Glaube, Liebe, Hoffnung (15): Die EM und das Brexit-Spektakel
Not und Ziele: Die geopolitische Landkarte des Achtelfinales, und das große Brexit-Spektakel: Die Europäische Union während der Europameisterschaft – EM-Blog, Folge 15
„Die EM ist nicht nur ein Fest des Fußballs, sondern auch ein Fest der europäischen Idee.“
François Hollande, französischer Staatspräsident
Wer immer noch glaubt, Fußball habe mit Politik nichts zu tun, der muss in einer anderen Welt leben. Gewiß: Kurzschlüsse sind so wenig erlaubt wie plumpes Gebolze auf dem grünen Rasen. Aber schon der römische Dichter Juvenal, von dem die Formel „Panem et circences“ (Brot und Spiele) stammt, wusste, dass die Organisation der Gelüste politische Auswirkungen hat.
Schon ganz konkret: Die Taktung der Gesellschaft funktioniert in diesem Monat nach der Struktur 15 Uhr, 18 Uhr, 21 Uhr. Brücken und Ausfallstraßen sind verstopft, wenn Deutschland spielt, Redakteurinnen verlassen den Abeitsplatz früher als gewohnt, weil sie „heute mal Fußball schauen“ wollen.
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Über Anspannung und Entspannung der Gesellschaft entscheidet jedes Spiel der nächsten vier Wochen ein klein wenig mit. Auch unter den Politikern wird es Sieger und Verlierer geben. Wer sich als Anhänger der europäischen Idee und Gegner aller rechtspopulistischen und rechtsextremistischen, fremdenfeindlichen, antirechtsstaatlichen Tendenzen begreift, der wird den entsprechenden Politikern in den Regierungen Polens, Ungarns, der Slowakei und der Türkei kein Glück wünschen – schade, dass die diese Länder repräsentierenden Nationalmannschaften nun bis auf die Türken im Achtelfinale dabei sind. Denn Erfahrungen zeigen, dass das Abschneiden bei Fußballturnieren deutliche Auswirkungen auf die politische Zufriedenheit der jeweiligen Bevölkerung hat.
Und noch konkreter: Hätte Frankreich das Eröffnungsspiel gegen Rumänien nicht gewonnen, hätte sich die angespannte Stimmung im Land verschärft.
Oder wäre England in der Vorrunde ausgeschieden, also vor der heutigen Abstimmung über den britischen EU-Verbleib, hätte das den Briten auch die Lust am politischen Europa noch weiter genommen.
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Wobei ja ein Hauptkritikpunkt an der britischen Rolle in Europa, und ein Grund, für die gar nicht so klammheimliche Freunde, die viele Europäer empfinden werden, wenn Großbritannien heute seinen EU-Austritt erklären sollte, ja das sogenannte „Cherry Picking“ der Briten ist, der Hang der Insulaner, sich nur das Beste und für sich Nützlichste aus dem europäischen Kuchen herauszuholen, und sich ansonsten in einer „splendid isolation“ zu sonnen.
Es ist in diesem Zusammenhang nur ein kleines, aber allzu sprechendes Detail, dass es die Briten sind, die bei der derzeitigen Fußball-Europameisterschaft seit jeher mit gleich vier Teams antreten (und damit natürlich die Chancen der anderen vermindern): England, Schottland, Wales, Nordirland. Warum eigentlich? Und warum stellt das niemand infrage? Klar, es gibt historische Gründe. Aber mit solchen Gründen könnten die Spanier auch mit je einer kastilischen, einer katalanischen und einer baskischen „Nationalmannschaft“ antreten, womöglich auch einer galizischen. Und warum starten die Deutschen nicht mit einem bayerischen, einem westdeutschen und einem ostdeutschen Team? Divided we fall?
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Auch die geopolitische Landkarte des Achtelfinales spricht Bände: Qualifiziert haben sich sämtliche Teilnehmer des Westens und Südwestens. Nicht qualifiziert sind sämtliche Länder des Ostens und Südostens. Drei mittelosteuropäische Länder sind qualifiziert (Polen, Ungarn, Slowakei), zwei andere (Österreich, Tschechien) schafften das nicht. Schon die zuvor für das Turnier nicht qualifizierten Länder stammten sämtlich aus der politischen Peripherie, aus dem Osten, Südosten, und Nordosten. Das einzige europäische Kernland, das sich diesmal nicht qualifizieren konnte, sind die Niederlande.
