Jan Müller von Tocotronic: „Die Debatte um ein AfD-Verbot wird zu zögerlich geführt“
„Musik kann auch ein Schutzraum sein“, sagt Tocotronic-Bassist Jan Müller. Man könne sich gegen das Schlechte in der Welt wappnen. Ein Gespräch über den Kuss als Waffe, die Hamburger Schule – und den ROLLING STONE.

Auf ihrem neuen, 14. Album, „Golden Years“, besingen Tocotronic den politischen Rechtsruck in unserer Gesellschaft – und die Möglichkeiten, dagegen etwas zu tun. Der Albumtitel, angelehnt an einen Song David Bowies, sei dabei nicht ironisch gemeint. „Musik kann auch ein Schutzraum sein“, sagt Bassist Jan Müller. Man könne sich gegen das Schlechte in der Welt wappnen. Ein Gespräch über den Kuss als Waffe, die Hamburger Schule – und den ROLLING STONE.
Eure Single „Denn sie wissen, was sie tun“ wird als Statement gegen Rechts viel diskutiert: „Darum muss man sie bekämpfen, aber niemals mit Gewalt / Wenn wir sie auf die Münder küssen, machen wir sie schneller kalt.“ Ist „küssen“, also Liebe, die richtige Methode gegen AfD und Co?
Liebe ist ganz bestimmt nicht die richtige Methode, um sich mit der AfD auseinanderzusetzen. In unserem Text wird das jedoch auch gar nicht impliziert. Ganz im Gegenteil wird darauf hingewiesen, dass das auf die Münder küssen eine Möglichkeit des Kaltmachens sei. Zugegebenerweise klingt das in Bezug zur vorigen Zeile widersprüchlich. Ich glaube aber, dass genau diese Dialektik dem Song poetische Kraft verleiht. Und was die richtige Methode betrifft, um sich gegen die AfD zur Wehr zu setzen: Die gesetzlichen Möglichkeiten sind meiner Meinung nach nicht erschöpft. Ich bin der Meinung, die Diskussion um ein Verbot der AfD wird viel zu zögerlich geführt. Außerdem wäre es bestimmt hilfreich, die sozialen Medien derart zu reglementieren, dass die Algorithmen die Menschen nicht mehr mit wenigen Clicks zu Inhalten voller Hass und Hetze lenken.
Tocotronic: Denn sie wissen, was sie tun:
Wollt ihr mit euren Liedern auch Rechtswähler erreichen, oder glaubt ihr, dass eure Musik vor allem eure Hörerinnen und Hörer enger zusammenschweißt?
Wir wollen mit unseren Liedern Menschen erreichen, die Musik lieben. Weitere Vorschriften möchte ich mir ungern auferlegen. Aber ich fürchte, es gibt mittlerweile immer mehr Menschen, die man gar nicht mehr erreichen kann. Wir, als Tocotronic, sowieso nicht (lacht). Und das Bild des „Zusammenschweißens“ finde ich ein wenig bedrückend. Ich glaube, unser Schaffensprozess funktioniert nach anderen Parametern. Unsere Kunst entsteht in der Regel aus einem inneren Bedürfnis heraus. Und wenn wir erleben, dass unsere Songs für Menschen eine positive Bedeutung haben, dann ist das ein sehr beglückendes Gefühl.
„Wir kommentieren nicht, was irgendwelche Nazis in Bezug auf uns sagen“
Wie geht ihr damit um, dass ein rechtsextremer Aktivist wie Martin Sellner euch gut findet, im Glauben, ihr würdet seine Positionen stützen?
Wir kommentieren nicht, was irgendwelche Nazis in Bezug auf uns sagen.
Ein anderer neuer Song heißt „Ein Rockstar stirbt zum 2. Mal“. Tocotronic ist eine der wenigen deutschen Bands, die in mehr als 30 Jahren noch nie durch ein Tief gehen mussten. Ihr standet noch nie vor der Herausforderung, ein Comeback zu schaffen.
Es ist richtig, dass wir bis heute viele positive Kritiken erfahren haben. Aber es ist ganz sicher nicht so, dass wir noch nie negativ über uns berichtet wurde. Gerade in unserer Anfangsphase hatten wir in einigen Zeitschriften einen schweren Stand. Zum Beispiel bei der „Visions“. Es gab auch Skepsis bei der „Spex“ und auch der Rolling Stone war nicht rundum positiv in seiner Berichterstattung. In diesem Heft konnte man seinerzeit vor allem punkten, wenn man im Bereich Classic Rock aktiv war.
