Grimes – Gotischer Hexen-Sabbat
Biederer Wohlklang ist nicht ihr Ding. Die Kanadierin Grimes ist eine der aufregendsten neuen Pop-Sängerinnen und nutzt ihren Gesang als ästhetisches Material
Später am Abend wird sie sich dann noch mit einem Rudel weitgehend unbekleideter junger Männer die Bühne des Berghain teilen. Während die jungen Männer heiter um sie herum hüpfen und tanzen, steht Claire Boucher in leicht nach vorne gebeugter Haltung zwischen diversen Tastengeräten, mit denen sie ihre Stimme sampelt und moduliert. Herrliche Heliumstimmen lockt sie aus dem Computer; gern singt sie auch mit sich selber im Chor, während die jungen Männer um sie herum sich zu klitzeklein gefitzelten sowie dann wieder zu Beats verfugten Stimmschnipseln bewegen. Als Künstlerin nennt Claire Boucher sich Grimes; sie ist 23 Jahre alt, kommt aus Montreal und trägt eine Pferdeschwanzfrisur mit rasierten Schläfen und dazu ein Netzkleid mit aufgenähtem Korsett. Eine tolle Erscheinung! Mit „Visions“ hat sie zudem eine der tollsten Platten des Frühjahrs herausgebracht.
Das Dunkelgebrumm des jüngeren Gothic-Revival wird darin mit R’n’B-Rhythmen gepaart; voll verhalltes Hexengehauche trifft auf rhythmisch hinauf- und heruntergepitchtes Kieksen. Toll daran ist vor allem die Kunstfertigkeit, mit der Grimes ihren Gesang zum ästhetischen Material erhebt und mit anderen artifiziellen Klängen verschränkt. Zwischen Keyboard- und klassischen Synth-Sounds, zwischen gesampelten Geräuschen und den verschiedensten Arten der manipulierten, zerhackten, gefilterten Stimme kann man oft keinen Unterschied hören. „Stimmt“, sagt sie beim Gespräch vor ihrem Auftritt in den Schmink- und Ankleideräumen des Berghains. „Manchmal weiß ich hinterher selber nicht mehr, ob ein bestimmter Sound nun aus meinem Mund kam oder eben von woanders her. Manchmal singe ich etwas und packe dann so viel Hall und so viel Distortion darauf und pitche es dann soweit herunter, dass es sich überhaupt nicht mehr nach menschlicher Stimme anhört. Uhu-huhu-hu! Und dann schichte ich, sagen wir mal: acht verschiedene Stimmaufnahmen so dicht übereinander, dass sie sich wie ein Chor anhören.“
Neben Laurel Halo, Julia Holter und Channey Leaneagh von Poliça ist Claire Boucher die vierte große Entdeckung, die man in diesem Frühjahr unter jungen Popsängerinnen machen kann; es ist überhaupt ein sehr gutes Frühjahr, um junge Popsängerinnen zu entdecken – zumal solche, die sich nicht mehr mit dem biederen Wohlklang der Neo-Lagerfeuer-Folk- oder auch Hintergrundgeplätscher-Jazz-Elfen begnügen, sondern mit ihrem Gesang experimentieren: gleich ob elektronisch oder elektroakustisch, analog oder digital. Gibt es eine „New Wave Of Voice Processing Girls“? Grimes hat jedenfalls ihre eigene Theorie, warum die technisch avanciertesten Ansätze derzeit gerade von Sängerinnen stammen: „Weibliche Stimmen wirken viel besser mit Overdubs. Je höher die Stimmen sind, desto besser kann man sie loopen und daraus Chöre bilden; nicht ohne Grund wurden schon früher so viele Chor-Kompositionen für Knabenstimmen gemacht! Ich liebe Kinderchöre! Herrlich!“