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Es stimmt zwar: Fußball ist das Gegenteil zu den herrschenden Verhältnissen. Hier ist Europa grenzenlos, hier ist Migration ausdrücklich erwünscht, Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte wird leicht gemacht und gefördert, ebenso die Integration von neuankommenden Fremden und ihren Angehörigen. Gegen Familiennachzug hat auch keiner etwas einzuwenden. Hier ist das Publikum klassenlos und noch der kleinste Fußballarbeiter ein Großverdiener. Es herrschen geradezu utopische Gerechtigkeitsmodelle, denn während die Gesellschaft eher nach dem Modell einer „ewigen Tabelle“ funktioniert, kann man im Fußball Punktekonten nicht vererben, und wie bei jedem Turnier die Nationalmannschaften, fangen jedes Jahr alle Vereine wieder bei Null an.
Andererseits spiegeln natürlich diverse Vorgänge rund um den Fußball die herrschenden Verhältnisse: Die finanzielle Ausstattung der Großvereine wie der Nationen, die fußballerische Stärke bestimmter Städte und Regionen spiegelt Ökonomisches, die soziale Herkunft der Spieler, der Wandel der Stadionarchitektur – von der Erdmulde zur designten Hysterieschüssel, von der Kampfbahn zur Arena, vom distanzerhaltenden Sportfeld zum engen Emotionsklotz -, schließlich die mediale Aufbereitung und Präsentation des Fußballs.
Kurz: Fußball ist ein „Realitätsmodell“ (Klaus Theweleit). Im Kleinen, Überschaubaren taugt es als Spiegel für die ganze Welt.
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Dass sich über Fußball auch gesellschaftliche Konflikte austragen und verhandeln, beschwichtigen und zuspitzen lassen, zeigte sich erst gerade bei den rassistischen Anwürfen der AfD-Spitze gegen Spieler der deutschen Nationalmannschaft: Özil und Boateng sollen, wenn es nach den Rechten geht, nicht dazu gehören – aus Gründen der Hautfarbe und der Religion. Da zählen auch Verfassungsnormen wie Menschenwürde, Gleichheit der Bürger und Religionsfreiheit nicht mehr.
Natürlich benutzen AfD und Co damit nur die Nationalmannschaft als Projektionsfläche und versuchen sie im Sinne ihrer Ideologie zu instrumentalisieren.
Bereits 1998 waren Rassenfragen im Fußball zum Thema gemacht worden: Der WM-Sieg der „Équipe Trícolore“ wurde auch als Sieg einer „bunten“ multikulturellen Gesellschaft begriffen, und als Abbild eines Landes, in dem alle Menschen, alle Herkünfte und Hautfarben zumindest prinzipiell die gleichen Rechte und Chancen haben.
Es geht im Sport, vor allem im Mannschaftssport für die Massen, immer auch um Identitätssuche, Identitätsbestätigung. Das hat der deutsche Erdogan, Alexander Gauland von der AfD besser erkannt als andere, darum möchte er ja Özil, Boateng und anderen die deutsche Identität verweigern.
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Es geht aber auch um die europäische Idee. Zwar war die Behauptung, durch das zunehmende Zusammenwachsen der EU würden die Europameisterschaften abgeschafft, hirnrissig. Als ob durch das Zusammenwachsen der Bundesländer die Bundesliga abgeschafft würde. Trotzdem verraten die Europameisterschaften natürlich viel über das Europa der Gegenwart: Das EM-Europa ist nämlich schon mal viel größer, als das der EU. Schade zwar, dass die Griechen diesmal nicht dabei sind. Doch dass EM-Europa reicht vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer, von Island bis nach Kurdistan. Hier ist der Idealismus längst real geworden, an den Evelyn Roll in ihrem lesenswerten Buch „Wir sind Europa!“ etwas verzweifelt appelliert.
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Relikte des Nationalismus sind – insbesondere in Deutschland – vor allem die Nationalhymnen und der nationalistische Gesinnungstest, welcher Nationalspieler diese vor dem Spiel mitsingt. Die richtige Antwort hierauf wäre eigentlich, wenn die Mannschaft verkünden würde, bis auf Weiteres aufs Mitsingen komplett zu verzichten. Da wäre auch ein symbolische Absage an die allgemeine Amerikanisierung des Sports. Bis in die 80er-Jahre haben deutsche Nationalmannschaften nie mitgesungen. Das deutsche Nationalhymnenmitsingen ist ein junges Verhalten – in einer toleranten, offenen Gesellschaft sollte es jedem selbst überlassen, wie er wann mitsingt.
