Happy Birthday, Dave Gahan!

Depeche-Mode-Sänger Dave Gahan wird 52 Jahre alt. Wir zeigen Bilder seiner Karriere und ein Interview mit dem Sänger aus dem Jahr 2003. Damals veröffentlichte Gahan sein Solodebüt "Paper Monsters".

Aus der Ausgabe 6/2003:

Dave Gahan wagt mit seinem Soloalbum ein ganz neues Spiel

Er war 22 Jahre „bloß“ der Sänger von Depeche Mode, doch jetzt kommt Dave Gahan solo – und erzählt nicht nur auf seinem Debüt „Paper Monsters“ ungewohnt offen von wüsten Zeiten und zweiten Chancen. Heute orientiert sich Gahan eher an Ziggy Stardust als am Kollegen Martin Gore. Könnte der geglückte Neustart das Ende von Depeche einläuten?

Es ist immer dasselbe, in jedem Hotel, in jeder Stadt, in fast allen Ländern. Wo Dave Gahan eincheckt, da stehen in der Lobby garantiert schon ein paar Schwarzbekleidete herum mit Frisuren, in denen noch Haarspray aus den 80er Jahren klebt Gahan hat das nicht verdient. Er ist längst woanders, er ist – spät, aber endlich doch – erwachsen geworden, und vom Düster-Look, mit dem Depeche Mode eine Zeitlang flirteten, hat er schon vor vielen Jahren Abschied genommen. Er trägt zwar ein schwarzes Shirt (natürlich eng) und eine schwarze Hose (noch enger), aber – als wollte er sich über die alten Fans lustig machen – hellblaue Socken und weiße Slipper. Er ist gut gelaunt und viel entspannter, als man ihn von Band-Interviews kennt. Sobald er das Hamburger Hotelzimmer betritt, bietet er auch schon Getränke an – was den Promoter zu der Vermutung führt, Gahan müsse in einem früheren Leben Kellner gewesen sein. Der lacht vergnügt und holt sich noch einen Kaffee. Ein erstes Resümee: „Ich habe was zu rauchen und was zu trinken, mir geht es gut.“ Zigarillos sind heutzutage praktisch sein einziges Laster.

Das Selbstvertrauen, das Gahan ausstrahlt, hat er sich hart erarbeitet. Zum ersten Mal in seinem Leben, und er ist inzwischen 41, spricht er nicht „nur“ als Sänger, sondern als Songschreiber. Nach 22 Jahren bei Depeche Mode erscheint nun sein Solo-Debüt: „Paper Monsters“. Man fragt sich natürlich, warum der Mann, der immer die Lieder seines Kollegen Martin Gore interpretierte, erst jetzt damit rausrückt, dass er auch eigene Ideen hat. Gahan lächelt verständnisvoll. „Alle wollen wissen, warum gerade jetzt, aber es gibt keine offensichtliche Antwort, leider. Das Timing stimmte einfach. Ich habe jahrelang darüber nachgedacht, ich wollte schon mit verschiedenen Leuten arbeiten, aber irgendwann habe ich die Hoffnung aufgegeben, dass der perfekte Zeitpunkt kommen wird.“

Stattdessen kam immer wieder ein Depeche Mode-Album oder eine Tour. Bis Gahan selbst die Initiative ergriff und sich eine Band-Pause verordnete. „Ich wollte mich selbst einmal in eine Situation bringen, die ich noch nicht kenne, statt ständig so zu arbeiten, wie ich es schon lange gewöhnt bin. Bei Depeche Mode wusste ich immer, in welche Richtung es gehen wird. Es kam mir natürlich und logisch vor, nach der JExciter‘-Tour zu sagen: Okay, ich habe Zeit, ich kann mich völlig dieser Sache widmen, es gibt keine Entschuldigung mehr.“

Und doch war es noch ein weiter Weg. Bis heute fühlt sich Gahan als Songwriter unsicher, und er antwortet sehr vorsichtig, wenn es darum geht, sich gegen Gore abzugrenzen. Zuletzt lief ja alles so gut bei Depeche Mode, viel besser als früher- und diese Harmonie will Gahan wohl nicht ganz aufs Spiel setzen. Wir erinnern uns: Als 2001 das letzte Depeche-Album „Exciter“ erschien, erklärte Gore wieder einmal, dass es weder ihn noch Gahan störe, dass einer die Texte schreibt und der andere sie singt: „Alle anderen machen sich wahnsinnig viele Gedanken darüber, aber für uns ist es normal. So arbeiten wir eben.“ Bei Dave hört sich das ein bisschen anders an.

