Haldern Pop – Das Dorf als Live-Club
Das Festival Haldern Pop bringt die Musikwelt an den Niederrhein. Und in der örtlichen Kneipe finden das ganze Jahr über Konzerte statt. Besuch in einem erstaunlichen Pop-Biotop
Über Haldern Pop ist schon viel Gutes gesagt worden. Festival-Glücksfall in der niederrheinischen Provinz, tolle Line-ups, unsterbliche Performances, seit zehn Jahren dauerausverkauft. Haldern ist das Wacken des feinen Indie-Pop, ein Konzert-Event auf dem Land, für dessen Durchführung sich ein guter Teil der Dorfgemeinschaft einspannen lässt. Nicht wenige Journalisten sind da der Versuchung erlegen, in dem Clash der Kulturen eine Posse zu erkennen: Mistforke trifft Musiker, so ungefähr. Doch Haldern ist kein Witz, sondern ein außergewöhnliches Festival, dessen Qualität von dem kleinen Macher-Team konsequent bewahrt wird. Zum Beispiel mit der Selbstbeschränkung, nicht mehr als 6.500 Karten zu verkaufen. „Prominente Agenten haben uns schon vor Jahren gesagt: ‚Geht auf eine andere Wiese, ihr könnt jetzt Geld verdienen'“, erzählt Festival-Chef Stefan Reichmann. „Aber wir glauben, dass wir für mehr Leute keine guten Gastgeber sein könnten.“ Zum Beispiel, weil die etwa 370 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht von einer Event-Firma, sondern aus dem Dorf und der Umgebung kommen. Man spürt das Gemeinschaftliche und Ortsbezogene während des Festivals – am Bierstand auf dem Gelände oder bei der Grillwurst auf dem Dorfplatz. „Die Leute organisieren sich selbst und übernehmen Verantwortung“, sagt Reichmann, „wir wollen kein Verein mit statischen Reglementierungen sein und auch ansonsten nichts in Stein meißeln. Die Festivalbesucher merken das und fühlen sich deshalb wohl.“
Nicht nur die Festivalbesucher. Wegen all der persönlichen Kontakte, die im Lauf der Jahre entstanden sind, ist Haldern in eingeweihten Musikerkreisen zu einem beliebten Boxenstopp geworden, ein Idyll im anstrengend urbanen Rock’n’Roll-Alltag. Ein paar Straßen vom Dorfplatz entfernt gibt es einen zur Pension umgebauten Bauernhof, da stehen morgens Rehe vorm Fenster. Kürzlich war Shara Worden alias My Brightest Diamond mit Mann und Kind da und machte Ferien auf dem Bauernhof.
Doch nicht nur die schöne Landschaft bringt die Musiker ganzjährig nach Haldern. Seit 2009 veranstaltet das Team von Haldern Pop regelmäßig Konzerte in der unternehmenseigenen Haldern Pop Bar, einer ehemaligen Kneipe im Ortskern. Früher hingen Gardinen vor den Fenstern, damit man von draußen nicht sehen konnte, dass drinnen Schnaps getrunken wurde. Viel hat sich nicht geändert: Reichmann und sein Team beschränkten die Innovation bewusst auf ein bisschen Veranstaltungstechnik.
Heute Abend tritt Botanica auf, die Band des Wahl-Dortmunders Paul Wallfisch. Da steht die coole New Yorker Kapelle in der Dorfschänke und spielt expressive Kunstmusik – eine echte Schau. Das Publikum setzt sich aus Haldener Stammgästen, der örtlichen Dorfjugend und einigen angereisten Fans der Band zusammen. Bei einem sehr leisen Lied hält der Barkeeper beim Eiszerkleinern inne: Respekt vor der Musik versteht sich hier wohl von selbst.
Nach dem Konzert steht der Gitarrist (der auch in Nenas Band spielt) draußen und unterhält sich, so gut es geht, mit zwei Musikern der örtlichen Punkband. Der Botanica-Schlagzeuger (der auch bei den Dresden Dolls spielt) gesellt sich dazu, und das ist dann schon ein ungewöhnlicher Moment, auf dem Dorfplatz von Haldern mit zwei Musikern von Welt. „Die Pop-Bar ist eine Off-Day-Bar“, sagt Reichmann, „Bands auf der Durchreise können hier spielen, wenn ihnen unterwegs ein Anschlusstermin fehlt.“ Doch schon jetzt ist die Bar nicht mehr nur ein Notnagel. William Fitzsimmons kam, weil er mit Haldern Pop freundschaftlich verbunden ist, im Juli stehen The Low Anthem auf dem Plan. Die Kapazitätsgrenze ist auch hier erreicht: Nicht selten stehen die Leute bis auf die Straße hinaus.
Oben im Kneipenhaus befinden sich die Büros von Haldern Pop. Dorfschulen-Ambiente, WG-Möbelsammelsurium. Schlafsäcke: Auch hier keine Spur von großstädtischem Medien-Getue. Hinten links sitzt eine von Reichmann betriebene Werbeagentur, rechts das Plattenlabel Haldern Pop, dazwischen ein oder zwei Filmemacher, die auf Haldern drehen, sich aber wohl auch um andere Angelegenheiten des Hauses kümmern. Auf dem Schild unten am Eingang sind weitere Firmen angeschlagen. Und dann gibt es da noch einen Fotografen, der mit dem Festival verbunden ist, ein Tonstudio, in dem durchreisende Musiker gelegentlich etwas aufnehmen oder für ihren Auftritt beim Festival proben, sowie den in Kennerkreisen legendären Mikrofonmacher Brauner, der ein Dorf weiter seine kleine Manufaktur betreibt und Haldern Pop bei Bedarf mit Equipment unterstützt.
Das Leben mag anderswo aufregender sein, doch hier denkt man weiter: Unter der Überschrift „Landgut 2.0“ entstand eine Initiative zur Belebung des Niederrheins. Im Gespräch mit Unternehmen, Politikern und Investoren soll die Provinz erstarken. Ein Signal gegen das Ausbluten der Region. Ein hehres Ziel, doch Reichmann ist guten Mutes: „Wir sind nicht Berlin, aber es gibt hier genügend Stärken, die man nutzen kann. Da muss jetzt einfach mal ein Gegengewicht her.“