ROLLING-STONE-Porträt

Grimes: Der Hertzengel ist herabgestiegen

Sie ist die Königin der Generation Laptop. Drei Jahre nach ihrem verstörenden Überraschungserfolg „Visions“, nach Zweifeln und Zusammenbrüchen ist Grimes zurück. Macht „Art Angels“ sie nun zum Superstar? Will sie das überhaupt?

Es gibt wohl keine Musikerin, die mehr verrückte anzieht als Grimes. Man muss nur die Kommentare unter ihren Videos lesen, um im Geiste einstweilige Verfügungen auszustellen: „Bitte lass mich dich kidnappen, damit ich dich lieben und für immer festhalten kann!“ „Du bist der beste Freund, den ich mir immer gewünscht habe.“
„Deine Musik hat meine Seele und mein Herz befreit.“ „Deine Lieder bringen mich dazu, mich anzufassen.“ „Ich hoffe, du kommst bei einem Autounfall ums Leben!“

Vielleicht ist Claire Boucher, wie Grimes mit bürgerlichem Namen heißt, ja selbst schuld, dass der Rummel um ihre Person bei manchen in Obsession und Mystifizierung ausartet. Im Frühjahr 2012, kurz nach Erscheinen ihres gefeierten Durchbruchalbums, „Visions“, erzählte die damals 24‑Jährige, dass ihr die Songs von höheren Mächten eingeflüstert worden seien.

(Photo by Gabriel Olsen/FilmMagic)
(Photo by Gabriel Olsen/FilmMagic)

Willenskraft und Speed 

In einem masochistischen Kreativexperiment habe sie sich tagelang mit Willenskraft und Speed wachgehalten, um in ihrer Wohnung hinter abgeklebten Fenstern auf Halluzinationen zu warten, Boten des Unbewussten, die „die Lücken füllen“, wenn alle Sinne ins Leere laufen. Als ihr dann plötzlich diese Lieder aus den Fingern rannen, habe es sich angefühlt wie ein Geschenk Gottes.

Grimes, die Auserwählte: So will es die Legende, die sie nicht entkräften, auf die sie aber auch nicht näher eingehen mag. Zu oft wurde die seltsame Geschichte trotz Löschung „von irgendwelchen Arschlöchern“ auf ihrer Wiki-pedia-Seite verlinkt. Dabei hatte Grimes sich nach dem Zugrundegehen eines Freundes vorgenommen, nicht mehr öffentlich mit ihrem Drogenkonsum zu kokettieren, genauso wie sie sich abgewöhnen wollte, die Kommentare unter ihren Videos oder auf ihrem Tumblr-Blog zu lesen, „wo es besonders ekelhaft werden kann, weil die Leute da anonym posten“. Doch hält es sie nicht davon ab, im Internet weiter Privates mit der Welt zu teilen.

Auch in Interviews erlebt man die inzwischen 27-jährige Kanadierin ungefiltert. Wenn eine Frage sie beschäftigt, lässt sie einen an ihren sich überschlagenden Gedanken teilhaben, prescht nach vorn, statt innezuhalten, und unterbricht sich immer wieder selbst mit einem lang gezogenen Seufzer, der klingt, als würde ein Amerikaner versuchen, das deutsche „ach“ auszusprechen. „Man kann ganz schön paranoid werden“, sagt sie, auf die unangenehmen Seiten des Ruhms zurückkommend. „Wenn ich mit meinen Freunden unterwegs bin, vergesse ich oft, wie groß Grimes geworden ist. Es ist dann immer wieder erschreckend, wenn Leute in einem Restaurant einfach Fotos von mir machen.“

Die Aufmerksamkeit kam plötzlich und mit einer Wucht, die jeden aus der Bahn geworfen hätte. „Visions“ landete 2012 in den Besten-listen aller großen Meinungsmacher, vom „Guardian“ über die „New York Times“ bis hin zum ROLLING STONE. „Es verwirrt mich noch immer, dass ein Indie-Album solche Wellen schlagen kann“, staunt die Produzentin.

