Hans Zimmer im Interview: „Hassenswerte Musik zu schreiben, auch das ist mein Privileg“

Der Hollywood-Filmkomponist über Vorbilder, seine Vergangenheit im Punk und sein „Braaam“-Konzept

Aus der Reihe „Das Beste aus 30 Jahren ROLLING STONE“: Ein Interview vom Oktober 2022

Mit „Hans Zimmer Live 2022“ veröffentlicht Hans Zimmer im kommenden März ein Album mit seinen Scores in Rock-und Weltmusik-Arrangements. Ab April geht er auf Tournee durch acht deutsche Städte. Der 65-jährige gilt nach John Williams als bedeutendster lebender Filmkomponist: Seine Alben haben sich rund 25 Millionen Mal verkauft, für den „König der Löwen“ und „Dune“ erhielt er den Soundtrack-Oscar. Seine Karriere startete der Ende der 1970er-Jahre zunächst nach London ausgewanderte und heute in Hollywood lebende Hesse als New-Wave-Musiker, kooperierte zuletzt mit Pharrell Williams, Johnny Marr und Vampire Weekend. Interviews gibt er lieber auf Englisch.

Herr Zimmer, wie …
Halt! Wie viele 65-jährige Komponisten, die keine Rockstars sind, schaffen es in den ROLLING STONE? Wobei: Die meisten Rockstars sind sogar älter als ich, oder? Ich fühle mich geehrt!

Vielleicht kann man Sie einen Punk nennen? Sie stürzen Dinge um. Sie haben die Soundtrack-Welt verändert, weg von Klassik und Leitmotiven, hin zu Sounddesign.
Meine vier Helden sind Ennio Morricone, John Barry, John Williams und Jerry Goldsmith. Das, was sie machen, will ich also nicht tun – was nicht heißt, dass ich keine traditionelle Orchestermusik mehr komponieren könnte, wie für „Gladiator“. Aber ich widme mich jetzt lieber einer anderen Idee: der (sagt dieses Wort auf deutsch) Klangfarbenmusik. In „Dune“ geht es ja nicht um Sci-Fi-Schlachten, sondern die Macht der Frauen. Ich hätte Figuren wie Lady Jessica ein Leitmotiv geben können, stattdessen verpasste ich ihr einen Sound, der nachschwingt und bleibt, wenn sie den Raum verlässt. Wie ein Parfüm.

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Das hatte ich nicht bemerkt.
Das sollen Sie auch nicht. Sie sollen es unbewusst spüren. Sonst hätte ich etwas falsch gemacht. Sie sollen die Musik erleben, nicht Bilder sehen und an den lärmenden, ach so cleveren Komponisten denken.

Aber seit Jahren herrscht eine „Loudness“-Debatte über Soundtracks. Gerade in den Christopher-Nolan-Werken scheint sich der Film-Ton einen Lautstärke-Wettstreit mit Ihren Stücken zu liefern.
Nein. Bei den „Batman“-Filmen sagte ich zu Chris: Die Musik ist zu laut, ich verstehe die Dialoge nicht! Er sagte: Das ist mein Dialog, ich habe ihn geschrieben – ich kann damit machen, was ich will. Seine Filme sind schlau, Chris ist aber auch schlau. Jede wichtige Information, jeden Clou, gibt er Ihnen im Film nicht einmal, sondern mindestens zweimal. Einmal auf der Gefühls-, einmal auf der Verstandesebene. Nun, „Interstellar“ war laut: Wir haben damit nachweislich in einem Kino in Seattle eine IMAX-Anlage hochgehen lassen. Gleichzeitig wollten wir nicht nur den lautesten, sondern auch den leisesten Film aller Zeiten machen. „Interstellar“ spielt im lautlosen Weltraum, in tiefster Schwärze. Beim Vorbeiflug an Saturn hören Sie nur eine einzige Piano-Note.

