Gunter Blank geht essen: Kochen mit dem Mond
Ein Argentinier an der Côte d’Azur macht aus natürlichem Gartenanbau und Biodynamik eine nachhaltige Wissenschaft.
Spitzenköche gelten leider immer noch allzu oft als elitäre Snobs, die ihren Gästen mit Tricks aus dem Chemiebaukasten große Kochkunst vorgaukeln. Nun ja, tief sitzende Vorurteile halten sich besonders lange, zumal wenn man sich nicht die Mühe macht, sie bisweilen zu überprüfen. Tatsächlich ist es nämlich längst genau umgekehrt.
Auch wenn die Ansätze, den Gast mit gesunden, ökologisch erzeugten Speisen zu beglücken, unterschiedlich sein mögen, ist vermutlich in keinem Berufszweig die Dichte naturbewusster, auf Nachhaltigkeit achtendender Chefs höher als unter den Sterneköchen.
Ein besonders konsequentes Exemplar dieser Spezies ist der Argentinier Mauro Colagreco, der in Menton im östlichsten Winkel der Côte d’Azur fast an der Grenze zu Italien sein Restaurant Mirazur betreibt, wo er praktisch seine gesamten floralen Produkte nach der Natur abgeschauten und wissenschaftlich untermauerten Methoden in eigenen Gärten anbaut.
Die Entwicklung des Restaurants ist untrennbar mit seinen Sanctuaires du Mirazur verbunden, seinen fünf Gärten, die er in wild wuchernde Schutzräume der Artenvielfalt verwandelt hat. Seit fast zwanzig Jahren verfolgen er und sein Team, in welch unterschiedlicher Weise seine Pflanzen je nach Jahreszeit, Aussaat- und Erntezeitpunkt gedeihen, um sie schließlich im optimalen Moment auf den Tisch zu bringen.
Die wissenschaftlichen Grundlagen für sein Konzept fanden Colagreco und seine Mitstreiter in den Schriften des japanischen Mikrobiologen Masanobu Fukuoka, dessen Werk „Der große Weg hat kein Tor“ die Grundlagen der Permakultur schuf, die inzwischen als das naturnaheste System, Landwirtschaft zu betreiben, gilt.
Zudem orientiert er sich an den Mondphasenforschungen der deutschen Landwirtin Maria Thun, die mit ihrem biodynamischen Aussaatkalender vor einem halben Jahrhundert den Einfluss der Mond- und Gestirnsphasen auf den Pflanzenwuchs dokumentierte und daraus die günstigsten Saat- und Erntezeiten ableitete.
Seltene Pflanzenarten als Zutaten
Besonderes Augenmerk legt Colagreco dabei auf selten gewordene und vom Aussterben bedrohte Arten. „Früher ernährten sich die Menschen von zehntausend unterschiedlichen Pflanzen, heute konzentriert sich unsere Ernährung auf ein paar Dutzend Lebensmittel“, erklärt er in seinem grandios bebilderten, philosophisch unterfütterten Kochkompendium „Mirazur“. Darin schildert er seine Experimente, die ganze Artenvielfalt wieder für die Ernährung zu erschließen und die Flüchtigkeit der unterschiedlichen Entwicklungsstadien für einen Augenblick festzuhalten.
„Es gibt Pflanzenteile, die nur eine oder zwei Wochen in der Natur verfügbar sind“, schreibt er. „Dann verschwinden sie oder bieten veränderte Geschmacksnuancen.“ So entwickelt er für jede Jahreszeit passende Menüs, in denen Wurzeln, Blätter, Blüten und Früchte die Hauptrolle spielen, während Fisch, Fleisch und Geflügel in Nebenrollen dafür sorgen, dass die schmackhaften Gewächse noch heller strahlen.
Das Spektrum reicht von eingelegten Rosenblüten mit Räuchermakrele im Frühjahr über Frühkartoffelragout mit Kabeljau-Kutteln im Sommer und Stockente zur Quittenterrine im Herbst bis zu Ghia-Tacos mit Hirschtatar und Zedratzitrone im Winter.
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Rezept für Tacos mit Hirschtatar
Mit einer Light-Version des Letzteren können Sie Ihre Silvestergäste überraschen, denn während die Ghia-Tacos in einem aufwendigen Verfahren hergestellt werden müssen und von uns deshalb durch schlichte Maistortillas ersetzt werden, stellt das Hirschtatar überschaubare Anforderungen an den Hobbykoch.
Sie müssen dazu nur 200 Gramm mageres Hirschfleisch, 20 Gramm Schalotte, zwei Sardellenflets, 30 Gramm eingekochte Tomaten und 15 Gramm Schnittlauch fein hacken und mit einem Esslöffel Sojasauce, dem Abrieb von einer Biozitrone, etwas Madagaskar-Pfeffer, Meersalz und einem Schuss Olivenöl zu einem Tatar vermengen und in die vorgewärmten Tortillas füllen.
Der Clou indes ist die Garnierung mit dem heimlichen Star dieses Gerichts: vier fein geschnittenen Filets der Zedratzitrone, die dem Ganzen eine ungeahnte Frische verleihen, die geradezu nach Champagner verlangt.