Selbst musiziert sie allerdings am liebsten solo; all ihre bisherigen Platten hat sie vollständig allein eingespielt. Wobei sie Wert darauf legt, dass sie auch auf vorgefertigte Muster und Beats verzichtet. „Nichts in meiner Musik ist irgendwie automatisiert. Alles ist auf elektronische Weise erzeugt – aber mit manueller Bedienung, und ich finde, das hört man auch. Es hat so einen menschlichen Touch! Als wir die Songs für die neue Platte gemastert haben, haben wir auch ein Tonband benutzt. Wir haben die Stimme mit Tonband-Effekten verfremdet, mit Analog-Kompression und so weiter; erst danach haben wir das digitale Mastering vorgenommen.“ Und was sind das für Gerätschaften, mit denen man sie auf der Bühne sieht? „Oh, das ist ganz schön kompliziert! Ich wollte nie nur mit einem Laptop auf der Bühne stehen, dieses männliche Computer-Nerd-Ding: viel zu öde! Eine Live-Performance muss spontan und aggressiv sein! Darum benutze ich zwei Sampler, ein Keyboard, zwei Vocal Pedals mit allen möglichen Effekten, wo ich dann hineinsinge und die Stimme in Echtzeit manipuliere.“ Wieviel wird bei den Shows improvisiert? „Vielleicht 30 Prozent.“ Wieviel läuft dabei schief? „Immer weniger! Ich werde immer besser!“
„Visions“ ist bereits die dritte Platte von Grimes – die erste indes, die auf dem Düster-Pop-Traditionslabel 4AD erschienen ist. Lustigerweise ist gerade sie nun weit weniger düster geworden als ihre ersten Alben „Geidi Primes“ und „Halfaxa“.
Als Grimes vor zwei Jahren mit ihnen auf die Bildfläche trat, wurde sie sofort in das damals erblühende Witch-House-Genre sortiert. „Ich hörte immer:, Du klingst wie Witch House'“, sagt sie, „aber ich wusste am Anfang überhaupt nicht, was das ist. Also hab ich nachgeforscht und hab rausgefunden: Ja, das sind deine Leute! Salem, oOoOO, Balam Acab … Die Art, wie da die attraktiven Aspekte der Gothic-Ästhetik mit R’n’B und HipHop verbunden werden: das finde ich toll! Für Leute in meinem Alter in Kanada und den USA war Witch House eine absolut notwendige Entwicklung!“
Hat sie selber denn eine Gothic-Vergangenheit? „Ja, klar, ich habe mich immer selber als Goth verstanden. Seit ich zwölf war und bis ich 18 wurde! Ich habe zehn Jahre lang meine Haare schwarz gefärbt!“ Das sei vor allem Marilyn Manson zu verdanken gewesen: Als sie musikalisch geprägt wurde, in den späten 90er- und frühen 00er-Jahren, sei er für jeden, der nicht zum Mainstream dazugehören wollte, eine wesentliche Identifikationsfigur gewesen. „Über ihn hab ich dann auch Nine Inch Nails entdeckt und noch später den früheren Industrial, Throbbing Gristle und Coil …“ Inzwischen sei sie aber so lange in die Szene verwickelt gewesen, dass sie das dringende Bedürfnis erhielt, sich anderswo hin zu orientieren.
Begleitend zu ihrer neuen Platte hat Grimes auch eine eigene Ring-Kollektion herausgebracht, gestaltet von einem befreundeten Montrealer Künstler, „ein toller Typ, der in einem alten Fabrikgebäude mit riesigen Tintenfischskulpturen wohnt“. Er hat für sie einen geschmackvollen, fein ziselierten Totenkopfring hergestellt – und ein großen, groben Vaginaring, mit einer blutroten, leicht flauschigen, leicht in sich verzogenen Muschi darauf.
„Ich wollte etwas, das zugleich feminin und aggressiv ist“, sagt Grimes, „und ich wollte etwas, womit man den Leuten noch Angst einjagen kann! Die Musikszene ist ein derartiger Boys‘ Club – ich hab kein Problem damit, meine besten Freunde sind Männer! Aber wenn du die reden hörst … Penis hier, Penis da! Nur vor einer Muschi haben die immer noch so viel Angst, als wäre die Sexualität gerade erfunden worden!“