Grundrauschen im Hamsterrad – Von Bläsern und Konfettiregen unterstützt, setzten Sigur Rós in Berlin ein Signal für die Zukunft
BERLIN, TEMPODROM. Jener Zeltbau namens Tempodrom mit seiner in Beton gegossenen Zeltkonstruktion ist eine kuriose Kombination aus der archaischen Architektur nordischer Urvölker und den sozialen Stadtbauvisionen der Siebziger. Neben den üblichen Pop-Terminen finden hier Comedians wie Oliver Pocher und Otto statt, und auch „Thriller“, eine Musical-Produktion zu Michael Jacksons 50. Geburtstag, ist geplant.
So gut wie heute passte die äußere Hülle zum musikalischen Innenleben freilich selten. Vereinen Sigur Rös doch kongenial urtümliche Visionen von nebelumwehten Schmanenritualen mit dem experimentierfreudigen Geist der Siebziger.
Es ist bereits ihr viertes Konzert in Berlin, bestritten wird es vornehmlich mit den Liedern der neuen Platte, „Með Suð I Eyrum Við Spilum Endalaust“. Erneut ein sperriges Werk mit unaussprechlichem Titel also, durch dessen sphärische Klangwände immer wieder lichte Momente drängen. Gelegentlich säumen kleine Popmelodien die neuen Kompositionen, hier und da sind gar einzelne, herausgelöste Instrumentalpassagen hörbar.
Auf der weiträumigen Bühne unter einer szenischen Kugellampen-Installation angeordnet, eröffnen Jon „Jónsi“ Birgisson und Co. den Abend mit ihrer Erkennungsmelodie „Svefen-g-englar“. Das bedrohlich vor sich hin treibende Stück mit dem markanten Sonar-Geräusch eines russischen Atom-U-Boots vom 1999er Album „Ágaetis Byrjun“ löste damals die Sigur Rós-Euphorie außerhalb Islands aus.
Birgissons glockenhelle Koptstimme legt sich auf die übereinander gehäuften Schallschichten und lullt das bequem sitzende Publikum im ausverkauften Tempodrom langsam, aber sicher ein. Im knapp 40 Meter hohen Dachgewölbe brechen sich die filigranen Töne und strahlen, wie in einem Iglo, scheinbar von überall kommend wieder zurück.
Generell gilt-. Es ist schwierig, ein Konzert von Sigur Rós nicht als erhaben zu bezeichnen, und auch heute haftet der Inszenierungetwas Majestätisches an. Von der titelgebenden Komposition des neuen Albums „Vid Spilum Endalaust“ (was in der deutschen Übersetzung „Wir spielen endlos weiter“ bedeutet“) bis zum melodiösen „Gobbledigook“ von eben dieser Platte, „Gong“ und „Andvari“ vom vorletzten Album „Takk“ (2005) und „Hafsol“‚ vom isländischen Debüt „Von“ (1997) halten Sigur Rós elegische Rückschau. Immer wieder holten sie ein Streichquartett hinzu, das ihre aus Gitarren, Schlagzeug und Orgeln gewobenen Klangteppiche harmonisch ergänzt, und mehrmals kommt gar ein fünfköpfiges, komplett in weiß gekleidetes Bläserensemble auf die Bühne und trompetet durch Nebelschwaden, Blitzlichtgewitter und Konfettiregen feierliche Hymnen in den dunklen Raum. Mitunter fragt man sich ob solchen Tuns, ob der Beatles-Produzent George Martin sich nicht irgendwo hinter den massiven Verstärkertürmen versteckt hält und sich über seinen neusten Coup, die isländische Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, ins Fäustchen lacht.
Bei aller Anerkennung für die von dieser Band betriebene Erweiterung des Rockbegriffs bis hin zur seiner zeitweiligen völligen Aushebelung, lässt das Konzept Sigur Rös aber auch auf ästhetischen und innovatorischen Verbrauch schließen. Wie weit kann man mit diesem pompösen Sound zwischen göttlichem Naturempfinden und umnebeltem Zeitlupen-Experiment überhaupt kommen? Die Auswege sind hier durch Erfahrungen aus der Musikgeschichte durchaus vorgegeben — es geht entweder nur noch opulenter und größer oder man landet im Reich der Obskuritäten. Sigur Rös Auftritt im Tempodrom markiert insofern eine Weggabelung in ihrer Entwicklung: Entweder mutieren die Isländer zu einer bombastischen Popband und begeben sich also auf einen ähnlichen Weg wie vor ihnen Pink Floyd und Genesis — die Eröffnung von Olympiaden und das Ausverkaufen großer Stadien inbegriffen -, oder aber sie werden sich im Zustand des ewigen Grundrauschens im kosmischen Hamsterrad immer weiter drehen.
Wie auch immer die Sache ausgeht: Als erratische Nebelgeister aus dem Land der Geysire kann man sie schon jetzt nicht mehr beschreiben, dafür sind sie zu weltlich.