„Für mich wäre Tocotronic auch als Comic-Heft-Reihe oder Restaurant vorstellbar“
Es ist allerdings richtig, dass wir nie mit einem Album vollkommen durchgefallen sind. „Ein Rockstar stirbt zum 2. Mal“ ist für mich einer von Dirks rätselhaftesten Texten. Wer ist mit dem Rockstar gemeint? Sind wir damit gemeint? Und, wieso stirbt der Rockstar zum 2. Mal? Sicherlich wurde Rock bereits in den Anfangstagen von Tocotronic totgesagt. Grunge war seinerzeit ein letztes widerständiges Winden dieser Kultur. Das spürten auch wir. Der Aufstieg von Rap und von der elektronischen Musik begann in jenen Tagen. Aber vielleicht hatten wir damals schon gespürt, dass ein Nebeneinander verschiedener Richtungen möglich sein wird. Und die Form war für uns ohnehin nur Mittel zum Zweck. Es klingt vielleicht kokett; aber für mich wäre Tocotronic auch als Comic-Heft-Reihe oder Restaurant vorstellbar. Doch letztendlich ist es das Schönste überhaupt, in einer Band zu sein zu dürfen.
Tocotronic-Alben werden immer seltener. Habt ihr manchmal die Befürchtung, dass zu viele wichtige Themen, über die ihr singen könntet, dabei liegen bleiben?
Also zunächst mal möchte ich betonen, dass wir in fast schon erschreckender Regelmäßigkeit veröffentlichen.
Und was die angesprochenen Befürchtungen angeht, so denke ich, niemand ist frei von derartigen Ängsten. Der Prozess von der Entstehung eines Songs bis zur Veröffentlichung ist lang. Komposition, Aufnahme, Mix, Mastering. Da ist viel Zeit, um Zweifel an der Sache hochkommen zu lassen. Und ohne Zweifel geht es sowieso nicht. Auch wenn sie schmerzlich sind. Zweifelsfreiheit wäre eine Leerstelle im Entstehungsprozess. Ob etwas liegen bleibt, kann ich nicht beurteilen. Aber ich finde den Gedanken eigentlich ganz schön, dass irgendwo etwas Wichtiges unbearbeitet herumliegt. Wer mag schon leere Regale oder Regale, in denen sich nur Überflüssiges befindet.
Es ging um das Skizzenhafte und das Unfertige
Die Pausen zwischen den Platten liegen jetzt im Schnitt bei drei Jahren.
In unserer Frühphase haben wir penetrant oft Alben veröffentlicht. Gegen den Rat unserer Plattenfirma. Wir orientierten uns dabei an Künstlern, die uns seinerzeit begeisterten: Guided by Voices, Smog und Bonnie „Prince“ Billy zum Beipiel. Sie veröffentlichten in atemberaubend kurzen Abständen ihre Werke. Es ging um das Skizzenhafte und das Unfertige. Aber wir hatten nicht das Interesse und die Kraft, das ewiglich zu wiederholen. Jetzt sind wir bei Dreijahres-Abständen angelangt. Diese Regelmäßigkeit ist vielleicht etwas langweilig oder vielleicht sogar zwanghaft. Aber anscheinend ist das jetzt unser Rhythmus. Und Rhythmus sollte in der Musik ja dann doch immer eine wichtige Rolle spielen.
Den Grund für ein paar Konzertabsagen in jüngerer Zeit habt ihr offen kommuniziert: zu wenige Ticketverkäufe. Wie hat sich die Corona-Pandemie auf euch als Band, die in der Musikindustrie eine Bedeutung hat, ausgewirkt?
Die Pandemie hat sich für uns so ausgewirkt, dass sie unsere eben beschriebenen Abläufe vollkommen durcheinander gewirbelt hat. Schön fand ich in jenen Tagen, festzustellen, dass Konzerte auch unter widrigen Umständen dennoch ein schönes Ereignis sein können. Schwierig war und ist die Pandemie für die Konzert-Clubs. Vor allem für die Kleinen Clubs. Das bemerken sicherlich alle, die regelmäßig Konzerte besuchen. Es macht mich sehr traurig, dass viele Clubs aufgeben müssen oder von der Schließung bedroht sind.
Das hat mit einer zunehmenden Stubenhocker-Mentalität vieler und allgemeinen Kostensteigerungen zu tun. Ich kann nicht beurteilen, inwieweit die gestiegenen Kosten in vielen mit der Musik verbundenen Bereichen mit der Pandemie in Verbindung stehen. Leider sind wir ja darüber hinaus mit dem Angriff auf die Ukraine und weiteren negativen Entwicklungen konfrontiert.
