Haftbefehle zum Dessert serviert
Es wurde noch viel netter, als sie es sich gedacht hatten: Den ganzen Tag waren die elf Männer in einem klimatisierten Reisebus auf Sightseeing-Tour durch Florida. Eingeladen hatte sie ein amerikanischer Großhändler für illegale Schallplatten aller Art. Der freundliche Fremdenführer zeigte seinen Gästen, die zum Teil auch aus Europa angereist waren, die Sehenswürdigkeiten rings um Orlando und schmiß beim unvermeidlichen Disneyland-Besuch nach der gemeinsamen Achterbahnfahrt gar eine Runde Soft-Eis. Auch als die muntere Gruppe aus Zwischenhändlern und Herstellern von klingender Piraten-Ware am Abend an dem reservierten Tisch eines Nobel-Italieners in Orlando Platz nimmt, schöpft keiner Verdacht – schließlich war bislang alles so wie in der schriftlichen Einladung beschrieben.
Und jetzt, zwischen Antipasto Misto und Spaghetti Arrabiata, warten sie nur noch darauf, daß ihr Gastgeber, der ihnen ziemlich viel Geld für ihre gelieferten, jedoch nie bezahlten Bootlegs schuldet, aus der Toilette zurückkommt und endlich die versprochenen Schecks serviert. Statt dessen betreten jedoch an die 20, allesamt gut durchtrainierte Herren in dunklen Anzügen das Restaurant, umstellen die Bootlegger-Tafel und ziehen ohne Hast die rechtsgültigen Haftbefehle aus den Brusttaschen. Die verdutzten Raubkopierer lassen sich, so steht es am nächsten Tag in der Presseerklärung der US-Zollfahndungsbehörde, „ohne jeden Widerstand“ festnehmen.
Als den Fahndern dann zwei Tage danach noch die beiden Chefs des Labels „Kiss The Stone“ ins Netz gehen, die aus dem italienischen Fürstentum San Marino der Einladung folgend angereist, dem Disney-Trip jedoch ferngeblieben waren, ist der Coup perfekt: 13 Hersteller und Zwischenhändler von illegalen CDs sitzen in Untersuchungshaft, 800 000 Bootlegs – darunter von Künstlern wie Led Zeppelin, Beatles, Van Haien und Tori Arnos – sind beschlagnahmt. Chefs von Labels wie „Midnight Beat“ (Luxemburg), „Kiss The Stone“ (Italien), „Flashback“, „Blue Moon“, „Oxygen“, „Shattered Records“ und „High End Audio“ (alle USA) sind bis auf weiteres aus dem Verkehr gezogen. Der Handel mit illegalen Live-Mitschnitten, StudioOuttakes und Demo-Raubkopien ist in Amerika auf Jahre hin in sich zusammengebrochen, den ferhafteten drohen jetzt hohe Gefängnisstrafen zwischen fünf (Handel mit illegaler Ware) und 35 Jahren (organisiertes Verbrechen).
Die Vorbereitungen für den Enthauptungsschlag gegen die Bootleg-Mafia reichen zurück bis in den April 1996, als die US-Zollbehörde einen Agenten in das Team eines einschlägig bekannten Großhändlers in Orlando einschleusen konnte. Innerhalb von neun Monaten importierte der Dealer insgesamt über 100 000 illegale CDs – immer unter dem wachen Auge des Undercover-Agenten, der feinsäuberlich über jeden Handel Buch führte. Als dieser schließlich Ende letzten Jahres verhaftet und mit dem Beweismaterial konfrontiert wurde, willigte er verständlicherweise sofort in den Deal ein, den ihm die Zollfahnder anboten: Er sollte zum Schein massenweise Bootlegs von Herstellern aus Europa und Amerika, wie auch von etlichen anderen US-Zwischenhändlern ordern. Den europäischen Bootleg-Pressern versprach er, ihnen den immensen US-Markt direkt zu öffnen, „ohne einen kostenträchtigen Umweg über sichere Drittländer“. Das könne er garantieren, denn er habe „etliche Typen von der Zollfanhdung in der Tasche“.
Bereitwillig lieferten seine Geschäftspartner dem Doppelspieler-Grossisten an die 800 000 Bootlegs nach Orlando und wunderten sich erst nach Monaten, daß die Ware noch immer nicht bezahlt worden war. Kurz daraufflatterte ihnen jene nette Einladung zum Florida-Trip mit anschließender ScheckÜbetgabe in den Briefkasten. In diesen Tagen tippten die Schreibkräfte beim zuständigen Gericht in Orlando bereits die Haftbefehle.
Das amerikanische Plattensatnmler-Magazin „Ice“ schätzt die Auswirkung der Verhaftungsaktion auf den US-Bootleg-Markt als „verheerend“ ein: ,4m Gegensatz zu früheren Aktionen, wie die Schließung einiger Läden in Greenwich Village, wurde hiermit eine völlig neue Dimension erreicht. Viele europäische und amerikanische Bootlegger sind aus dem Verkehr gezogen, mindestens drei der wichtigsten US-Großhändler sitzen in Haft. Bootleg-Verkäufer in den USA haben zeilreiche Gründe, jetzt vorsichtig zu sein.“
Schon innerhalb weniger Wochen zeigte der Orlando-Coup sichtbare Wirkung: „Einige der Händler verschleuderten sofort ihre ganze Ware zum Einkaufspreis“, beobachtete das „Ice“-Magazin, „andere zogen sich erst einmal aus dem Geschäft zurück und warten ab, ob die Verknappung der Ware nicht vielleicht doch zu drastischen Preisanstiegen führt.“ Die Massenverhaftung in Florida, bei der dem US-Zoll auch ein Bootlegger aus Deutschland ins Netz gegangen sein soll (dessen Name wird von den Behörden noch geheim gehalten), sorgt weltweit für fersorgungs-Engpässe bei Freunden der illegalen Musikmitschnitte. Auch in Deutschland: „Der Nachschub an amerikanischen Bootlegs wird ins Stocken geraten“, schätzt Martin Schaefer, Justitiar des „Bundesverbands der Phonographischen Wirtschaft“, dem Dachverband deutsche Plattenfirmen.
Ein herber Verlust für die Graumänner mit den silbernen Scheiben ist das hierzulande ohnehin nicht. Nachdem in den letzten Jahren etliche Rechts-Lücken geschlossen wurden, schrumpfte der Anteil an reinen Fan-Bootlegs (Studio- und Live-Mitschnitte, Demos) auf fünf Prozent des Musikpiraten-Umsatzes. Schuld an dieser Entwicklung: „Der Fan-Markt im engeren Sinne ist durch die Bootleg-Schwemme Anfang der 90er Jahre in sich zusammengebrochen“, beobachtete Andreas Vogts, Autor des Standardwerks „Bootleg-Guide“. Verständlich: Wer außer den ganz hartgesottenen Sammlern will 60 oder 70 Mark für den miserablen Live-Mittschnitt eines Prince- oder U2-Konzertes hinblättern?
Große Kasse wird denn in Europa inzwischen auch nicht mehr mit den Objekten der Fan-Begierden gemacht. Hier füllen längst vor allem die illegalen „Hit-Mixe“ (Mitschnitte von DJ-Sets) die Schatztruhen der Musikpiraten, Der angeblich gewaltige illegale Markt, dem es zu wehren gilt, macht freilich nur ein Bruchteil des legalen aus. Wie man in Florida sehen konnte: Ein Betriebsausflug hilft.