Glaube, Liebe, Hoffnung (22): Da müsset mir scho‘ aufpasse‘!
Heute Abend ist Schluss: Odysseus gegen Siegfried, elf Männer gegen elf Bubis, - EM-Blog, Folge 22
„Man sieht nur, was man weiß.“
Michael Klier
„Alles, was ich über das Leben weiß, weiß ich vom Fußball. Hier war meine eigentliche Universität.“
Albert Camus
Ob es wohl eine Frage der Intelligenz ist, dass Özil die Nationalhymne nicht mitsingt? Ich glaube schon. Man muss sich grundsätzlich fragen, ob die Lebensintelligenz vielleicht mitentscheidend ist für den Erfolg einer Mannschaft? Die Antwort heißt Ja, und deshalb ist Italien heute Abend Favorit.
Fußball ist ein Spiel der Erinnerung. Neben dem Spiel selbst gibt es eine zweite, parallele Geschichte. Die Menschen laufen mit den Erinnerungen an das Spiel, an sie selbst während des Spiels, durch die Gegend. Dies ist der Zauber des Fußballs. Das Spiel in den Köpfen und Erzählungen dauert länger als 90 Minuten. Es gibt keine Zeitbegrenzung, keine Uhr. Es dauert ein Leben lang. Es ist sehr intim, fast geheimnisvoll. Denn Eingeweihte verständigen sich in Geheimsprache miteinander.
Fußball ist aber auch ein Spiel der Erwartung. Des Vorlaufs. Zur parallelen Geschichte gehört die Vorstellung, wie es wäre wenn, was man hofft, wünscht, fürchtet, glaubt.
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Hängen wir uns also aus dem Fenster: Ich kann nicht glauben, dass diese deutsche Mannschaft diese italienische Mannschaft besiegen kann. Und ich wünsche es mir auch nicht, weil man dieser zu gesichtslosen Truppe und ihrem mechanistischen, unschönen Stil, ihrem Spiel ohne klare Handschrift die Grenzen aufzeigen muss. Und natürlich einer deutschen Mentalität zwischen Bravheit und Hybris, die weit über Fußball hinausgeht.
Mindestens um des Fußballs willen, darf das keinen Erfolg haben.
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Wie die schon aussehen mit ihren kurzen Angestelltenfrisuren. Nicht wenige wie Chorknaben. Natürlich nicht Khedira und Hummels, (letzterer aber auch öffentlich zu klug, also nur anders brav), auch kaum Kroos, Özil und Boateng – tolle Fußballer. Schweinsteiger, wenn er fit ist steht über allem, trotzdem im Terminator-Körper ein kleiner Junge steckt. Aber die anderen ehrgeizigen, beflissenen, blassen Buberl? Müller ein Junge vom Land, der seine beste Zeit schon hinter sich hat, auch Neuer ein Lausbub ohne Reife. Und Mario Götze, Julian Draxler, Josuah Kimmich, Julian Weigl….
In Deutschlands Mannschaft geben die weichgespülten Typen den Ton an. Sie reden nichtssagende Sätze, vorgestanzte Phrasen, sie haben keine Power, repräsentieren nichts Anstößiges, nichts Freches, keinen kleinen Exzess, keine Perversion, sieht man mal von einigen Tatoos ab. Wie soll man so gewinnen? Fragt man sich. Das Interessante ist aber: Sie gewinnen ja. Bis jetzt. Jedenfalls gegen Slovaken, Nordiren, Uklrainer. Wo man auch mal hätte schön und offensiv spielen können. Sie gewannen aber mühsam und verkrampft und gegen Ukrainer nur mit Glück.