„Seinerzeit haben wir haben ein paar Konzerte abgesagt, ja. Und wir haben den Grund für die Absagen auch öffentlich gemacht“
Seinerzeit haben wir haben ein paar Konzerte abgesagt, ja. Und wir haben den Grund für die Absagen auch öffentlich gemacht. Wir waren aber auch nicht die Einzigen, die das getan haben. Die Diskussionen, den diese Konzert-Absage verursacht hat fand ich fruchtbar. So, wie ich ohnehin die Solidarität eines Großteils des Publikums gegenüber den Musiker:innen sehr genossen habe. Diese Solidarität kam übrigens nicht von denjenigen, die nun mit der zweifelhaften Vokabel „Aufarbeitung“ in Zusammenhang mit der Pandemie polemisieren.
Euer Gitarrist Rick McPhail hat eine Auszeit verkündet. Werdet ihr bei der kommenden Tournee, wie in den Anfangstagen von Tocotronic, nur zu dritt auf der Bühne stehen?
Es ist noch etwas früh, aber ich kann sagen: Wir werden aller Voraussicht nach zu viert auf der Bühne stehen.
Wird Rick irgendwann zurückkehren?
Mit Rücksicht auf Ricks Privatsphäre kann ich mich dazu an dieser Stelle nicht weiter äußern.
Schon schade, dass es nie eine amerikanische Doku über Rick McPhail gegeben hat: „Der Expat, der in einer von Deutschlands bekanntesten Bands spielt“.
Das stimmt. Was nicht ist, kann ja noch werden.
„Bowie schwingt in jeder Ritze der interessanten Berliner Orte mit“
„Golden Years“ mutet wie der erste ironische Albumtitel eurer Karriere an. David Bowie meinte seinen Song „Golden Years“, falls dies eure Inspiration war, 1976 jedoch nicht ironisch.
In denke, Bowie schwingt in jeder Ritze der interessanten Berliner Orte mit, insofern wäre es Unsinn, diese Inspiration zurückzuweisen. Zurückweisen möchte ich allerdings den Gedanken, dass unser Albumtitel ironisch gemeint sein könnte. Persönlich betrachtet handelt es sich vielmehr um eine Annahme des Unvermeidlichen. Dass wir uns gesellschaftlich von goldenen Jahren leider derzeit entfernen, statt uns auf sie zuzubewegen, ist hingegen eine interessante Reibung.
In eurem Lied „Golden Years“ singt Dirk von der „Freilichtbühne Recklinghausen“ …
Eine Verfremdung. Es gibt die „Freilichtbühne Recklinghausen“ nicht.
Ein „unzuverlässiger Erzähler“!
Der „unzuverlässige Erzähler“ ist mir der Liebste. Wie auch bei „Denn sie wissen, was sie tun“. In „Golden Years“ schildert der Text eine Zugfahrt, deren Route keinen Sinn ergibt. Von Recklinghausen nach Berlin über Göttingen? So fährt man, so glaube ich, nicht. Wobei, bei den heutigen Zugverbindungen ist vielleicht auch das möglich …
Tocotronic – „Golden Years“:
Wie komponiert ihr heutzutage – jammt ihr auch mal?
Jammen? Nie! Viele unserer Alben haben wir mit unserem langjährigen Produzenten Moses Schneider live aufgenommen. Das erfordert gründliche Vorbereitung im Proberaum. „Golden Years“ entstand anders. Ohne Proben, sondern durch Einzelarbeiten. Erst wurden Dirk Gitarre und sein Gesang aufgenommen, dann Arnes Schlagzeug. Und davor und zwischendurch noch diverse Overdubs. Zum Beispiel zusätzliche Gesänge von Stella Sommer und diverse Instrumente wie Wurlitzer, Piano, Hammond Orgel und Ondes Martenot von Friedrich Paravicini. Außerdem die Trompete bei Golden Years von Harlem Davidson.
Nur selten sind wir uns im Studio begegnet. Auf den ersten Blick könnte man meinen, wir seien in entfremdete Arbeitsbedingungen geraten. Aber interessanterweise ist das Gegenteil der Fall, nur dass der Austausch auf andere Weise stattfindet. Zudem ist die Live-Aufnahme auch immer ein Filter. Durch die Technik der Live-Aufnahme werden zwangsläufig gewisse Dinge hinausgefiltert. Zwischentöne und Komplexitäten. Und genau diese Dinge haben uns diesmal besonders interessiert.