(Photo by Chelsea Lauren/Chelsea Lauren for Dell)
(Photo by Chelsea Lauren/Chelsea Lauren for Dell)

„Enya on acid with dope beats“

Der zu Euphorie neigende „NME“ wählte das in nur drei Wochen fertiggestellte Werk sogar unter die 500 besten Alben aller Zeiten. Alle wollten wissen, wer diese extraterrestrisch wirkende junge Frau ist, die sich so plötzlich in der Popwelt materialisiert hatte (tatsächlich existierten da bereits zwei wenig beachtete Homerecording-Alben namens „Geidi Primes“ und „Halfaxa“) und die mit nichts weiter als dem auf MacBooks vorinstallierten Programm Garage-Band so seltsam verschwommene, hochmelodische, zersplitterte Sphärenmusik fabrizierte. „Oblivion“, der Hit des Albums, klang, als hätten CocoRosie und die Cocteau Twins eine jüngere Schwester, die nicht weiß, wie gut sie aussieht, und sich die Nächte in Technoclubs um die Ohren schlägt. Oder, wie ein YouTube-Nutzer vorschlug: „Enya on acid with dope beats.“

Drei turbulente Jahre hat Grimes gebraucht, um den von Fans und Kritikern herbeigesehnten Nachfolger ihres unwahrscheinlichen Überraschungserfolgs auf den Weg zu bringen. Mit „Art Angels“ könnte ihr gelingen, was Lady Gaga vor Star-Megalomanie und Kunstwillen entglitt, was Charli XCX für Airplay und Werbeverträge aufgab und Miley Cyrus seit ihrer Neuerfindung als kiffender Sex-Freak herbeizutwerken versucht: zur Ikone einer auf virtuellem Boden gediehenen Popkultur zu werden, die mit DIY-Attitüde und Elektronik die Weichen für den Mainstream des 21. Jahrhunderts stellt.

Popchamäleon im digitalen Dschungel

Grimes scheint intuitiv zu verstehen, was es bedeutet, im Überall und Nirgendwo des Internets, in dem alle Zeiten archiviert und jederzeit abrufbar sind, „zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein“. Wie ein menschgewordener Tumblr-Blog umfasst ihr popkulturelles Universum so weit voneinander entfernte Galaxien wie „Sailor Moon“ und Hildegard von Bingen, Barockkunst und Bollywood, Frida Kahlo und George R. R. Martin. Ihre musikalischen Einflüsse ändern sich stündlich, und sie sieht kein Problem darin, Psy, Joanna Newsom, Aqua, Mariah Carey, Marilyn Manson und Sinéad O’Connor in einem Atemzug als musikalische Genies abzufeiern.

(Photo by Astrid Stawiarz/Getty Images for American Eagle)
(Photo by Astrid Stawiarz/Getty Images for American Eagle)

Mit jedem ihrer aufwendigen Fotoshootings entwirft sie eine neue Grimes, die mal wie eine Achsel- und Algenhaar tragende Kreuzung aus Tank Girl und Daenerys Targaryen aussieht und mal wie eine noch von Disney zu entwerfende Science-Fiction-Version von Ronja Räubertochter. Ein Popchamäleon, das sich perfekt an den konstanten Farbwechsel im digitalen Dschungel anpasst, ohne dabei doch an Authentizität zu verlieren. Auf dem Weg zur Ikone stünde ihr eigentlich nur eines im Weg: dass sie nie vorhatte, eine zu werden.

Es ging mir so schlecht, dass mir sogar die Haare ausfielen

Ihren ersten Kurt-Cobain-Moment erlebte Grimes bei einem Festivalauftritt im Mai 2012, einem Augenblick, in dem ihr klar wurde, dass alles langsam außer Kontrolle geriet: „Ich war für das Primavera in Spanien gebucht, mein erster Auftritt vor 30.000 Menschen. Alles war zu knapp geplant, ich rannte aus dem Flugzeug auf die Bühne. Nach der Show dachte ich: Verdammt, ich habe kein Team im Rücken, keine Infrastruktur! Ich wusste nicht mal, wo ich schlafen würde. Mein Manager war ein Freund von der Highschool. Ich war körperlich und geistig total erschöpft, ein Nervenbündel. Es ging mir so schlecht, dass mir sogar die Haare ausfielen. Das war der Moment, als ich noch mal neu anfangen und rausfinden wollte, was ich wirklich will. Die Sache war einfach zu groß geworden, und ich wusste nicht mehr, an wen ich mich wenden sollte.“