Deutschland – „Ich sag ja immer noch BRD“ zitieren wir an dieser Stelle den Filmverleiher Thorsten Frehse -, das BRD-Team also bricht mental oft zu schnell zusammen. Nicht Özil und Khedira, nicht Hummels und Boateng, aber der Rest. In der deutschen Mannschaft können keine vier Spieler so dribbeln, wie jeder Spanier, jeder Belgier. „Die sind ja ausgeschieden.“ lautet die vorhersehbare Einrede. Ja, leider. Den schöneren Fußball spielen sie trotzdem.
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Na gut, kann ja natürlich sein, dass heute Abend Deutschland die italienische Mannschaft erstmals in einem offiziellen WM- oder EM-Turnier besiegen wird. Es kann auch sein, dass die schwarze Serie der Deutschen gegen die Italiener auch diesmal wieder ein neues Kapitel bekommt. Zumindest eines spricht dafür: Die Italiener waren bisher einfach besser.
Sie haben die Belgier geschlagen, die Spanier aus dem Turnier geworfen, sie spielen wie der listenreiche Odysseus. Heute Abend trifft dieser auf den tumben Siegfried.
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Die Italiener sind großartig und perfekt auf ihre Art. Notfalls im Destruktiven: Wie Aristoteles formulierte: Es gibt auch eine Perfektion des Diebes, eine Perfektion der Krankheit.
Erfolgreicher Fußball ist, das zeigt Italien, Wille und Geduld. Erfolgreicher Fußball hat auch was mit Erfahrung zu tun. Spielerfahrung und Lebenserfahrung, mit Härte und Chuzpe.
Und man kann ja sagen, was man will, aber wenn man diese italienischen Spieler sieht, die 11 Männer, die heute Abend gegen 11 Bubis antreten, „La Bestia“ Buffon, das Tier im Tor, Abwehrspieler, die schon aussehen wie eine Michelangeloskulptur, die mit Eiseskälte das Spiel unter Kontrolle halten, und den Gegner schockfrosten, Graziano Pelle und Eder, die alles andere als tumben Brecher im Doppel-Sturm, dann kann man sich vorstellen, wie die Renaissance wohl wirklich gewesen ist, mit welcher Verachtung die Condottiere der Stadtstaaten und des Papstes seinerzeit auf die verklärten Wiedertäufer und religiös erleuchteten aufständischen Bauern aus Deutschland blickten, die die Bibel ernst nahmen, statt sich um das Wesentliche zu kümmern, die ihren Gottesstaat errichten wollten, ohne Rücksicht auf die Menschen. Merkel und Löw, die sind wie der Rechthaber Luther, der „rasende Mönch“ (Nietzsche), Bismarck und die anderen, deren Namen wir hier jetzt nicht nennen wollen, die sind der böse kalte Norden. Buffon, Barzagli, Chiellini, de Rossi, Giaccherini und Florenzi – das ist der Süden!
In jedem Fall ist klar: Was immer auch im Fußball überhaupt und heute Abend im Besonderen geschieht, Brot hin, Spiele her: Das Symbolische, also Ästhetische wird in Deutschland seit jeher chronisch unterschätzt.
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Und darum auch das Italienische. Die Verachtung, die der Deutsche seit jeher für den Italiener hegt – „Ihr seid ja nur Pizzalieferant“ -, wird beim Fußball schnell in blanken Hass verwandelt. Man muss da nicht die Fußballgeschichte bemühen – das 3-4 beim „Jahrhundertspiel“ 1970, das 1-3 beim WM-Finale 1982, das Ende des „Sommermärchens“ 2006 durch ein 0-2, dass überlegene 1-2 bei der letzten EM.
„Wenn es um Fußball geht, zeigt sich, dass am deutschen Wesen immer noch die Welt genesen muss“, schreibt Birgit Schönau in ihrem hervorragenden Buch „Calcio. Die Italiener und ihr Fußball“, „So finden deutsche Kommentatoren italienischen Fußball reflexartig ‚grauenhaft langweilig‘.“
Vielleicht ist den Spielern der „Squadra Azzura“ viel mehr präsent, dass es darum geht, gegen diese Mentalität ein Zeichen zu setzen.
