) erschien außerdem nur auf dem europäischen Markt und nicht in seiner Heimat, den USA. Live-Shows gehörten für Harry Nilsson in den 90ern ohnehin der Vergangenheit an. Und doch reichten zehn Jahre zwischen 1967 und 1977, um zu beweisen, wozu er fähig war.
Neben Randy Newman oder Van Dyke Parks gehörte Nilsson zu einer seltenen Gruppe von Musikern, die im Fahrwasser der Beat-Ära der 60er trotz ihres Hangs zur Exzentrik ein Händchen für den Massengeschmack hatten – vielleicht auch gerade deswegen. „Im Falle des 1941 in Brooklyn geborenen Harry Nilsson geht das Exzentrische gerne mal Hand in Hand mit dem Egozentrischen“, schrieb Klaus Walter für den Bayrischen Rundfunk in einem Nachruf. „Nilsson singt gerne über Nilsson und Nilsson zitiert gerne Nilsson. Seine Fähigkeit zu einer eleganten Selbstironie verhindert, dass diese Egotrips selbstgefällig daherkommen.“
1941
Wer Harry Nilsson über sich selbst singen hören möchte, tut dies am besten auf „1941“ vom Album „Pandemonium Shadow Show“ (1967): „Well, in 1941, the happy father had a son, and by 1944, the father walked right out the door“. Weiter singt er über einen Clown, der den Protagonisten des Songs so sehr beeindruckt, dass er sich dem dazugehörigen Zirkus anschließt. Das Lied ist die Autobiographie eines Musikers, dessen Vater die Familie 1944 verließ, als der kleine Harry drei Jahre alt war – und dessen Großeltern als Zirkusartisten die Zuschauer mit ihrem Luftballett begeisterten. Harry Nilssons nächste Selbstreferenz, das Album „Aerial Ballett“, erschien 1968.
Zurück zu Harry Nilssons Kindheit im New Yorker Stadtteil Brooklyn. Während direkt vor dem Fenster die silbernen Waggons der New Yorker Hochbahn entlangratterten, entdeckte ein blasser Junge mit rötlichen Haaren in der heruntergekommenen Wohnung, dass er singen konnte. Um der finanziellen Misere seiner Familie zu entgehen, schickte man ihn regelmäßig nach Kalifornien zu Verwandten, wo er Gesangsunterricht von einem Onkel bekam.
Schließlich siedelte er ganz über und brach die Highschool nach der neunten Klasse ab. Nilsson verdiente sich als Teenager ein paar Dollar im Paramount Theatre in Los Angeles. Dann ein Job bei einer Bank, der er erfolgreich einen Schulabschluss vorgaukelte. Bereits in den frühen 60ern verstand Harry Nilsson etwas von Computern, deren Bedienung er beim Geldhaus übernahm. In einer Zeit, in der die Geräte für gewöhnlich ganze Etagen in Anspruch nahmen, bewies er, dass seine Intelligenz keine Frage von Schulnoten auf einem Blatt Papier waren. So sah es auch die Bank, die ihn nicht vor die Tür setzte, nachdem sie vom erdachten Schulabschluss erfuhr.
Nachts bei der Bank, tagsüber am Instrument
Wie so viele seiner Generation begeisterte sich Harry Nilsson Ende der 50er für Rock ’n‘ Roll, insbesondere für Ray Charles. Während er Nachtschichten in der Bank schob, verbrachte er die Tage mit Singen und Komponieren. Schon zu seiner Zeit im Paramount Theatre trat er außerdem mit seinem Freund Jerry Smith in kleinen Bars auf, in denen sie als Gesangsduo im Stil der Everly Brothers dem nacheiferten, was gerade angesagt war. Nilsson ging Klinken putzen, heuerte an bei Produzenten, Songwritern und Labels. Schließlich traf er 1962 auf den etablierten Songwriter Scott Turner, der ihm fünf Dollar für jedes Demo gab, das er einsang. Viele Jahre später wollte Turner diese Aufnahmen veröffentlichen, als Harry Nilsson längst berühmt war. Er kontaktierte ihn, um eine angemessene Gewinnbeteiligung auszuhandeln. Nilsson entgegnete, er sei ja schon für seine Arbeit bezahlt worden – fünf Dollar pro Song.
Er arbeitete sich hoch, von Session zu Session, von Gelegenheitsjob zu Gelegenheitsjob. Und tatsächlich stellte sich der Erfolg zeitnah ein. Bereits 1963 schrieb er Songs für Little Richard, der ihm mitteilte, er singe gute für einen weißen Jungen. Wiederum ein Jahr später stand Harry Nilsson mit Phil Spector im Studio, dem exzentrischen Egomanen, der mit George Martin und Brian Wilson das Dreigestirn der prägendsten Produzenten der Dekade bildete. 1966 erschien Nilssons Debüt-Album „Spotlight on Nilsson“, doch den Job bei der Bank gab er nicht auf. Die Erinnerung an die Mittellosigkeit wird dabei kein unwesentlicher Faktor gewesen sein.
Derek Taylor und die Beatles
Nach „Spotlight on Nilsson“ unterschrieb Harry Nilsson bei RCA Victor und nahm „Pandemonium Shadow Show“ auf. Zuvor waren seine Songs auf den Alben von Fred Astairre, Glen Campbell und den Yardbirds gelandet. Während sein zweites Album in der breiten Masse wenige interessierte und zum finanziellen Flop wurde, schlug es in Kreisen der Musikindustrie umso höhere Wellen. Das Songwriting und Nilssons Stimme über drei Oktaven beeindruckte Produzenten, Agenten und Manager, darunter Derek Taylor, der als Presseagent für die Beatles arbeitete. Taylor kaufte gleich einen ganzen Stapel Pressungen von „Pandemonium Shadow Show“. Er verteilte die Platten an Freunde und Bekannte. Zwei dieser Alben landeten in den Händen von Paul McCartney und John Lennon, die sich in kürzester Zeit als Nilsson-Fans outeten.