Hast du schon früher Songs und Texte geschrieben?
Ja, oh ja!

Aber war es dann nicht etwas seltsam, immer nur Martins Lieder zu singen?
Ja, manchmal war es schon frustrierend. Aber ernsthaft eigentlich erst seit – hm – ungefähr irgendwann zwischen „Ultra“ und “ Exciter“.

Warum dann? Wurde dir langweilig oder war es nur zu eingefahren?
(Seufzt) Ja. Beides. Ich war nicht wirklich gelangweilt, aber ich wollte etwas Neues machen, meine Grenzen verschieben – das, was ich kann, ausreizen und darüberhinaus das Unbekannte kennen lernen. Dieses Bedürfnis wurde immer größer. Mir war irgendwann klar, dass ich dieses Monster besiegen muss. diese Ungewissheit, dass ich mehr machen und Neuland betreten muss, auch wenn das heißt, dass ich irgendwie an dem Monster vorbei muss.

Hattest du Angst davor, bei deinem Neuanfang als Songschreiber mit Martin verglichen zu werden?
Du meinst, mit dem alten Hasen? (Lacht.) Das Einzige, was mir Angst gemacht hat, war die Vorstellung, es nicht zu tun. Ich wäre bei Depeche Mode frustrierter und frustrierter geworden. Innerhalb der Band konnte ich das einfach nicht machen, wenn ich ehrlich bin. Ich hätte meine Ideen nicht so einbringen können, wie ich wollte.

Dabei hat er sich redlich bemüht. Bei den Aufnahmen zu „Exiter“ machte er hier und da Vorschläge, interpretierte einiges um – aber nicht genug, fand er. Und da Gore vorerst nicht bereit war, die übliche Arbeitsweise – er bringt die Songs, Gahan widerspricht nicht – zu ändern, suchte Gahan sein Glück im Alleingang. Nach 22 Jahren keine leichte Entscheidung – wenn man als Sänger und Performer berühmt ist, aber als Songschreiber noch ein Niemand. „Auf der Bühne habe ich mich immer sicher gefühlt, da steuere ich etwas bei zu der Atmosphäre, aber im Studio war es dauernd ein Kampf für mich. Bei ‚Exciter‘ hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass ich etwas Eigenes beitrage, mehr Freiheit hatte, meine eigene Seele reinlegen konnte – und ich musste mir nicht zu viele Sorgen machen, was Martin wohl davon hielt Aber ich kann das nicht ablegen, (facht, ein bisschen verzweifelt) Ich überlege immer, was Martin wohl davon hält“ Und, was hält er nun davon, mag er „Paper Monsters“? „Ich weiß es nicht.“ Und dann lenkt er ganz schnell von der offensichtlich fehlenden Kommunikation mit dem einen Kollegen ab und leitet recht geschickt zu dem anderen über: Jedenfalls war Fletch sehr, sehr ermutigend. Ich habe ihn im Januar in London getroffen, als ich das Album gemixt habe. Ich lud ihn ein, und er hörte sich die sechs Songs an, an denen wir gerade arbeiteten. And he was really blown away.“

