Glam, Version 2.0 – die Rückkehr des Hedonisten-Rock
Dank erfolgreicher Epigonen wie The Darkness darf sich der Rockfan wieder zum Glam-Metal der 80er Jahre bekennen - und längst abgemeldete Pioniere wie Mötley Crüe können sich plötzlich vor Film-, Buch- und Reissue-Angeboten kaum retten.
Als Nikki Sixx mit seinem silberfarbenen Porsche vor einem „Starbucks“ nahe Malibu parkt, schauen sich zwei Teenager im lässigen Surfer-Outfit vielsagend an. „Cool car!“, findet der eine. Der andere glotzt erst mal, als der tätowierte Mann aussteigt. „Cool“, stimmt er dann zu, „that’s the guy from Mötley Crüe!“ Vbr zwei Jahren hätten sie ihn noch ausgelacht Es ist viel passiert in den vergangenen Monaten, und plötzlich darf man es wieder sagen: Glam-Metal ist gar nicht so schlecht wie sein Ruf! Da tauchen The Darkness auf, zwar aus England und nicht aus L.A., aber mit derselben Attitüde wie Mötley und Guns N‘ Roses in den glorreichen 80er Jahren: Rock muss aggressiv sein und eingängig, der Chorus fett, das Video grell, die Kleidung so bunt wie möglich. Immer over the top. Bloß nicht gewöhnlich. Ob dies eine kleine Konterrevolution ist gegen die shoegazers der 90er, bei deren Konzerten man Band und Publikum nur noch unterscheiden konnte, weil die Musiker Instrumente hielten? Keine Show, keine Bühnenoutfits, keine Pyros – kein Spaß, findet Sixx noch heute.
Als Grunge all die Metal-Bands wegfegte, deren Make-up-, Drogen- und Frauen-Verschleiß im Zuge ihres Erfolgs außer Kontrolle geraten war, mussten die einstigen Superstars umdenken- was vielen sichtbar schwerfiel Den wenigsten gelang es, sich über die 90er Jahre zu retten. Was sich heute Ratt, Warrant, LA. Guns oder Guns N‘ Roses nennt, hat wenig mit der Originalbesetzung zu tun. Da kam Mötley Crüe ihr Background zugute, den man bei all dem Glitter fast vergessen hatte: Die vier waren mal kleine Punks, die sich mit Straßen-Schläue und unverwüstlichem Selbstbewusstsein durchs Leben schlugen, keine verwöhnten Beverly-Hills-Kinder.
Sie hielten die Durststrecke durch, aber um die Jahrtausendwende wusste Sixx, der Bassist, Songschreiber und Kopf der Band: Es muss etwas passieren. Mit RoLLDSG STONE-Autor Neil Strauss schrieben Mötley Crüe ihre Autobiografie, extrem detailliert und erstaunlich ungeschönt – und das so passend betitelte „The Dirt“
wurde 2002 in den USA sofort ein Bestseller, die deutsche Übersetzung folgte schnell. Auf einmal interessierten sich Menschen für die Band, denen der LA.-Glam immer suspekt wat Die aber doch gern ein paar saftige Geschichten über Sex, Drogen und Rock’n‘ Roll hören wollten. Und als Chuck Klosterman „Fargo Rock City“ veröffentlichte, in dem er dezidiert erklärte, warum er Crüe und Glam immer lieben wird, war nicht nur Stephen King begeistert, sogar David Byrne empfahl die Lektüre.
