Glenn Gould: Herz und Mund und Tat und Leben
Glenn Gould saß auf einem nur 30 Zentimeter hohen Stuhl und spielte die Klaviertasten mit dem Gefühl, als ob sie unter seinen Fingerkuppen nach unten gesogen wurden: Er interpretierte Johann Sebastian Bachs "Goldberg-Variationen" wie niemand zuvor, beschummelte sein Karma und erlitt dafür einen tödlichen Schlaganfall. Stephan Timm über Sandrine Revels Graphic Novel "Glenn Gould, Leben Off-Beat"
Die “Clavier Ubung bestehend in einer ARIA mit verschiedenen Verænderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen“ wurde von Bach für den Cembalisten Johann Gottlieb Goldberg geschrieben. Gould gelang es, die eigentlich für ein Cembalo mit zwei Tastenreihen komponierte Musik auf einer Klavier-Klaviatur zu spielen. Seine Aufnahmen dieser 30 Variationen eines zu Beginn gespielten zweiteiligen Tanzsatzes sind weltweit die bekanntesten, und sein Name ist eng mit diesen verbunden.
Glenn wurde mit dem Familiennamen Gold geboren. Die Familie änderte sieben Jahre nach seiner Geburt ihren Namen zu Gould, um nicht irrtümlich für Juden gehalten zu werden, und die ersten sieben Jahre Klavierunterricht erhielt Glenn von seiner Mutter, die ihn zwang, beim Spielen mitzusingen. Trotzdem studierte er später Klavierspiel und Musiktheorie in Toronto; dort wurde ihm eine besondere Technik vermittelt: Er sollte mit dem Gefühl spielen, dass die Klaviertasten unter seinen Fingerkuppen “heruntergezogen“ und nicht von den Fingern von “oben niedergeschlagen“ wurden.
Zu einer Besonderheit seiner Aufnahmen ist sein deutlich hörbares Mitsummen zur Musik geworden — eine Eigenart, die Gould erlaubte, sich nicht auf das Anhören der von ihm gespielten Töne konzentrieren zu müssen und so nicht vom Suchen nach gespielten Fehlern abgelenkt zu werden. Diesen Zusammenhang erkannte er zum ersten Mal, als er, auf seinem Klavier übend, an einer bestimmten Stelle wiederholt scheiterte: Dann staubsaugte die Putzfrau im Zimmer, und plötzlich gelang es ihm, fehlerfrei durchzuspielen, da sein eigenes Spiel von einem anderen Geräusch überlagert wurde.
Auch mir geht es am besten, wenn ich Musik höre und der Klang aus meinen Kopfhörern mich abschirmt vom Straßenlärm oder vom Klangteppich des Großraumbüros. Oft höre ich dann die Kirchen-Kantate “Herz und Mund und Tat und Leben“ von Johann Sebastian Bach und denke über mein Herz, meinen Mund, meine Taten und mein Leben nach und wie es mir gelingen könnte, Neigung und Pflicht in ein Gleichgewicht zu bringen, um dadurch eine schöne Seele zu erlangen. Und dann fühle ich oft so, wie der Schauspieler Frank Giering als Floyd in dem Film „Absolute Giganten“ sagt: “Weißt du, was ich manchmal denke? Es müsste immer Musik da sein, bei allem was du machst. Und wenn es so richtig scheiße ist, dann ist wenigstens noch die Musik da.“
Nachdem Gould zehn Jahre auf den wichtigsten Konzertbühnen der Welt aufgetreten war, wollte er nicht mehr vor Publikum spielen, denn es wartete seiner Meinung nach nur darauf, dass er einen Fehler macht; diese öffentlichen Auftritte erlaubten ihm auch nicht, seine zwanghaften Wiederholungen zu spielen: Wenn Gould bei Studioaufnahmen eine Note als nicht perfekt von ihm gespielt fand, wiederholte er die Passage so lange, bis er zufrieden war. Teilweise dauerte dies tage- und nächtelang. Diese Wiederholungen und die Kommentierungen seiner eigenen Fehler (“I was cheated by one note!“) sind auf einigen Tonträgern der „Goldberg-Variationen“ mit enthalten.
Einen Tag zu wiederholen, wenn ich etwas Unbedachtes gesagt und dadurch jemanden verärgert oder verletzt habe, das würde ich auch gerne noch einmal können. Doch dies wäre Schummelei, wie ein Freund mir sagte, als ich ihm von diesem Wunsch erzählte: “Schummelei am Karma, das sich täglich verbessern und verschlechtern lässt, aber das Schlechte ist eben nicht löschbar“, meinte er. Und vielleicht gehören unbedachte Äußerungen, wie all meine Fehler, auch zu mir, zu dem Menschen, der ich bin, ob ich will oder nicht.
Wenn ich wüsste, dass ich Gesagtes und Getanes ungeschehen machen könnte, würde ich der Versuchung erliegen, zu sagen und zu tun, was ich bislang nicht aussprach und tat, noch bevor dieser Absatz zu Ende gelesen wäre (ich würde übrigens auch was anderes schreiben) — ja, ich wäre sofort dazu bereit!
In Glenn Goulds „Goldberg-Variationen“ erkannte ich einen roten Faden, der mein Leben durchzog, den ich aber zuvor nicht erkannt hatte: Meine Tage wiederholen sich, auch in ihrer Andersartigkeit. Das Kantinenessen bietet eine sich wiederholende Abwechslung, ebenso das Fernsehprogramm. Mein Leben als Variation von Wiederholungen, für mich stehen die „Goldberg-Variationen“ daher für das Leben, für 31 Tage, für einen Lebensmonat. 31-mal: Aufstehen, waschen, arbeiten oder einkaufen gehen, essen, Bier und Glotze, schlafen.
Das habe ich erkannt, als ich die Graphic Novel “Glenn Gould, Leben Off-Beat“ der Französin Sandrine Revel gelesen habe. Die Zeichnerin war selbst Pianistin und arbeitete mehrere Jahre an dieser Comic-Biografie. Unaufgeregt und zugleich charmant erzählen die in einem ruhigen Strich ausgeführten Zeichnungen das Leben Goulds, dabei vermitteln phantasievolle Bildkonstruktionen einen Einblick in seine Gedanken und Gefühle und beschreiben seinen Weg in die Einsamkeit und letztlich seinen Tod; er starb kurz nach seinem 50. Geburtstag an den Folgen eines Schlaganfalls.
Diesen Text habe ich mehrfach angefangen, Wörter gestrichen und Sätze verschoben. Anders als Gould tat ich dies nicht aus einem Zwang heraus: Ich wusste beim Tippen dieser Zeilen noch nicht, wohin mich meine Gedanken zu Glenn Gould, zu den „Goldberg-Variationen“, zu Johann Sebastian Bach und letztlich auch zu mir leiten würden. Aber war das jetzt auch Betrug an meinem Karma?
Sandrine Revel: „Glenn Gould, Leben Off-Beat“
(Knesebeck Verlag, gebunden, 136 Seiten,
durchgehend farbig illustriert,
aus dem Französischen von Anja Kootz)