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Im Fußball lässt sich ganz gut beobachten, wie nichts bleibt wie es ist, wie sich die Dinge ständig ändern und alles in Bewegung ist.
So begann die Dominanz des spanischen Ballbesitzspiels bereits nach 2012 zu bröckeln. 2014 bekamen die Spanier von einem glänzenden holländischen Konterteam die Quittung dafür, dass sie nicht vermochten ihr System flexibel zu halten. Die EM 2016 bedeutet das vorläufige Ende des 4-2-3-1, auch Tiki-Taka genannt. Zumindest in seiner bisherigen Form. Spanien wird in Zukunft mit mehr Varianten auflaufen müssen, und seinen Flügelsturm beleben. Doch keineswegs sind Ballbesitzfußball und Tiki-Taka „tot“. Eher muss man sich auf ein geringfügig riskanteres 3-5-2 einstellen, statt des bisherigen 4-5-1.
Viele Teams kehren derweil zu einem klassischen Aufbau in Form einer Dreierkette in der Abwehr zurück, kombiniert mit einem Doppelsturm. Das heißt dann entweder 3-5-2 oder 4-3-3, wobei im letzteren Fall ein Stürmer sich ins Mittelfeld zurückfallen lässt, im ersteren ein Mittelfeldspieler wie ein klassischer Libero noch hinten geht.
Es wird interessant sein, zu sehen, wie die Deutschen, die unter Löw bislang den Spaniern nacheiferten und ein 4-2-3-1 spielten, auf das neuerliche Desaster der Furia Roja reagieren werden.
Löw ist dabei ein wenig in der Falle seiner früheren Niederlagen gegen Italien. Sollte er sich nämlich auf die italienische Spielweise gegen Spanien einstellen und seinerseits umstellen, drohen ihm im Fall der Niederlage massive Vorwürfe. Bereits beim 1:2 im Halbfinale der EM 2012 wurde Löw vorgeworfen, umgestellt und seinen Spielern eine neue Taktik verordnet, sie dadurch verwirrt zu haben.
Sollte er umgekehrt aber im spanischen Stil weitermachen, wäre das den Italienern durchaus recht.
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Die Italiener spielen einen 3-5-2-System, das gegebenenfalls in Abwehr- oder Angriffssituationen ins -3-4-3 wechselt. Zu erwarten ist hohes Pressing der Italiener, dass also das deutsche Mittelfeld wird unter massiven Druck gesetzt werden wird. Die Italiener werden zudem auf schnelle Konter setzen, und dürften ihre Angriffe dabei vor allem über rechts und halbrechts führen. Das heißt: Aus italienischer Sicht sind Hector und Hummels verwundbarer als Kimmich und Boateng. Vor allem auch Boatengs Tendenz, sich auf die Sechserposition ins defensive Mittelfeld zu schieben, macht die Deutschen für hohe lange Bälle und schnelle Gegenstöße über die Flügel verwundbar.
Es wird hochinteressant sein, zu sehen, ob die Italiener auch wie gegen die Spanier mit dem Mittel bewusst abgebrochener Konter agieren. Das hatte in der Praxis zur Folge, dass die Italiener mindestens im Ballbesitz etwas weiter aufrücken und ihren weiteren Vorstoß in relativer Ruhe aufbauen konnten, während die Spanier in ungewohnter Verteidigungsposition standen. Oder Italien sogar seinen Gegner im Moment der Reorganisierung der Abwehr durch plötzliche Rhythmuswechsel überraschen.
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Die Frage, ob Löw auf eine Abnutzungsschlacht setzt oder seine Chance in der Offensive über die Flügel sucht, könnte spielentscheidend sein. Die Löw-Elf ist noch ohne Gegentor. Aber Hummels und Boateng sind es nicht mehr so gewohnt, gegen zwei Stürmer zu spielen. Selbstüberschätzung kann man ihnen immerhin nicht nachsagen.