„Ich empfinde unsere 30-jährige Bandgeschichte als großes Glück“
Dirk und Du werdet 54, Arne 55. Ihr habt euch das Image jugendlicher Protestmusiker erhalten. Mit 54 spielte Herbert Grönemeyer ein Album namens „Schiffsverkehr“ ein, Udo Lindenberg, vom Radar verschwunden, mit 54 eine Platte namens „Der Exzessor“. Beide Musiker galten da schon als angestammt.
Unsere Karriere verlief mit Sicherheit wesentlich linearer als die Karrieren der beiden genannten Beispiele. Man kann das langweilig finden – aber ich kann damit gut umgehen. Ich empfinde unsere 30-jährige Bandgeschichte als großes Glück. Vielleicht gerade deshalb, weil sie uns vor dem ganz großen kommerziellen Erfolg bewahrt hat.
Tragt ihr manchmal noch eure Retro-Shirts und -Jacken, wie auf den Fotos und Covern? Ich denke da an das Bussi-Bär-Shirt oder das schwarze Shirt mit dem silber melierten Panther …
Ich habe neuerdings wieder Gefallen an skurrilen Motiven gefunden. Bussi Bär ist, wie wir alle wissen, ein Protagonist aus dem Kauka-Universum; also aus dem alten dunklen Königreich. Er ist auch der große Antagonist von Bummi Bär. Aber das führt zu weit. Auf alle Fälle ist es vollkommen daneben von mir, solch ein Shirt zu tragen. Ich bitte alle, die es betrifft, um Verzeihung. Das Panther-Shirt trug Dirk in der K.O.O.K.-Ära. Es waren die Zeiten unserer Single „Let There Be Rock“. Der Song ist die Beschreibung einer Ernüchterung. Unsere Beziehung zum Genre Rock ist, wie es oben bereits anklang ein wenig kompliziert. Was mich persönlich betrifft: Einerseits fand ich das mit der Rockmusik verbundene Machotum schon immer bescheuert. Aber andererseits riefen die Rock-Klischees in mir dann doch eine tiefe Sehnsucht hervor.
Jüdische New Yorker Superhelden
Du bist Kiss-Fan, richtig?
Ja, seit 1982 in etwa. Das sind ja allerdings keine Rock-Machos, sondern jüdische New Yorker Superhelden. Wer genau hinschaut, der kann übrigens sehen, dass Dirk auf dem Plattencover unseres Debuts ein Kiss-Shirt trägt.
Tocotronic zählten zu den Interviewpartnern der ARD-Dokumentation „Die Hamburger Schule – Musikszene zwischen Pop und Politik“, die heftig kritisiert wurde, weil viele Protagonisten, überwiegend Frauen, darin gefehlt hätten. Wie nahmst Du die Diskussion auf?
Die Diskussionen, die als Reaktion auf den Film entstanden, entsprachen ironischerweise exakt dem, was die Hamburger Schule war: Diskurs, gerne hitzig geführt. Zum Teil kam jedoch eine Wut in die Debatte, die ich wohlwollend eher dem toxischen Charakter der sozialen Medien, als den Beteiligten zurechnen möchte. Trotzdem befremdete mich die Giftigkeit mancher Äußerungen. Zurück zur Dokumentation: Ob man sie gelungen findet oder nicht – man sollte der Regisseurin und Autorin Natascha Geier anrechnen, dass durch sie die Hamburger Schule in ein breites mediales Licht gerückt wurde. Ich gestehe aber auch ein: Ich kann hier bequem Urteilen, da uns in der Dokumentation viel Raum eingeräumt wurde.
In den Jahren 1994 bis 1996 waren die Big Three der Hamburger Schule: Blumfeld, Die Sterne und Tocotronic. Hatte eigentlich irgendjemand damals versucht, die drei Bands für ein gemeinsames Interview zusammenzubringen? Oder hattet ihr mal an gemeinsame Single-Veröffentlichungen gedacht?
Ich erinnere mich an Interviews, die ich zu bestimmten Anlässen gemeinsam mit Jochen Distelmeyer einerseits und Frank Spilker und Christoph Leich andererseits geführt hatte. Allerdings ist mir entfallen, für welche Medien.
Vor unserer Zeit mit Tocotronic hatte das „L’age d’or“-Label die „H.E.L.P“-Single herausgebracht, 1989 war das. Mit Kristof Schreuf, Bernadette La Hengst, Tobias Levin und vielen mehr. Eine Weihnachtssingle! Der Auftrag wurde also bereits vor unserer Zeit erfüllt. Aber im Kern ging es ja in Hamburg seinerzeit um Diskurs und nicht um zu verschmelzen.