Manchmal spielen Sie minutenlang nur den Klang tickender Uhren ab. Können Sie nachvollziehen, dass manche dies nicht für Musik halten?
Aber das ist doch Musik! Außerdem geht es um Wahrnehmungspsychologie. Ein Rhythmus hat einen definierten Anfangs- und Endpunkt. Doch das Ticken? Lässt alles offen. Solange es läuft, werden Sie nie wissen, wann das Monster angreift oder die Frau Sie küsst. Das ist das Geheimnis der Zeit. Sie werden nie wissen, wann Sie sterben, nie, wann Sie sich verlieben.

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Etliche Tutorials beschäftigen sich mit dem enervierenden „Joker“-Motiv aus „The Dark Knight“: ein immer höher steigender Ton, der nie endet.
Der „Shepard“-Ton, von C auf D, den zwei auf dem Klavier einander musikalisch nächsten Tönen. Für das Ohr jedoch sind sie am weitesten voneinander entfernt. Ich schaffe die Illusion einer unendlich ansteigenden Tonleiter, die jedoch nie die Grenze Ihres Hörens übersteigt. Stunden an Klangforschungen habe ich damit verbracht, herauszufinden, wer der Joker, was der Joker ist. Als Nolan nach Hongkong zur Fertigstellung des Films reiste, gab ich ihm einen iPod, darauf all die Experimente. Acht Stunden Musik für acht Stunden Flug. Hinterher sagte er: „Hans, zu einem besseren Menschen hat mich das nicht gerade gemacht.“ Niemals wird irgendjemand diese Aufnahmen hören.

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Sie sagten, Sie wollten Musik komponieren, die Menschen abgrundtief hassen. Aber soll nicht selbst böse Musik anziehend sein?
Natürlich. Das „Joker“-Motiv beginnt leise. Sie sollen sich darin einrichten können, darin etwas über sich selbst erfahren. Sind sie fähig, diese Anspannung auszuhalten? Es sind Töne, die Fragen stellen. Hassenswerte Musik zu schreiben, das ist ein Privileg ausschließlich des Filmkomponisten. Wer sonst möchte das tun? Ich schrieb den Score für „Frost/Nixon“ und sagte mir: Ich soll verflucht sein, wenn am Ende irgendjemand auch nur das geringste Mitgefühl für Richard Nixon empfindet, nur weil er mein Leitmotiv mag. Das ist ja das Problem mit Musik: Sie erschafft automatisch Empathie, erweitert Charakterzüge. Kennen Sie die Band Garbage?

Klar.
Sie komponierten mit „The World Is Not Enough“ einen James-Bond-Song. Als ich unlängst meine eigene Bond-Suite vorführte, sprachen sie mich an: „Wir lieben Dich – weil Du damals The Damned produziert hast“. Ich habe, wahrscheinlich als einer der wenigen Hollywoodkomponisten, einen Punk-Background. Und dieses Punk-Ethos nutze ich, ob für die Anarchie im Joker oder in „Frost/Nixon“, in dem vieles so klingt, als könnte man aus dem Dunkeln heraus mit einem Messer attackiert werden.

Als Sie 1995 den Oscar für ihre afrikanisch inspirierten Klänge des „König der Löwen“ gewannen, war der Begriff „Kulturelle Aneignung“ nahezu unbekannt, später folgte Ihre japanische Musik für „Der letzte Samurai“. Was halten Sie von der Debatte?
Ich habe den „Samurai“ und die stilistische Herausforderung sehr ernst genommen, es war ein schwieriger Lernprozess für mich. Je mehr ich lernte, desto weniger verstand ich. Und dann engagierte ich auch noch japanische Musiker. Im Rücken die Deadline, den Soundtrack fertigstellen zu müssen. Kurzum, ich präsentierte meine Stücke japanischem Publikum. Die Menschen dort fragten: Woher kennen Sie unsere Musik so gut? Im Herzen bin ich noch Punk, also provoziere ich gern. Aber was ich nicht gerne tue: Menschen verletzen. Kultur ist etwas, das man im Herzen trägt. Bis zur Ausbeutung, bis zum Kulturimperialismus ist es nicht weit. Erfindungen oder Fiktionen dagegen sind für mich legitim. „Der letzte Samurai“ ist ein Hollywood-Film, keine Dokumentation.

