Glatteis der Liebe
Mit "Blankets" beweist Craig Thompson, wie vielschichtig Graphic Novels sein können
In den USA hat sich die Graphic Novel längst als literarisch anspruchsvolle Form des Comics etabliert. Hier zu Lande hingegen wird das Genre noch immer von vergleichsweise zotigen Cartoonisten wie Walter Moers oder Ralf König dominiert. Ein Unterschied ums Ganze. Denn die Etiketten „Comic“ oder „Cartoon“ werden epischen Meisterwerken wie der jetzt ins Deutsche übersetzten Initiationserzählung „Blankets“ von Craig Thompson beileibe nicht gerecht Drei „Harvey“- und zwei „Will-Eisner“-Awards hat der 28jährige Autor aus Oregon diesen Sommer mit seinem semiautobiografischen 600-Seiten-Opus abgeräumt – die Oscars und Goldenen Palmen der amerikanischen Graphic Novel-Szene.
Kein kurzweiliger Comic-Strip, sondern vielschichtige Prosa mit exzellentem Storylining in Text und Bild: „Blankets“ erzählt von einer Jugend im Wisconsin der frühen 90er. Der schüchterne und etwas naive Craig wächst in einem Kaff im Mittelwesten der USA auf. Der protestantische Fundamentalismus seiner verarmten Eltern ist ihm dabei keine große Hufe. In der Schule wird er gehänselt und von den Mitschülern verprügelt Freunde hat er keine. Selbst die Lehrer strafen den introvertierten Einzelgänger mit schlechten Noten ab. Alles läuft schief für Craig.
Trost findet der Außenseiter nur in der Heil verkündenden Welt der Bibel und beim örtlichen Pfarrer, der nicht müde wird, Craig mit katechistischen Kniffen zu einer geistlichen Karriere überreden zu wollen. Bereits in seiner Pubertät droht der sensible Jugendliche, den Anschluss an das wirkliche Leben zu verlieren.
Bis er in einem Wintercamp Raina kennenlernt Auch sie eine Außenseiterin mit Hang zu christlicher Metaphysik. Aber mutiger und lebenslustiger ab Craig. Und bildhübsch. Die wenigen Wochen, die er mit seiner ersten großen Liebe verbringt, werden Craig mit einem Paukenschlag aus der erstickenden Enge bigotter Glaubensbekenntnisse befreien und ihm die Augen öffnen für die Welt und die lebensbejahende Kraft der oftmals unendlichen Vertracktheit menschlicher Beziehungen.
Beeinflusst vom unverwechselbaren Zeichenstil des amerikanischen Ausnahme-Künstlers Art Spiegelman („Maus“), hat Thompson nach seinem ebenfalls mehrfach prämierten Debüt „Good-bye, Chunky Rice“ von 1999 mit „Blankets“ einen Bestseller gelandet. Binnen weniger Wochen gingen Zehntausende von Exemplaren über die Ladentheken des US-Buchhandels.
Und dies zu Recht: Denn die todtraurige, aber wunderschöne Teenager-Lovestory berührt zutiefst und legt behutsam und ganz ohne falsches Pathos die Erinnerungen der Leser an die eigenen ersten Gehversuche auf dem Glatteis der Liebe frei. Bis zur allerletzten Seite bangt man um das Glück der beiden Verliebten. Wird es ein Happy End geben? Nur große Literatur vermag so fesselnd die kleinen Geschichten des Lebens zu erzählen.
Dabei hat Thompson den unvermeidlichen Grunge-Bezug seiner Story nebst dazugehöriger Hooklines einer zur „verlorenen Generation“ gehypten Jugendkultur zwischen Depression, Drogen und Nirvana auf Zimmerlautstärke reduziert. Gut so. Denn so läuft „Blankets“ nie Gefahr, vom melodramatischen Getöse des 90er-Jahre-Zeitgeistes übertönt zu werden. Kurt Cobain ist nur noch ein Poster in einem Jugendzimmer, eine Ikone unter vielen.
Dies schafft Räume für die feinfühlige Handlungsführung und Thompsons tiefe Sympathie für seine jugendlichen Helden, was „Blankets“ in die Nähe des amerikanischen Sozialdramatikers Stewart O’Nan („Engel im Schnee“) rückt. Hier wie dort geht es weniger um große Gesten denn um aufrichtige Gefühle.
Und diese versteht Thompson in Momenten kristalliner Schönheit meisterhaft durch ruhige, fast schon fragile Schwarzweiß-Bilder jenseits aller Worte auszudrücken. In solchen Augenblicken spielt Thompson gekonnt die Stärken der Graphic Novel gegenüber reiner Text-Prosa aus. Immer wieder hält man inne, verweilt bei einer einzelnen Zeichnung so lange, bis diese endlich ihre ganze Sprache entfaltet hat, um erst dann mit einem versonnenen Lächeln im Gesicht weiterzublättern.
Der illustrierte Roman „Blankets“ ist zum Aufschluchzen schön, aber garantiert frei von Kitsch. Eine beachtliche Leistung für einen so jungen Autor wie Craig Thompson.