Er sagt das erfreut – und verwundert. Die Beziehung zwischen Gahan und Keyboarder Andrew Fletcher war schon immer ein bisschen kompliziert. Früher, munkelt man, konnten sie sich nicht ausstehen, nicht einmal zusammen in einer Limousine sitzen. Fletch, mit seiner nüchternen Art eher der Buchhalter-Typ, hatte wenig Verständnis für Gahans Ausfalle, und erst nachdem der vor sieben Jahren seine Heroinsucht besiegt hatte, freundeten sie sich langsam wieder an. Heute ist Gahan froh, dass es nicht mehr dauernd „zwei gegen einen“ steht: „Es war gut, dass Fletch mich so unterstützt hat. Denn ich hatte früher immer das GefühL dass er irgendwie Martin und mich gegeneinander ausspielt. Dass er eine gewisse Distanz zwischen uns schafft und Martin einredet, er solle mir nicht so viel Kontrolle geben. Vielleicht ist das völliger Blödsinn, aber so kam es mir vor. Deshalb habe ich mich noch mehr angestrengt“

Gahan guckt ein bisschen erschrocken – er will ja nicht, dass man ihn für paranoid hält Dabei ist es nur erstaunlich, wie ehrlich, fast naiv offenherzig Gahan von den Spannungen bei Depeche Mode erzählt – und dass er dabei gar nicht bitter klingt Als er anfing, an „Paper Monsters“ zu arbeiten, wusste er gar nicht wo es hingehen soIL Statt das Album in die eine oder andere Richtung zu schieben, rückte es sich selbst zurecht Songs tauchten auf, andere Leute brachten Ideen ein. Die Unterstützung war Gahan sehr wichtig. Besonders Produzent Ken Thomas half ihm, die eigenen Zweifel zu überwinden. Selbst wenn ihm Gahan manchmal auf die Nerven ging, weü er wieder und wieder von Neuem begann und ständig etwas ändern wollte. Da war eben plötzlich kein Gore mehr, der die Führung übernimmt Woher sollte der Mann also gleich wissen, was er will? Also dauerte es. Und dauerte. Aber Thomas ließ ihn nicht allein im Studio, er zwang Gahan praktisch dazu, seine Songs so zu singen, wie er es am besten kann: live, wie auf der Bühne, nur vor kleinerem Publikum. Gahan, der sonst immer allein im Studio stand und einen Zugang zu den Zeilen suchte, war begeistert, wie viel ihm die Interaktion brachte. „Ich hatte so ein Glück mit den Leuten, es war wie ein Märchen.“

Es war einmal in New York City, wo Gahan inzwischen wohnt. Auf Anraten eines Freundes suchte er Knox Chandler auf. Das war 1999, „nach der ,Singles‘-Tour“, so Gahan – er rechnet anscheinend nicht in Jahren, sondern in Tourneen. „Ich kannte Knox ja, ich hatte ihn schon öfter gesehen. Im East Village kennen sich die meisten Musiker, alle hängen in den gleichen Kneipen rum. Ich wusste, dass er bei den Psychedelic Furs gespielt hatte, ich mochte seinen Kram.“

Man traf sich in Chandlers kleinem Studio, und schon am ersten Tag war gegen Abend ein Song fertig. „Ich sprang wie ein Flummi nach Hause, weil ich wusste, dass ich einen Volltreffer gelandet hatte.“ Zuerst war keine Rede davon, was aus den Ideen werden sollte- bloß nicht zu viel Druck, bloß nicht gleich von einem Album reden. „Es ging erst mal nur ums Schreiben – zu lernen, wie das geht. Knox wusste schon viel darüber und brachte seine Kenntnisse mit meinen Ideen zusammen.“ Die Texte hat Gahan allerdings allein geschrieben. Er lachte bei der Erinnerung an manche Situation im Studio: „Bisweilen machte Knox Vorschläge wie: Wir brauchen hier noch eine Strophe. Dann erwiderte ich: Aber ich habe keine mehr. Schluss.“ Gahan wollte nicht die üblichen Strukturen, kein Verse-Chorus-Verse-Bridge-Blablabla -, und wohl auch deshalb sind die Songs fast alle etwas zu lang geraten. Aber wie ein Debüt klingt ,JPaper Monsters“ doch nicht – dafür ist es, trotz der kleinen Macken, viel zu stringent und selbstbewusst. Im Grunde klingt es wie Depeche Mode Anfang der 90er Jahre. Und das ist ja beileibe keine Beleidigung.