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Für Ihre Fiktionalisierungen fühlen Sie sich nicht angegriffen?
In einem meiner ersten Jobs war ich „Tea Boy“, also ein Gehilfe des Komponisten, und zwar in Bernardo Bertoluccis „Der letzte Kaiser“ von 1987. Der Regisseur? Ein Italiener. Der Komponist? Ryūichi Sakamoto, ein Japaner. Der Film? Drehte sich um Chinesen. Ryūichi arbeitete mit chinesischen Musikern zusammen, und sie hassten ihn, weil er Japaner ist. Zum ersten – und zum Glück einzigen – Mal spürte ich Rassismus. Und Rassismus ist etwas, das für Musiker sehr untypisch ist. Rassismus ist in der Musik an sich sehr selten. Entweder, man spielt gut – oder man spielt nicht gut. Das ist das einzige Merkmal, nach dem man beurteilt wird. Hautfarbe, Geschlecht, kultureller Hintergrund – interessiert mich nicht, ist für die Aufnahme in meine Band nicht von Belang.

Es gibt ein multikulturell klingendes Stück von Vampire Weekend, „Hold You Now“, das auf einem Sample Ihres „The Thin Red Line“-Scores basiert. Sie sind jüdisch, Vampire-Weekend-Sänger Ezra Koenig ist jüdisch, der Chor klingt afrikanisch, ist aber pazifisch.
Genau. Bunt wie meine Band. Eine Chinesin, ein Venezolaner, ein Flüchtling des afrikanischen Kontinents. Ein Ukrainer. Vor drei Jahren buchte ich ein Orchester aus Odessa für meine Tournee. Dann kam der Ukrainekrieg. Zehn von ihnen haben wir rausbekommen. Während sie auf unserer Bühne spielten, wurden die Häuser ihrer Familien zerbombt. Das ist schwer zu ertragen.

Viele Ihrer Stücke werden als „Temp Music“ verwendet, temporäre Tracks, die während der Noch-Bearbeitungsphase des Films als Richtline für die Atmosphäre dienen, und die ungeduldige Produzenten zunehmend dazu veranlassen, für den richtigen Soundtrack einfach Imitate in Auftrag zu geben. Deshalb klingt heutige Filmmusik oft gleich. Wie finden Sie …
I fucking hate temp music! Mein Stück „Journey To The Line“ aus „The Thin Red Line“ wird seit 1998 überall benutzt. Ich nenne es nur noch: „The forbidden cue“.

Sie fühlen sich nicht geschmeichelt?
I’ll kill you, if you use this cue (lacht). Nach „Batman Begins“ von 2005 wurde es noch schlimmer. Noch bevor der Film anlief, hat die Produktionsfirma einfach ein Stück daraus für den Trailer eines anderen ihrer Filme genutzt. Was sollte das? Hatten sie nicht verstanden, dass sie sich damit selbst schaden? Diese Musik war nun verbraucht. Hatten sie nicht gesehen, dass wir vielleicht noch mehr „Batman“-Filme drehen wollten? Schauen Sie, möglicherweise ist es dem Publikum ja egal, wer welchen Sound, welchen Stil erfand. Aber es kann mir nicht gefallen, wenn ich als Copycat meines eigenen Stils betrachtet werde – nur weil nicht jeder weiß, dass eben dieser Stil von mir erdacht wurde.

