Gunter Blank geht essen: Die perfekte Soundbegleitung fürs Kochen

Kuchen am Telefon: Um das Geschmackserlebnis zu optimieren, sucht Starkoch Heston Blumenthal nach den perfekten Klängen für seine Kreationen

Als vor einigen Wochen der dänische Regio-Avantgardist René Redzepi verkündete, dass er sein mehrfach zum weltbesten Restaurant ausgerufenes NOMA Ende 2024 dichtmachen werde, glaubte man in den feuilletonistischen Nachrufen hinter den Hymnen eine klammheimliche Freude über das Ende eines kulinarischen Revolutionärs auszumachen. Nicht wenige schienen erleichtert, künftig keine Steine mehr ablecken zu müssen und zum bequemen Genuss französischer Klassiker und veredelter Regionalgerichte zurückkehren zu können.

Indes haben die neokonservativen Gourmetkritiker einmal mehr die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn am anderen Ende des kulinarischen Spektrums steht immer noch ein altgedienter Revolutionär bereit, der auch mit 56 Jahren keinerlei Routinen zulässt und sich mit seinem Konzept eines ebenso sanften wie radikalen Kosmopolitismus in völlig neue Dimensionen vorwagt.

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Die Rede ist von Heston Blumenthal, dem genialen Autodidakten, der, als er 1995 ein heruntergekommenes Pub in der englischen Provinz in sein frech The Fat Duck benanntes Restaurant verwandelte, kundtat, dass er künftig alles durchrütteln und neu zusammensetzen wolle. Zehn Jahre später wurde die Fette Ente zum besten Restaurant der Welt gekürt, und nun setzt er zu einem neuen gastronomischen Quantensprung an: Er will neben dem Geschmacks- und Geruchs- auch den Hörsinn in sein Menü einbeziehen und so ein ganzheitliches Erlebnis kreieren. Durchaus plausibel, denn das Auge isst ja schon lange mit.

„Sounds of the Sea“-Sashimi: die von einem mitservierten iPod abgespielten Meeresgeräusche intensivieren den Geschmack von Fisch und Meeresfrüchten

Seine Ideen reichen von einer auf das Essen abgestimmten Soundbegleitung bis hin zur Erforschung potenzieller Vorlieben der Gäste. Die erwägt Blumenthal künftig vorab zu googeln, Charakter und Vorlieben zu ermitteln und jedem eine algorithmisch optimierte, individuelle Menüvariation anzubieten. Was die Soundbegleitung angeht, ist er schon einen Schritt weiter. Angeregt durch die Erkenntnisse des Experimentalpsychologen Charles Spence, der in Oxford zum Thema Klangwürze forscht, entwickelte er ein „Sounds of the Sea“-Sashimi, bei dem von einem mitservierten iPod abgespielte Meeresgeräusche den Geschmack von Fisch und Meeresfrüchten intensivieren.

Eine noch abgedrehtere, gleichwohl verblüffende Variante bot er in seinem Zweitrestaurant House of Wolf an: einen Schokoladenkuchen namens „Sonic Cake Pop“, der von einer Telefonnummer begleitet wird. Wer diese Nummer wählt, erhält die Optionen Süß und Bitter. Und tatsächlich bewirken die hohen Töne, dass die Schokolade als süßer, und die Tiefen, dass sie als bitterer wahrgenommen wird. Professor Spence war von diesem Experiment begeistert. Gemeinsam arbeiten sie daran, die Technologie auf andere Geschmacksrichtungen auszuweiten und bald für zu Hause anbieten zu können. Der Ruf  „Mit Rosalía schmecken eure Spaghetti doppelt so gut!“ könnte künftig helfen, auch widerborstige Kinder an den Familientisch zu locken.

Ehe es so weit ist, kann man sich mit Blumenthals durchaus unironisch betiteltem Werk „Ist das ein Kochbuch? Abenteuer in der Küche“ vergnügen. Tatsächlich handelt es sich um eine von zahlreichen Rezepten begleitete Zusammenfassung seiner Vorstellung von einer allumfassenden Quantengastronomie. Das klingt vielleicht prätentiös, ist aber letztlich nur die systematische Erfassung und kulinarische Nutzbarmachung von Erkenntnissen, die auf anderen Gebieten längst und oft mit manipulativen Absichten angewendet werden.

Man denke nur an Fahrstuhlmusik und Supermarktberieselung. Im Grunde plädiert Blumenthal nur dafür, die Umgebung,
in der wir unser Essen genießen, so zu gestalten, dass die Wahrnehmung der Produkte vertieft und der Genuss erhöht wird. Die Rezepte, die er uns dafür vorschlägt, kann man durchaus als retrofuturistisch bezeichnen. Die meisten glaubt man aus der Kindheit oder dem Alltag zu kennen, wobei das Geniale oft nur in winzigen Veränderungen liegt. Wie beim Triple-Käsesandwich, beim dekonstruierten Tomatenkompott oder beim Müsli. Wie er das so macht, ist ziemlich revolutionär. Kombucha-Cola und Grillen-Ketchup sind da fast nur noch die Zugabe.

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