Grill-Duell am Alexanderplatz
Dieser Text handelt von verpassten Gelegenheiten, und wer das für einen schlappen Einstieg hält und deshalb direkt weiterblättert, hat das Prinzip verstanden. Nichtdabeisein ist alles.
Am Morgen hatte ich mich nicht in den Keller getraut, so war es schon mal losgegangen. Im Keller lagert meine Vinylsammlung, und weil mir so gar kein gescheites Geburtstagsgeschenk für eine Dame mit dem Nachnamen Paul eingefallen war, hatte ich beschlossen, ihr das Cover der Beastie-Boys-Platte „Paul’s Boutique“ rahmen zu lassen. Für einfältige Geschenke gilt ja, dass sie so groß wie möglich zu sein haben, also das Vinyl-Cover. Doch schreckte ich zurück davor, Gewissheit zu erlangen, ob aktuell mehr der Schimmelpilz oder die Mäusekacke die Verwesung meines LP-Bestands vorantreibt. Lieber neu kaufen, neu ist immer gut. Die Typen vom Konsumklimaindex rufen ja leider nie bei mir an, ich würde das Ding absolut verlässlich ein paar Punkte nach oben jubeln, egal wie es Dax, Euro, Griechenland oder meinem Konto gerade geht.
Im Elektronikkaufhaus am Alexanderplatz gibt es ausgesuchte Platten immer noch auf Vinyl, und wenn eine Platte als ausgesucht gelten dürfte, dann – Hey Ladies! – doch wohl „Paul’s Boutique“. Vor dem Elektronikkaufhaus duellierten sich, wie jeden Tag, der Grillwalker und der Grillrunner, diese beiden (sich in Wahrheit kaum je bewegenden) Helden des Alexanderplatzes, denen ich seit Jahren den Grillparzer-Preis zuzuschustern versuche, vergeblich. Beide haben einen kleinen Würstchengrill um den Bauch geschnallt und einen Schirm über dem Kopf aufgespannt, und sie sehen aus wie dieses ZDF-Mainzelmännchen, das Instrumente eines ganzen Orchesters am Körper befestigt hat und unter Zuhilfenahme beinahe aller Gliedmaßen ganz allein ordentlich Tutti-Lärm macht. Die „Rostbratwurst im Brötchen“ kostet bei beiden momentan 1,20 Euro. Wäre ich Lehrer und müsste meinen Schülern die Mechanismen und Vorteile des freien Marktes erklären, würde ich das anhand dieser mobilen Wurstgrillstationen tun: Erst briet dort nur einer, die Würste kosteten 1,50, dann hat ein anderer das Verfahren kopiert, es gab sogar eine gerichtliche Patentstreiterei, aber jetzt stehen sie sich da täglich gegenüber, haben einander immer wieder um 10 Cent unterboten, nun herrscht bei 1,20 vorläufig Waffenstillstand. Handelt es sich dabei um eine unzulässige Preisabsprache zweier Wurstbrätergiganten oder um einen wettbewerbsbedingt auf ein gerade noch rentables Maß reduzierten Preis, würde ich meine Schüler ausrechnen lassen.
Gerade wollte ich zwischen den beiden Mobilwurstgrillern hindurch ins Kaufhaus treten, da sprach mich eine Art Nachwuchs-Sido an; mit furchteinflößender T-Shirt-Beschriftung, ordentlich Klunkern um den Hals und Sonnenbrille stand er vor mir und erstaunte mich mit seinen Manieren: „Interessieren Sie sich für Rap-Musik?“, fragte er höflich, und weil ich mich ein paar Minuten später mit einer Beastie-Boys-Platte unterm Arm ihm wiederbegegnen sah, bejahte ich. Schön, dann habe er da was für mich – er wedelte mit einer in schlichtes Papier getüteten, so handbeschrifteten wie selbstgebrannten CD. Normalerweise nehme er 15 Euro für sein Debütwerk, heute aber ausnahmsweise nur 5 Euro. Mehr von den Ministerinnen Schröder und von der Leyen doch stets geforderte „Eigeninitiative“ junger Menschen ist kaum vorstellbar, dennoch schüttelte ich herzlos den Kopf, so ganz ohne Probehören sei mir das zu riskant. Aber der höfliche HipHopper gab so schnell nicht auf (wieder ein Ministerinnen-Punkt für ihn!). „Soll ich Ihnen wat vorrappen?“ Ich floh ins Kaufhaus.