Gesanglich ist es natürlich über alle Zweifel erhaben – laut Gahan gar das Beste, was ihm je gelungen ist: „Es ist so, so viel leichter, die eigenen Sachen zu singen. Es kommt einem so natürlich vor. Ich wusste ganz spontan, wie ich die Melodien zu singen hatte, weil ich ja nicht die Worte eines anderen interpretierte, sondern meine eigenen. Ich musste mich nicht an Strukturen halten und es Note für Note so singen, wie es für midi geschrieben wurde. Ich konnte mich austoben.“ Er hatte natürlich auch ausreichend Stoff, um interessante Rock’n’Roll-Geschichten wie „Bottle Living“ zu erzählen. Die wüste Vergangenheit ist vorbei, aber ein kurzer Rückblick sei erlaubt – beim Anblick des fitten, so vital wirkenden Gahan vergisst man ja leicht, was er alles hinter sich hat 1995, Drummer und Keyboarder Alan Wilder hat gerade Depeche Mode verlassen, mehren sich die Gerüchte um Gahan. Im Oktober ist die Rede von einem Selbstmordversuch, und Gahan macht sich nicht die Mühe zu dementieren: Er habe Eheprobleme und keinen anderen Ausweg gesehen. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, verkündet er das Ende seines Drogenkonsums, der im Laufe der 90er außer Kontrolle geraten war. Es klappt leider nicht. Im Mai ’96 ist er nach einer Heroin-Überdosis zwei Minuten lang klinisch tot, dann verhaftet man ihn auch noch und klagt ihn wegen Drogenbesitzes an. Zwei Jahre auf Bewährung, Entziehungskur. Und tatsächlich: kein Rückfall seither.

Heute, mit dem entsprechenden Abstand, sagt Gahan über seine Erinnerungen in „Bottle Living“ („He’s like a king without a crown/ He wears it like a clown/ Watch him disappear/ I wish he would calm down…/ He’s living for the bottle“) tatsächlich: „It’s fun, isn’t it? Für mich ist es eine Reflexion dieses fiesen Alter egos, das ich habe. Jetzt kann ich es mit einiger Distanz betrachten und als Erfahrung beschreiben. Ich bin ja längst ein Anderer.“ Er wollte schon über sich selbst und sein Leben schreiben, aber nicht allzu offensichtlich: „Ich orientierte mich ein bisschen an Bowie und wie er damals Ziggy Stardust benutzt hat Er kreiierte einen Charakter, durch den er singen konnte – und am Ende hat er ihn zerstört, naja (lacht). Jedenfalls gefällt mir diese Distanz.“

Distanz und Humor – zwei Eigenschaften, die vielen Rockstars abgehen, auf die Gahan aber sehr viel Wert legt Zumal er beides längst nicht mehr für selbstverständlich hält. „Es gab eine schreckliche Zeit in meinem Leben, da sagte mir Alan (Wilder) einmal: Du hast ja all deinen Humor verloren. Und er hatte Recht, ich wusste das. Ich hätte es nur nicht zugegeben. Dabei ist mir Humor sehr wichtig. Ich habe es satt, dauernd Songs zu hören, in den sich die Leute in ihrem Unglück suhlen. Das mag ich an Ziggy Stardust: Ich kann mich damit identifizieren und mit der Person, die davon singt. Bowie war vielleicht Ziggy, aber es gelang ihm auch, eine andere Perspektive einzunehmen und von außen draufzuschauen. Sinn für Humor ist entscheidend, eine gewisse Ironie. Das macht Popmusik interessanter. Dann ist nicht alles so dunkel und schwermütig.“

Und schon wieder kann er sich eine ganz kleine Spitze gegen Gore nicht verkneifen – oder ist es nur eine weitere Erklärung für seine Solo-Ambitionen? „Exciter‘ war mir manchmal zu heavy. Bei dem Song ,Dead Of Night‘ habe ich zum Beispiel versucht, ein bisschen Humor reinzubringen, aber das war schwer. Die Worte waren für Martin wahr, insofern ist das schon in Ordnung, aber ich war ganz woanders.“ Großzügig fugt er hinzu: „Es hat Spaß gemacht, den Song zu performen.“

