Grüße aus der Alten Welt
Der Pop-Avantgardist Matthew Herbert über seine Bearbeitung von Gustav Mahlers unvollendeter 10. Sinfonie und den gegenwärtigen Verlust gesellschaftlicher Zusammenhänge.
G ustav Mahlers Werk hat einen sehr menschlichen Kern. Seine Musik ist harmonisch komplex, aber trotzdem durch ihre emotionale Qualität sehr zugänglich. Ich finde, er drückt in seinen Kompositionen ziemlich gut aus, was es bedeutet, am Leben zu sein. In einem Moment kann es banal und winzig sein, vielleicht sogar ein bisschen albern, und im nächsten ist es erhaben und sehr beängstigend.
Mit Mahler endet für mich die Epoche der Romantik – ästhetisch und menschlich. Er starb kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Davor konnte Musik jenseits von Politik existieren, mit dem Krieg starb eine Form von europäischer Unschuld.
Wir haben heute immer noch die Sehnsucht, romantisch zu sein, aber wir sind vermutlich die unglücklichste Gesellschaft, die es jemals gab. Die Lebensstandards in Europa und Amerika sind so hoch wie nie, und doch sind wir die meiste Zeit depressiv. Wir leben in einer sehr unruhigen, unglücklichen Zeit. Alle nehmen irgendwelche Medikamente oder illegale Drogen. Und auch Musik ist für viele nur eine Droge unter vielen, die hilft, von der gesellschaftlichen Wirklichkeit abzulenken.
Wir leben in einer Gesellschaft, die alles aus dem Kontext reißt. Wir exportieren alles: Luftverschmutzung, Kriege, die Produktion unserer Konsumgüter, Nahrungsmittel … Alles, was unsere Gesellschaft am laufen hält, kommt von einem anderen Ort, den wir nicht sehen können. Wir leben in einer Illusion. Und die Art, wie wir Musik konsumieren, folgt dem gleiche Muster. Wir haben den Kontakt zu ihrer Entstehung verloren, wir wissen nicht mehr, wo sie herkommt. Man kann Charlie Mingus neben Britney Spears stellen, ohne anzuerkennen, dass dazwischen 50 Jahre liegen.
In meiner Mahler-Bearbeitung wollte ich daher sowohl den Kontext aufzeigen, in dem die Sinfonie entstanden ist, als auch den, in dem ich sie bearbeitet habe. Der erste Sound, den man auf dem Album hört, ist wie die Tür von Mahlers Kompositionshäuschen in Toblach sich öffnet, der letzte ist die Tür meines Studios in London, die sich schließt. Diese Distanz von 100 Jahren muss man immer mitdenken, denn in dieser Zeit ist die Unschuld, von der ich sprach, verloren gegangen. Ich habe an Mahlers Grab aufgenommen und in einem Krematorium, habe die Sinfonie in einem Sarg abgespielt und von außen aufgenommen.
Aber das Großartige an der 10. Sinfonie ist, dass sie in den besten Momenten alle Umstände ihrer Entstehung – die Eitelkeiten der Musikwelt, die Politik, Mahlers Ehekrise, seine Gesundheit, die Städte zwischen denen er sich bewegte: Wien, Budapest, New York, Toblach – und alle Interpretationen transzendiert. Sie ist einfach ein Werk von jenseitiger Schönheit.
aufgezeichnet von Maik Brüggemeyer