Die Deutschen können nur gewinnen oder scheitern, dazwischen gibt es nichts.
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Als seinerzeit bei der WM 1990 Italien gegen Argentinien antrat, hielt ganz Italien der eigenen Nationalmannschaft die Daumen
Ganz Italien? Nein! Eine gar nicht kleine, aber um so unbeugsamere Metropole war nahezu geschlossen für Argentinien. Neapel, die drittgrößte Stadt einer der größten Fußballnationen der Welt, wollte, das Argentinien die Squadra Azzurra besiegt. Denn Neapel stand geschlossen hinter Diego Armando Maradona, der seinerzeit beim SSC Neapel spielte, obwohl er für ein anderes Land antrat. Auch hier sollten wir von den Italienern, genauer den Neapolitanern lernen.
Kann man als BVB-Fan wirklich mit Bayern-Neustar Kimmich bangen, und freut man sich mehr, wenn Thomas Müller endlich sein Tor schießt, oder wenn er wieder vorbeisemmelt?
Es fühlt sich vieles richtig und falsch zugleich an. Wirft man alles über Bord, was man elf Monate im Jahr nicht aus dem Kopf bekommen will? Findet man plötzlich schrottige Sänger gut, weil sie Deutschland beim ESC vertreten? Isst man Fischbrötchen, weil man sich mit Hamburg identifiziert?
Man kann eine Mannschaft unterstützen, weil sie die eigene Herkunft verkörpert oder den Ort in dem man lebt. Man kann sie aber auch genau aus dem Grund hassen. Man kann eine Mannschaft aber auch lieben, weil sie den Fußballstil repräsentiert, den man schätzt, oder für ihre geilen Spieler, ihren genialen Trainer, ihr tolles Trikot. Oder nur deswegen weil sie ein Underdog ist, oder weil man ein einziges unvergessliches Spiel mit ihr gesehen hat. Die echten Fans können gar nicht gut erklären, warum sie zu einer Mannschaft halten. Sie tun es einfach. Echte Liebe.
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Der Süden ist das Reich der Sonne und des Rettungsschirms, des besseren Lebens und des besseren Essens, der Kunst und des Laissez-faire. Der Süden, also Spanien und Italien stehen für Gelassenheit statt Hysterie, für Leben heute, statt Leben morgen, für Diesseits statt Jenseits, für ausgeben statt sparen, für Konsum statt „Geiz ist geil!“, für „passt scho'“ statt „Das muss aber seine Ordnung haben“, für Ferien statt Nachhilfe, Männermacht statt Frauenpower.
Wenn heute Abend auch eine Entscheidung fallen sollte zwischen Nord und Süd, dann muss man für den Süden sein. Denn der Süden soll sich nicht nach dem Norden richten, sondern umgekehrt. Unser Fußball muss unvernünftiger werden, spielerischer, leichter, katholischer. Durch den Brexit ist Europa glücklicherweise römischer, katholischer, südlicher geworden, der Fußball sollte nachziehen. Hoffen wir also, dass Italien ein Zeichen setzt. Oder dass Deutschland und sein Fußball italienischer wird. Denn von Italien lernen, heißt bekanntlich siegen lernen. Nicht nur im Fußball.
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Der schlimmste, dümmste Satz in dem Zusammenhang fängt so an: „Ich interessier‘ mich eigentlich nicht für Fußball, aber wenn Europameisterschaften sind…“ Diese Leute malen sich dann schwarz-rot-gelbe Schminke auf die Backen.
Kurz und gut: Man muss die DFB-Elf heute nicht lieben. Man darf für Italien halten. Als Deutscher, als Europäer. Als Fußballliebhaber.
Buchhinweis:
Birgit Schönau: „Calcio. Die Italiener und ihr Fußball“; KiWi, Köln 2006 [vergriffen]