Es wird wieder bunt: Der 8öer-Jahre-Rock kommt – leicht abgewandelt – zurück Rock&RollDann fingen junge Bands wie The Ataris und The Get Up Kids an, Mötley-Songs zu covern. Die Donnas spielten nicht nur „Too Fast For Love“, sondern verkleideten sich als ihre forbilder, obwohl gar nicht Halloween war. Poison-Sänger Bret Michaels kam keine zehnjahre, nachdem sein „Unskinny Bop“ Nummer eins der US-Single-Charts war – auf die Idee, jeden Sommer mit drei Glam-Metal-Bands aus den guten alten Zeiten zu touren – und das anfangs belächelte Spektakel verkaufte sich in diesem Jahr vielerorts besser als Lollapalooza. Twisted Sister spielten als Headliner auf diversen europäischen Festivals vor Zehntausenden frenetischen Fans. Die deutschen Donots vergingen sich an deren alter Hymne „We’re Not Gonna Take It“, die Manie Street Preachers spielten bei Konzerten auf einmal „It’s So Easy“ von Guns N’Roses. Und 18 Jahre, nachdem The Replacements recht betrunken Mötleys JVIerry Go Round“ gecovert hatten, ist es jetzt wieder so weit: Junge Bands trauen sich auf einmal zu sagen, dass sie von uns beeinflusst wurden“, sagt Sixx mit einem milden Grinsen. „Vor ein paar Jahren galten wir als schlechter Witz. Jetzt wollen dauernd Leute, dass ich Songs für sie schreibe.“ Meat Loaf gehört dazu und die Nu-Metaller Saliva, denen er mit „Rest In Pieces“ einen Radio-Hit verschaffte.
Weil er von den wenigsten jungen Bands viel hält („The Darkness sind allerdings lustig!“), hat Nikki Sixx vor kurzem eine neue Band gegründet, Brides Of Destruction und da findet man schon den nächsten Überlebenden: Die Gitarre spielt Tracii Guns, ehemaliger Guns N’Roses-Mitgründer und I~A.Guns-Chef. Ihr Debüt wird Anfang nächsten Jahres veröffentlicht „Die Songs sind anders als all das Zeug, was zurzeit läuft. Obwohl sie die üblichen Elemente haben: Punk, Pop, Metal. Aber es sind richtige Songs, die nicht alle gleich klingen! Ich gehe nicht unbedingt davon aus, dass es erfolgreich wird – damit kann ich leben. Zum Glück muss ich nicht mehr aufs Geld schauen. Ich brauchte nie mehr zu arbeiten, wenn ich nicht wollte. Mir geht es nur noch um die Musik.“
Nebenbei kümmert er sich allerdings auch um die Belange von Mötley Crüe. Da ist einiges zu tun, nun, da die Band wieder so gut im Geschäft ist Nachdem jüngst alle alten Alben wiederveröffentlicht wurden, erschien gerade das Boxset „Loud As F@ k“, mit zwei CDs und einer DVD. Die Nachfrage ist groß, aber Nachschub wird es erst einmal nicht geben: „Neue Songs schreibe ich momentan nur für die Brides. Dafür gibt es bei Mödey genug anderes zu erledigen.“
Stichwort: „The Dirt“. Die Filmversion der Autobiografie soll nächstes Jahr in die Kinos kommen. „Das Script Ist fertig, wir haben es schon abgezeichnet Paramount ist auch einverstanden, jetzt wird das Geld freigegeben, und dann dauert der Dreh wohl ein halbes Jahr. Der Film soll ein bisschen wie ‚Trainspotting‘ werden.“ Xfer das Buch kennt, fragt sich freilich, wie der Film relativ jugendfrei gestaltet werden kann. „Vbr allem geht es ja ums Überleben. Man könnte die Drogen weglassen und den Sex, und es bleibt immer noch genug übrig. Das Entscheidende ist das Leben von diesen vier dysfunktionalen Menschen, die auf magische Weise zu einer dysfiinktionalen Band zusammenkamen. Alles andere kam später: die Drogen, die Autowracks, die Villen, die Playmates. Der Wahnsinn.“Jedenfalls gibt es schon einige, die an den Hauptrollen interessiert sind: Johnny Knoxville („Jackass“) soll wohl Sixx spielen, als Tommy Lee ist angeblich Ashton Kutcher im Gespräch.
