Haarige Angelegenheit
Mit angeklebtem Bart und übergroßen Augenbrauen wagt Laurie Anderson den Blick hinter die Fassade heimeliger Gewohnheit. Für ihr männliches Alter Ego hat sie sogar einen Namen.
Durch ihre Kostümierung auf dem Cover von „Homeland“, der ersten Laurie-Anderson-Platte seit fast zehn Jahren, läuft der Betrachter Gefahr, die Grand Dame mit einem Mitglied von CocoRosie zu verwechseln: kauzige Männerkleidung, angeklebter Schnurrbart und zwei dazu passende XL-Augenbrauen, von denen die eine süffisant hochgezogen ist. „Ich benutze schon seit den späten Siebzigern ab und zu eine Männerstimme, um aus meiner gewohnten Perspektive auszubrechen“, behauptet die Künstlerin. Heute hat Fenway Bergamot, wie Anderson ihr männliches Alter Ego nennt, sogar eine eigene Facebook-Seite.
Der Hauptgrund für die Reanimation dieses Charakters ist „Another Day In America“, das zentrale Stück des Albums. Mit warmer Großvaterstimme erzählt Anderson da unter anderem von einem alten Paar, das sich sein Leben lang gehasst hat. Als die beiden in ihren Neunzigern sind und endlich geschieden, werden sie gefragt: Warum nicht schon früher? „Well“, lautet die Antwort, „we wanted to wait until the children died.“ Ein Kalauer, sicher, aber auch die Bilanz eines Lebens. „Es geht darum, wie sich die Dinge verändern, wie sich Bilder und Erinnerungen durch die Zeit bewegen. Ich habe dafür eine männliche Rolle gewählt, weil ich es mehr wie einen Cartoon wirken lassen wollte.“ Allerdings sollte man sich dabei einen bitteren Cartoon in der Manier Art Spiegelmans vorstellen.
Ursprünglich sollte „Homeland“ deutlich politischer ausfallen, gibt Anderson zu. Zu Beginn der Arbeit regierte schließlich noch George W. Bush: „Ich war damals wirklich wütend und enttäuscht. Doch als sich in den USA die politischen Kräfte verschoben, hatte ich wieder Hoffnung.“ Beim Mixen sortierte sie schließlich die politischen zugunsten der eher persönlicheren Songs aus.
Mit „Only An Expert“ gibt es trotzdem einen Song, der so voller gerechtem Zorn steckt, dass er im meditativen Umfeld von „Homeland“ wie ein Fremdkörper wirkt: „Sometimes other experts say: Just because all the markets crashed doesn’t mean it’s necessarily a bad thing“, höhnt Anderson über die Meinungshoheit des allgegenwärtigen Expertentums. Vor allem musikalisch fällt der pumpende House-Track aus dem Rahmen. Aber so ist das wohl mit Laurie Anderson: Immer wenn man anfängt, sie für ein Klischee zu halten, zieht sie doch noch einen Joker aus der Tasche. Jürgen Ziemer