Fashion-Ikone ohne Musik

Als sie im Dezember 2013 einen Vertrag bei Roc Nation, der Firma des HipHop-Moguls Jay Z, unterschrieb und wenige Monate später mit dem R’n’B-Produzenten Blood Diamonds eine aalglatte Single namens „Go“ veröffentlichte, ätzten die Blogger, sie habe sich verkauft und es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie aufpoliert und mit Plastik nachgebessert für den Mainstream-Markt paradieren würde. Es lastete ein enormer Druck auf Grimes, man erwartete von ihr nicht weniger als eine neue musikalische Vision. Doch mittlerweile erschien die Sängerin mit den langen Beinen und den Segelohren so oft in Modemagazinen, dass man glauben konnte, sie hätte als Model zu ihrer wahren Berufung gefunden. Karl Lagerfeld schickte ihr Blumen und nannte sie „erfrischend“. Sie ging im Chanel-Kostüm auf die von Fotografen umlagerte Met-Gala und folgte Lagerfelds Katze, Choupette, auf Twitter.

Im Herbst 2014 erklärte Grimes dann überraschend, ein bereits fertiges Album im letzten Moment verworfen und zurückgezogen zu haben. Über „REALiTI“, den einzigen Song, der das Licht der Welt erblickte, wusste sie schon wenig später nichts Gutes zu sagen. Lahm sei er, „nur ‚Visions‘-Niveau“ und in kaum mehr als 20 Minuten geschrieben. „Ich wollte unbedingt ein besseres Album machen als ‚Visions‘. Was ich hatte, war langweilig, langsam, deprimierend. Dieses Zeug dann zwei Jahre auf der Bühne spielen zu müssen wäre schon eine große psychologische Hürde geworden“, gibt sie zu.

(Photo by Nicholas Hunt/Getty Images for Christian Dior)
(Photo by Nicholas Hunt/Getty Images for Christian Dior)

Beim nächsten Versuch wollte sie so lange an ihrer Technik und ihrem Songwriting feilen, bis sich alles richtig anfühlte: Disziplin schlägt göttli-che Eingebung. „Ich würde niemand anderem zumuten, was ich mir selber zumute. Ich arbeite oft zwischen 16 und 20 Stunden am Tag, schlafe zu wenig und mache dazu noch diese riesigen Foto-shootings. Wenn ich abends heimkomme, habe ich diese Art von Kopfschmerzen, die man bekommt, wenn man total ausgelaugt ist.“

Es ist die beste Musik, die ich je gemacht habe

Sie wird nicht müde zu betonen, dass das neue Album, „Art Angels“, ihr erstes Werk als „professionelle Musikerin“ sei, gleichzeitig aber auch eine Rückkehr zu ihren Indie-Wurzeln darstelle. Vor allem „Mellon Collie And The Infinite Sadness“, das 90er-Jahre-Dream-Prog-Mammutwerk der Smashing Pumpkins, sei ein großer Einfluss gewesen, sagt sie. Der Musik hört man das nicht an. Stücke wie „Flesh Without Blood“ und „California“ sind poppiger, größer und eingängiger als alles, was die Laptopkünstlerin bisher gemacht hat. Kein ätherischer Nebel trübt mehr die Sicht auf ihr fast schon unheimliches Gespür für Melodien, auch ihre Stimme ist klarer herausgearbeitet als je zuvor.

„Es ist die beste Musik, die ich je gemacht habe!“, sagt sie euphorisch. „Früher konnte ich nur begrenzt umsetzen, was mir vorschwebte. Früher habe ich Songs zu schnell veröffentlicht, wenn sie sich nur ungefähr fertig anfühlten. Die Gesangsspuren von ‚Visions‘ waren zum Teil noch im Demozustand, bei manchen Stellen zucke ich heute echt zusammen. Ich kann nicht mehr erwarten, dass Menschen zehn Dollar für etwas bezahlen, das noch nicht fertig ist. Ich schulde ihnen etwas. Ich werde auch weiterhin verrücktes, seltsames Zeug aufnehmen, aber dieses Mal haben so viele Menschen im Hintergrund Geld reingesteckt, dass ich keinen hängen lassen wollte.“