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Viele deutsche Fans haben neben ihren oft zwei, drei oder mehr deutschen Lieblingsvereinen auch Lieblingsclubs im Ausland. Sie schauen im Internet (früher im Teletext am Fernseher) wie der AS Rom oder der OSC Lille, wie Atletco Madrid, Betis Sevilla, Feyenoord Rotterdam und Aston Villa gespielt haben. Trotzdem gilt bei den Europa- und Weltmeisterschaften „eine Art Zwang … mit den deutschen Mannschaften mitzuzittern“ (Theweleit).
Auch hier übernehmen Fiktion und Phantasma das Kommando.
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Zugleich ist die Fußball-EM aber ein Schauplatz der Deutlichkeit. Zwar können auch die Griechen gewinnen, und das ist gut so. Meistens aber gewinnen die Deutschen, oder die Franzosen, die Spanier oder die Italiener. Briten und BeNeLux sind gut dabei, Dänen und Ösis schaffen Überraschungen. Die anderen müssen sich hinten anstellen. Die EM zeigt: Europa ist kein Schauplatz der Gleichheit, sondern eine der Macht. Es ist kein Kindergarten, wo der Klügere immer nachgibt. Es ist auch keine Schulklasse, wo der langsamste Schüler das Tempo bestimmt, oder ein Inklusionsexperiment, wo Behinderte nicht mehr so heißen und jeder „besonders Befähigte“ aus Prinzip aufgenommen wird.
Nein, die EM macht deutlich: Es geht in sozialen Verbänden um Chancengleichheit, es geht um Regeln, an die sich alle halten müssen, aber es geht auch um Wettbewerb, es geht um Sieg und Vermeidung von Niederlage. Im Fußball ist das sichtbar, was anderswo versteckt wird, was stattfindet, aber aus Gründen der „Political Correctness“ tabu ist.
Genau darum spielen Boateng und Özil mit: Weil sie das Team besser machen. Weil eine ethnisch von Migranten und Nichtchristen gesäuberte Nationalmannschaft keine Chance hätte. Nicht weil die Nationalmannschaften als Repräsentanten des Volkskörpers derart normativ aufgeladen sind, dass ihre Teilnahme vorgeschrieben wäre.
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Im Fußball ist deswegen so viel von Kameradschaft die Rede, weil sie eben nicht der Fall ist. Weil es im Kern – auch innerhalb einer Mannschaft – um Rivalität geht. Der Fußball enthüllt die – für manche bittere – Tatsache, dass das Zwischenmenschliche im Kern destruktiv ist. Elf Freunde „müsst“ ihr sein – weil ihr es nicht seid.
Gesellschaft ist nicht Nächstenliebe und Humanismus, sondern „Verbrechen und Strafe“ und Legitimation durch Verfahren. Genau darum gilt eben auch: Wer sich nicht an die Regeln halten will, wer Sonderregeln und Extrapunkte möchte, der sollte beser gar nicht mitmachen, oder rausgehen und allein spielen.
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Wenn am Schluss des Turniers dann Deutschland gegen Frankreich im gefühlten Finale – diesmal „Halbfinale“ genannt – spielen sollte, dann wäre dies zumindest ein schönes Bild, in dem die europäische Idee zum Fernseh-Spektakel wird. Nicht Feinde würden aufeinander treffen, sondern Freunde. 100 Jahre nach Verdun würde dann schlimmstenfalls noch von aufgeschlagenen Knien Blut fließen.
Der Zweikampf zwischen Deutschland und Frankreich ist immer das Duell zweiter Fußball-Kulturen gewesen. Er spiegelte die verschiedenen Mentalitäten, das verschiedene Lebensgefühl der ungleichen Nachbarn, wie die unterschiedliche Wahrnehmung des Fußballs. Gerade hat der ARTE-Film „Ziemlich beste Gegner“ diese Geschichte des Fußball in Deutschland und Frankreich noch einmal erzählt.
Literaturhinweise:
Michael Ebmeyer: „Das Spiel mit Schwarz-Rot-Gold“; Berlin 2014
Gunter Gebauer: „Sport in der Gesellschaft des Spektakels“; St.Augustin 2002
Evelyn Roll: „Wir sind Europa!“; Berlin 2016
„11 Freunde“ – Euro 2016. Das Sonderheft; Berlin 2016
„Kicker“ – Sonderheft EM 2016; Nürnberg 2016