Als erste eigene Single wählte Gahan „Dirty Sticky Floors“ aus – es war der erste Song, den er geschrieben hatte, und eine Art Abrechnung mit der Vergangenheit. Bei seiner Plattenfirma Mute war man anderer Meinung – der Chef schaltete sich ein., ,DanieI Miller wollte ,Hold On‘ als erste Single, und ich verstehe seine Gründe sehr gut. Er fand, dieser Song beschreibt besser, wo und wer ich jetzt bin – nicht, wer ich früher war. Aber alle mochten ‚Dirty Sticky Floors‘ so gern, als es erst mal fertig war. Daniel wusste zuerst nichts damit anzufangen – mit so einem Rock’n’Roll-Song, a song that swaggers along. Das spricht ihn nicht an. Aber nach und nach konnte ich ihn überzeugen.“ Und Gahan gewann. Sein Verhältnis zu Miller war immer gut, und seine Solo-Pläne wurden von Anfang an unterstützt Hatte Miller gar keine Angst, dass darüber Depeche Mode zerbricht? „Oh no. Er wusste, dass ich das machen muss. Er hat meine Frustration verstanden – in einer Band zu sein, der wir selbst gewisse Regeln und Einschränkungen auferlegt haben, die nicht mehr funktionieren. Da muss sich etwas ändern, damit wir weitermachen können. Weiter kreativ sein können. Daniel versteht, dass ich das jetzt machen musste – und er war mehr in den Aufnahmeprozess und alle Vorgänge involviert als bei einem Depeche Mode-Album seit, hm, wahrscheinlich seit ‚Black Celebration‘ Das war 1986.

Nun hofft Gahan, dass all die Depeche Mode-Fans ähnlich loyal sind und ihm zumindest eine Chance geben. Warum auch nicht? „Ich denke mal, dass es ihnen gefallen wird, wenn sie früher gern Depeche Mode gehört haben. Es gibt keinen Grund, dieses Album nicht zu mögen. Es kommt von mir, ich bin seit vielen Jahren ein Teil von Depeche Mode, und dies ist einfach noch mehr von mir. Es geht darum, wer ich bin.“ Gahan gehört nicht zu den Musikern, die einem gern erzählen, dass es ihnen völlig egal ist, wieviele Platten sie verkaufen. Er glaubt nicht gerade daran, dass er sich mit Depeche Mode messen kann, aber wenigstens will er ein paar Menschen helfen. Ja, helfen. Er weiß, dass das nach Bono oder Sting klingt, aber das ist ihm egaL Wer schon mal so weit unten war, schert sich wohl nicht mehr darum, ob manch Zyniker auf ihn herabblickt. „Die Platte soll Leute, die verzweifelt sind, aufbauen und ihnen zeigen, dass man nie eingesperrt ist. Man kann immer ausbrechen. Man muss nur etwas verändern, man darf keine Angst haben. Das wäre mein größter Wunsch: Dass das Album den Leuten dasselbe gibt, was es mir gegeben hat: eine sehr positive, aufbauende Erfahrung.“