Zwar fand ich die „Paul’s Boutique“-LP sofort, allerdings irgendeine Jubiläums-Neupressung, auf deren Cover das für meine Verschenkzwecke so trefflich mit dem Boutique-Fähnchen korrespondierende Schuhladenschild „Ben’s Shoes“ ein entscheidendes Stück an den Rand gerückt ist: „Ben’s S“. Mich und mein Schuhgeschäft hat man um die Ecke gebracht.
Im Single-Regal suchte ich dann die neue Single der Members of Mayday; wenn ich schon die Orgie selbst heuer sausen lasse, will ich doch zumindest die Hymne besitzen, diesen monumentalen Gruß an Technotronic: „Make My Day“. Nicht zu finden. Und für die neue Single der Fantastischen Vier war ich zwei Tage zu früh da. Immerhin, zur Sammlungskomplettierung, „Morning Sun“ von Robbie Williams. Für diesen „Radio Edit“ wurde der ursprünglich vorangestellte Mundharmonika-Witz zwar übel in die Streicher hineingeschmiert, aber das Lied bleibt ein Tränentreiber, ein Wiederauferstehungsfanal (auch wenn die B-Seite „Elastik“ wie ein halbfertiges „Rudebox“-Überbleibsel klingt). Wieder so eine vertane Chance: Hat die Weltbevölkerung Robbie eigentlich ausreichend für sein gelungenes Comeback umarmt? Offenkundig nicht, jetzt muss er „Morning Sun“ im vollgepissten Nichtschwimmerbecken „Willkommen bei Mario Barth“ vortragen.
Nicht weinen, nicht bedauern, vorwärts: Dabei hilft die himmlisch redundante Cabriolet-Tröte „Alors on danse“ von Stromae, schon im Winter war das der Sommerhit des Jahres, diese Single gleich zweimal bitte, eine nämlich als Geschenk für meinen akut französisch lernenden, nach Paris ausgewanderten Kumpel DJ Fetisch. Zwei Tage später wird er nachts aus dem „Maxim’s“, in das er sich mit Kumpel Moritz angelegentlich der Party zum 50. Geburtstag von Gloria von Thurn und Taxis geschummelt hat, melden: „Michel Gaubert hat gerade, Alors on danse‘ aufgelegt, und Europas Adel schleudert die Arme durch die Luft. Bianca Jagger und Karl Lagerfeld sind auch da.“
Ich war in Berlin geblieben. Als dort aber ein paar Wochen zuvor Maurizio Pollini, unser Lieblingskettenraucher unter allen noch lebenden Weltklassepianisten, in der Philharmonie gastierte hatte, nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt, musste ich dringend „Columbo“ auf Super RTL gucken. Zur richtigen Zeit am falschen Ort, das ist mein Motto. Also eine halbwegs neue Chopin-Aufnahme von Pollini mitnehmen, wenigstens das Chopin-Jahr nicht auch noch verpassen. Und weil ich, anders als im letzten und vorletzten, ja in jedem vergangenen Jahr fürs nächste geplant, auch in diesem Frühjahr nicht ein paar Wochen mit der Vespa durch Neapel gepest bin, nahm ich noch eine wunderbar schäbige „Italo Disco“-Box mit, Musik, die leider nur ortsgebunden Zauber entfaltet.
Auf der Rolltreppe, die mich auf dem Alexanderplatz wieder ausspeien sollte, beschloss ich, dem höflichen Rapper unbedingt seine selbstgebrannte Existenzgründer-CD abzukaufen. Vor der Tür standen, einander finsteräugig in Schach haltend, Grillwalker und Grillrunner. Vom höflichen Rapper keine Spur. Also setzte ich mich aufs Fahrrad und fuhr der Sonne entgegen, neue Aben- teuer zu verpassen.