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Sie gelten als Erfinder des „Braaam“-Klangs, des megawuchtigen Bläserdonners, als würden Alphörner von AC/DC gespielt werden. Haben Sie auch den Namen erdacht?
Nein! Und es gibt hier ein Missverständnis. Chris Nolan hat den „Braaam“ erfunden, nicht ich. Der „Braaam“ ist ein Storypoint in „Inception“ von 2010. „Braam“ bedeutet, dass alles verlangsamt wird – die Protagonisten sinken immer tiefer in ihren Trancezustand, erreichen immer tiefere Level von Zeit und Traum. Deshalb mein massiver, zeitlupenartiger werdende Einsatz mit dem Orchester. Mich verfolgt der „Braaam“-Missbrauch, denn in „Inception“ gibt es einen Grund, warum ich ihn in Töne kleidete. Aber weil der Sound so kraftvoll ist, wurde er von all denjenigen kopiert, die den Sinn gar nicht verstanden haben. Und dann landete „Braaam“ in Trailern, die einen Höhepunkt nach dem anderen auffahren, als nicht-lineares Geschichtenerzählen strukturiert sind. Der Regisseur Ron Howard sagte zur mir: „Trailer sind wie Träume. Beide sind eben nicht geheimnisvoll. Man springt von einer Sache zur nächsten. Und ‚Inception‘ handelt von nichts als Träumen“. Also, lustig betrachtet: Auch, wenn „Braaam“ für etliche Trailer missbraucht wurde, so erfassen doch die Trailer an sich, mit ihren Sprüngen von Höhepunkt zu Höhepunkt, das „Braaam“-Konzept ganz gut.

In Ihrer Firma „Remote Control Productions“ arbeiten etliche Angestellte am Hans-Zimmer-Sound. Ist das Bild des Komponisten, der allein in seinem Kämmerlein über Etüden brütet, ein altmodisches?
Jeder hat natürlich stets Mozart und Bach im Hinterkopf, die alles allein kreierten. Wie erstaunlich ihre Arbeit war! Stünde einem ein ganzes Leben zur Verfügung, nur um alles dieser Meister abzuschreiben – man hätte dennoch nicht genug Zeit. Ich weiß, warum ich diese Firma habe, und warum ich auf meiner Homepage die Profile meiner Mitarbeiter, und welche Jobs sie haben, präzise aufliste. Ich startete meine Karriere als assistierender Komponist eines großen Kollegen, und ich sollte die ganze Zeit nur Autoverfolgungsjagden komponieren, denn diese Aufagbe hat er gehasst. Aber er hat mir einen Autorencredit für die Autoverfolgungsjagden gegeben. Das war unüblich. In Hollywood arbeiten viele Komponisten in den Schatten, sie sind „Ghost Composer“. Viele steigen niemals auf. Wenn ich nun sehe, dass ein Talent ein Orchester führen kann, dann will ich ihm helfen. Ich verhalf John Powell und Harry Gregson-Williams zu Karrieren. Damals war das schwieriger als heute – und wissen Sie warum?

Warum denn?
Weil man buchstäblich mit Filmmaterial gedreht hat, nicht digital. Ständig kamen Produzenten auf mich zu: „Weißt Du eigentlich, wie teuer das ist, wenn wir diesen und jenen Namen im Filmabspann dazunehmen, noch mehr Material verbrauchen? Denk doch mal an die Wirtschaftlichkeit!“. Bei einem meiner Scores für Disney hieß es, der Abspann dürfe 2:40 Minuten nicht überschreiten. Und wenn man auf die Nennung dieses oder jenes Soundtrack-Beteiligten verzichte, hätte das pro Jahr dann angeblich Millionen von Dollar eingespart. Ich musste dieses Muster einfach brechen. Und deshalb existiert mir gegenüber auch ein Vorwurf, der einfach keinen Sinn ergibt. Wenn Leute behaupten, ich würde meine Musik nicht selbst schreiben – wieso sind das dann auch dieselben Leute, die behaupten, meine Musik klinge stets gleich?

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