Endlich Profi

Neben ihrem Arbeitsethos hat sich auch ihr Equipment professionalisiert. Statt GarageBand verwendet sie jetzt Ableton und Logic Pro, außerdem brachte sie sich das Gitarrespiel bei. Dass sie wieder alles selbst geschrieben und aufgenommen hat, erfüllt die Autodidaktin mit Stolz. In der Vergangenheit hatte sie sich oft darüber beschwert, von männlichen Kollegen nicht ernst genommen zu werden, wenn es um die technische Seite des Musikmachens geht. „Ich heule nicht mehr rum“, sagt Grimes heute. „Ich existiere als weiblicher Produzent in der Öffentlichkeit. Das ist politisch genug.“ Nur beim finalen Mixing ließ sie sich von einem langjährigen Profi über die Schulter schauen. „Es ist schön, wenn man nicht alle Fehler selber ausbaden muss“, sagt sie und lacht, nur um sich kurz darauf wieder an die Erwartungen zu erinnern, die alle Welt an „Art Angels“ knüpft: „Hm, na ja, am Ende muss ich es wohl doch.“

(Photo by Daniel Boczarski/Getty Images for Ketel One)
(Photo by Daniel Boczarski/Getty Images for Ketel One)

Dass das Album im Herbst als Überraschungsveröffentlichung ins Netz gestellt werden sollte, wussten Wochen vorher schon alle. Grimes’ Impuls, auf „Teilen“ zu klicken, war wieder einmal stärker. Ende September reagierte sie auf die wachsende Spannung mit einer weiteren Botschaft auf Twitter: „Die endlosen Spekulationen darüber, ob Grimes ein Popstar werden wird, scheinen außer Acht zu lassen, dass ich eine paranoide Einsiedlerin bin und nicht mal richtig in High Heels laufen kann.“ Understatement. Möglicherweise Panik. Der Gedanke, dass ihr viertes Album auf den vorderen Plätzen der Charts landen könnte, scheint ihr nicht unbedingt zu gefallen. „Wenn der Hype anhält, ist es okay, dann kann ich das Beste daraus machen. Und selbst wenn nicht, ist es mir scheißegal. Es ist mir auch scheißegal, ob die Songs im Radio gespielt werden. Nein, ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn sie nicht im Radio gespielt werden. Ich will nicht, dass das Album auseinandergerissen wird. Ich will, dass Menschen, die es verstehen und cool finden, es in einem Stück genießen.“

Mainstream und Indie: Begriffe aus der Vergangenheit

Wer Grimes wegen ihrer Musik folgt und nicht nur um sie zu stalken oder scheitern zu sehen, wird von ihrer Weiterentwicklung nicht überrascht sein. Pop war sie schon vorher, bloß dass sich die Musik nun nicht mehr hinter verhuschten Hallschichten versteckt. Die qualitative Unterscheidung zwischen Mainstream und Indie, zwischen Kalkül und Kredibilität scheint ohnehin zu verschwimmen in einer Zeit, in der eine konservative Rockband wie Thirty Seconds To Mars zweimal in Folge von MTV in der Sparte „Best Alternative“ ausgezeichnet wird – während Kanye West oder The Weeknd mit den Mitteln des Mainstream künstlerisch progressive Alben veröffentlichen.

(Photo by Roger Kisby/Getty Images)
(Photo by Roger Kisby/Getty Images)

Grimes erinnert sich, wie sie kürzlich zusammen mit ihrem Bruder das neue Album von Lana Del Rey anhörte, während sie auf YouTube Videos von der Erde aus der Weltraumperspektive ansahen. „Wir hatten beide eine Art existenzielle Krise. Der Planet wirkt so zerbrechlich von da oben. Es ist atemberaubend und beängstigend zugleich.“ In Anbetracht der faszinierenden Fülle des Universums findet sie es albern, dass im Pop so viel über Liebe und Sex gesungen wird. „Es gibt so viele andere Dinge, die einen bewegen und berühren können. Man kann einen Popsong über Quantenphysik schreiben und trotzdem schöne Metaphern finden.“ Die ehemalige Philosophie- und Neurowissenschaftenstudentin ist wahrscheinlich die Einzige, die einen solchen Song auch in die Charts bringen könnte. Schon allein deshalb möchte man ihr den größtmöglichen Erfolg wünschen.

Gabriel Olsen FilmMagic
Chelsea Lauren
Astrid Stawiarz
Nicholas Hunt
Daniel Boczarski
Roger Kisby Getty Images
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