Was nun wirklich nicht heißt, dass es ein fröhliches Werk geworden ist, im Gegenteil. Es hat dunkle Seiten, helle Momente, Humor, Depression, Hoffnung, Verzweiflung – „das gehört alles zusammen“, sagt Gahan und ein Song, „Black And Blue Again“, vereine all die Widersprüche, mit denen er tagtäglich zu kämpfen hatte. „Es geht darum, dass ich damals kein sehr netter Mensch war. Ich gebe das zu, aber gleichzeitig habe ich mit aller Kraft versucht, anders zu sein, mich anders zu benehmen. Ich wollte nicht mehr wütend werden, nur weil einer von mir etwas verlangte, von dem ich glaubte, es nicht hinzukriegen. Ich mache das oft in meinem Leben oder zumindest habe ich es oft gemacht Ich gebe vieL, dann bekomme ich das Gefühl, dass mein Vertrauen missbraucht wurde, dann werde ich wütend – und renne weg. Ich will aber nicht mehr wegrennen. Man kann ja vor nichts wegrennen, man bleibt ja doch immer da. (lacht) Ich muss damit klarkommen. Das Album hat mir sehr dabei geholfen, mehr über mich selbst zu erfahren. Ich bin eigentlich ein sehr optimistischer Mensch. Ich mag das Leben, und ich glaube daran, dass wir durch Veränderungen wachsen können.“ Im Prinzip, holt er aus, sei es dasselbe mit der weltpolitischen Situation, und plötzlich klingt er fast wie die Friedensforscherin Yoko Ono: „Die meisten Kriege geschehen aus Angst Angst, etwas nicht zu haben. Angst vor dem Unbekannten. Angst, dass ein anderer die Kontrolle hat. Meiner Meinung nach kann die Veränderung nur zu Hause beginnen. Man muss sein eigenes Leben in Ordnung bringen und sich den Menschen gegenüber, die man liebt, anständig benehmen. Wie kann man mit dem Finger auf andere zeigen, die Gewalt ausüben, wenn man selbst seine Frau anbrüllt oder die Kinder schlecht behandelt? Ich bemühe mich sehr, aus meinen eigenen Erfahrungen zu lernen, und ich hoffe, ich kann mit diesem Album andere ermutigen, dasselbe zu tun.“

Wie hast du selbst deinen Optimismus wiedergefunden?
Im Prinzip kam er zurück, als die Drogen gingen. Ich war gezwungen, mich zu verändern und zu wachsen. Ich konnte mich entweder verändern oder sterben, das war mir klar.

Während du mittendrin stecktest?
Ja. Es gab einen Punkt an dem mir klar wurde, dass ich jetzt Hilfe annehmen muss und glauben muss, dass man mir hilft. Ich musste jemandem vertrauen. Es waren ja genug Leute da, ich wollte nur nicht auf sie hören. Ich hatte immer die naheliegende Entschuldigung: Ihr versteht das einfach nicht! Ich ignorierte alle Hilfsversuche. (Zögert.) Ich schäme mich heute nicht mehr dafür, was damals passiert ist. Aber damals schämte ich mich sehr dafür, wie ich mich selbst behandelte und die Menschen um mich herum. Als ich mir dann ein Herz fasste, so wie das jetzt ja auch tue, da stellte ich schnell fest dass es nur so weitergeht. Man muss Vertrauen haben, man muss sich auch mal in eine schmerzhafte Erfahrung stürzen. Ich wusste ja, dass der Entzug schmerzhaft werden würde – deshalb habe ich ihn wohl so lange wie möglich rausgezögert (lacht).

Aber dann hast du es doch getan.
Ich wusste, dass die Angst vor dem Risiko und dem Schmerz nicht genug Grund sein kann, es nicht zu tun. Mit diesem Album ist es ähnlich. Ich habe mich oft gefragt, warum ich das überhaupt mache. Ich bin in einer Band, wir sind sehr erfolgreich, ich mache das gut – aber es hat mich nicht ausgefüllt. Es hat etwas gedauert, bis ich den Mut und das Selbstvertrauen hatte, mich zu verändern. Aber wenn man es nicht versucht… If you don ‚t try, you die. Wenn nicht physisch, dann zumindest geistig.