Sowohl „1941“ als auch „You Can’t Do That“ hinterließen einen bleibenden Eindruck, wobei letzterer Song eigentlich aus der Feder von Lennon selbst stammte. Zunächst als B-Side von „Can’t Buy Me Love“ und später auf „A Hard Days Night“ (1964) erschienen, übernahm Harry Nilsson die Musik und zitierte über zwanzig weitere Beatles-Songs in den Lyrics. Als McCartney und Lennon bei der Pressekonferenz zur Ankündigung von Apple 1968 gefragt wurden, welche amerikanischen Künstler sie derzeit für besonders erwähnenswert hielten, antworteten beide: „Nilsson“. Den Computer-Raum der Bank in Los Angeles betrat Harry Nilsson danach nicht mehr.
„Everybody’s Talkin’“
Nilsson lehnte Tournee-Angebote in stringenter Regelmäßigkeit ab (was er später als großen Fehler bezeichnete) und widmete sich weiter der Arbeit im Studio. Auf „Aerial Ballett“ erschien wenig später der Fred-Neil-Song „Everybody’s Talkin’“, der erst dann zum Hit wurde, als er im Film „Midnight Cowboy“ (1969) zu hören war und Nilsson seinen ersten Grammy einbrachte. Wie sehr der Interpret dazu im Stande war, auch selbst großartige Songs zu schreiben, zeigt „One“. „Ein klassischer Trennungsschmerzsong im Gewand einer mathematischen Reflexion“, nennt Jens Balzer das Stück mit seiner berühmten Eröffnungszeile: „One is the loneliest number“.
Die einsamste Zahl, stets bei sich selbst. Eine abermalige Selbstreferenz? In jedem Fall hörte Harry Nilsson selten auf das, was ihm die Funktionäre der Musikindustrie hinter ihren Schreibtischen ins Ohr flüsterten. Mit Zeilen wie „I sang my balls off for you, baby“ empörte er die zarten Gemüter konservativer Vorstadtkids, die er durch seine romantischen Songs eigentlich zu seiner Kernzielgruppe zählte. Harry Nilsson war es egal. Auf „Son of Schmilsson“ (1972) und „A Little Touch of Schmilsson in the Night“ (1973) stellte er Eigensinn über Profitaussicht, künstlerischen Ausdruck über Konformität.
Lost Weekends
Als John Lennon und Yoko Ono 1974 getrennte Wege gingen, trafen sich der Beatle und sein alter Freund in Los Angeles. Die Zeit, die sie eigentlich am nächsten Nilsson-Album verbringen sollten (Lennon als Produzent), investierten sie stattdessen in Saufgelage, die als Lost Weekends in Erinnerung bleiben. Mit Alice Cooper und Keith Moon ruinierten sie sich ihre Stimmbänder und wurden medienwirksam im Suff aus Clubs wie dem Troubadour geworfen. Als Ergebnis stand schließlich „Pussy Cats“, ein Album, das zu Nilssons Lebzeiten als unangenehmer Fehltritt galt und erst viele Jahre später rehabilitiert wurde. „Die meisten Kritiker sehen in diesem Album nicht mehr als ein paar gesammelte Dummheiten von nicht mehr so ganz kleinen Jungen, die sich weigern, erwachsen zu werden. Das mag so sein, aber als Denkmal dieser Freundschaft ist es eine rührend schöne Platte“, schreibt Klaus Walter.
Wirklich erholen von den Lost Weekends konnte sich Harry Nilsson allerdings nie. Drei weitere Alben kamen nicht in die Charts, bis „Knnillssonn“ (1977) das erhoffte Comeback sein sollte. Nilsson selbst sah es als seine bisher beste Arbeit und wurde umso mehr enttäuscht, als RCA Victor nach dem Tod von Elvis Presley sämtliche Marketingaktivitäten auf die finanzielle Verheißung des tragischen Ereignisses lenkte. Der König ist tot, lang lebe der König.
Harry Nilsson stirbt
Noch mehr aber traf Harry Nilsson die Ermordung von John Lennon am 8. Dezember 1980. Er wurde Mitglied einer Anti-Waffen-Organisation und trat öffentlich auf, um Spenden zu sammeln. Nicht nur verlor er durch das Attentat einen guten Freund, sondern ebenso einen Partner. Lennon war abseits des oberflächlichen Weltruhms als Beatle auf musikalischer Ebene so eng mit Nilsson verwoben wie niemand sonst. Fortan bezeichnet sich Nilsson gern als „Musiker im Ruhestand“.
Ein früher Ruhestand, den er nicht genießen konnte. Finanzielle Nöte (eine Finanzberaterin veruntreute seine gesamten Tantiemen) und anhaltender Alkoholkonsum mündeten 1993 schließlich in einem ersten Herzinfarkt. Hastig bearbeitete er die Bosse von RCA Victor, seine alten Hits noch einmal aufzuwärmen. Harry Nilsson wird gewusst haben, dass seine verbleibende Zeit begrenzt war. Am 15. Januar 1994 beendete er die Gesangsaufnahmen von dem, was erst 2019 als „Losst and Founnd“ veröffentlicht wurde. Nilsson starb noch in der selben Nacht.