Hast du heute noch manchmal Angst vor einem Rückfall?
Ich habe keine Angst davor, dass ich wieder in die alten Angewohnheiten verfalle. Ich befürchte, dass ich emotional jederzeit wieder regredieren könnte, aber da gibt es kein Muster. Manchmal fühle ich mich unsicher, was die Arbeit betrifft, als Vater, als Ehemann und dann lasse ich das sofort an den Menschen um mich herum aus. Das ist nicht okay, aber es ist menschlich, es passiert – und bei mir passiert es leider dauernd. Ich muss lernen, das zu kontrollieren. Ich weiß es zu schätzen, dass ich überhaupt die Gelegenheit habe, noch einmal etwas anders zu machen. Vor sieben Jahren konnte ich gar nichts tun, ich war nicht in der Lage, mich selbst zu beurteilen und zu verändern. Ich dachte nur: Ich bin ein schrecklicher Vater, ich habe meinen Sohn verlassen, ich bin ein Betrüger in dieser Band, ich singe ja nur die Texte eines anderen, ich bin ein hoffnungsloser Sänger und so weiter. Das mache ich nicht mehr. Ich gebe mein Bestes, aber ich weiß auch, dass ich immer wieder die Gelegenheit bekommen werde, es noch mal zu versuchen. Ich sehe jetzt auch, dass in meinem Leben ständig schöne Sachen passieren. Die Geburt meiner Tochter war ein Schlag ins Gesicht Wach auf, Dave! Warum jammerst du bloß?‘ So hat Gahan auch privat eine zweite Chance bekommen: Seinen Sohn Jack, der schon 15 ist, hat er oft vernachlässigt, aber um seine fast vierjährige Tochter Stella Rose kümmert er sich jetzt rührend. Die dritte Ehe läuft auch gut, alles soweit in Ordnung. Und weil sich Dave Gahan neuerdings allen Herausforderungen stellt, geht er jetzt auch allein auf Tournee. Er wird zwar ein paar Depeche-Songs singen, vor allem aber „Paper Monsters“ vorstellen. Auf die neuen Mitmusiker freut er sich sehr, schließlich kam ihm schon Depeches Modes Tourband – Drummer Christian Eigner, Keyboarder Peter Gordeno – wie eine Frischzellenkur vor. Er hofft, dass die beiden auch bei den nächsten Aufnahmen dabei sein werden. „Wir müssen uns öffnen, wenn es ein neues Depeche Mode-Album geben solL“ Er spricht ganz langsam und vorsichtig weiter:

„As the leader oft his band, I would say that that’s what we need to do. Und ich hoffe, dass Martin auch sieht, dass diese Entwicklung positiv wäre und ihm nichts wegnähme.“

Meinst du, er wird es einsehen?
Keine Ahnung. So wie ich Martin kenne, schätze ich, wird es eine unglaubliche Menge Widerstand geben. Aber wenn wir die Türen nicht öffhen, werden wir kein Album machen können, das für mich interessant genug ist.

Das heißt, es wird möglicherweise kein Depeche-Album mehr geben?
Die Möglichkeit bestand immer. Wir haben nie davon gesprochen, ein weiteres Album zu machen, es ergab sich immer irgendwie.

Wie sieht denn deine Planung für die Zukunft aus?

Ich gehe bis Ende des Jahres auf Tour, dann will ich das nächste Jahr in New York verbringen, das habe ich meiner Familie versprochen. Ich will schreiben. Ob diese Songs dann Teil eines Depeche Mode-Albums werden oder eines Dave-Gahan-Albums, wird sich zeigen. Ich weiß es nicht Ich will nur schreiben. Mit welchen Leuten auch immer, in welchem Format auch immer. Das ist etwas Neues für mich, es ist spannend, ist liebe es, ich will damit weitermachen. Ich kann nicht mehr nicht schreiben.

Er lacht wieder. Das war grammatikalisch vielleicht kein toller Satz, doch so ist das neue Leben des Dave Gahan: nicht perfekt, aber zielgerichtet Er weiß, was er nicht wilL Dann entscheidet er, was er will. Und so wird es dann gemacht. Ob Martin Gore will oder nicht.

„DAS ARCHIV – Rewind“ umfasst über 40 Jahre Musikgeschichte – denn es beinhaltet die Archive von Musikexpress, Rolling Stone und Metal Hammer. Damit ist von Popmusik über Indierock bis zu Heavy Metal nahezu jede Musikrichtung abgedeckt – angereichert mit Interviews, Rezensionen und Reportagen zu Filmen, Büchern und popkulturellen Phänomenen.

>>> Hier geht es zu DAS ARCHIV – Rewind.

Eine Leseprobe:


 

Abonniere unseren Newsletter
Verpasse keine Updates