Zwei Bücher werden 2004 weiteren Einblick ins Leben der Crüe geben: Tommy Lee schreibt an einer eigenen Autobiografie, und Sixx bearbeitet mit Neil Strauss gerade „The Heroin Diaries“, seine Aufzeichnungen aus den Jahren ’86/’87, in denen er schwerst abhängig war – und an mindestens einer Überdosis fast gestorben wäre. Ein paar Minuten lang war er klinisch tot. Nachdem man ihn im Krankenhaus wiederbelebt hatte, ging er nach Hause und setzte sich sofort den nächsten Schuss. Das, sagt er heute, war der schlimmste Moment in seinem Leben. Er dauerte etliche Monate. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals damit aufhören könnte. Aber jetzt sitze ich hier bei .Starbucks‘ und mummle an einem Muffin.“
Das nächste große Ziel ist eine große Abschiedstour, spätestens 2005 um allen noch einmal zu zeigen, dass es von „Live Wire“ bis „Kickstart My Heart“ viele Mötley-Songs gibt, die auch heute noch Bestand haben. Zwar liest man jede Woche auf den Lieblingsseiten aller Glam-Freunde, aufwwwjnetal-sludge.com oder www.glam-metaLcom, Gerüchte um den Zustand der Band, aber Sixx wiegelt ab: „Bei uns geht es immer auf und ab. Wir sind gute Freunde, dann reden wir nicht mehr miteinander, dann versöhnen wir uns, streiten wieder und so weitet“ Zurzeit sieht es gut aus. Fortsetzung folgt Falls es mit der Crüe doch nicht klappt, wird er eben mit den Brides losziehen. Neulich waren die als Vorgruppe von Mudvayne eingesprungen. Da wusste im Publikum keiner, wer die Leute auf der Bühne sind. „Die kannten weder Tracii noch mich. Sie rockten einfach mit, weil ihnen der Sound gefieL Es ging nicht nur um Autounfälle, Pornostars und Überdosen. Es ging tatsächlich um Rockmusik.“ Das ist freilich die Hoffnung aller, die nach einer erfolgreichen Band eine zweite gründen: dass ihnen die Vergangenheit nicht dauernd nachgetragen wird, ob per Bewunderung oder Vorurteil. Die übriggebliebenen Mitglieder von Guns N’Roses wissen ein Lied davon zu singen. Während W. Axl Rose seit Jahren mit wechselndem Personal an “ Chinese Democracy“ arbeitet, haben seine ehemaligen Kollegen sich anderweitig orientiert. Drummer Steven Adler, der schon 1990 gefeuert wurde, gründete jüngst Suki Jones gemeinsam mit einigen Ratt-Musilcern und Brent Muscat, dessen Band Faster Pussycat einst als größte Konkurrenz von Guns N‘ Roses galt. Und erstmals seit Jahren, nach vielen eher erfolglosen Projekten (Slash’s Snakepit, Duff, Loaded, you name it), scheint zumindest aus einer GN’R-Nachfolgeband ein richtig großes Ding zu werden: Velvet Revolver. Zunächst gab es nur das Gerücht über „The Project“ -Gitarrist Slash, Bassist Duff McKagan und Schlagzeuger Matt Sorum tun sich wieder zusammen, mit Dave Kushner an der Zweit-Gitarre.
Zeitweilig war sogar GN’R-Gründungsmitglied Izzy Stradlin dabei, aber der verabschiedete sich, so Slash, „sobald wir anfingen, mit Sängern zu proben. Die Erfahrung mit Axl hat ihn so fertiggemacht, dass er sich weigert, je wieder mit einem Sänger zu tun zu haben“. Und es wurden viele Sänger durchgetestet Zuerst wollte man es mit Josh Todd versuchen, aber dessen Band Buckcherry war schon nicht mehr als ein blasser GN’R-Abklatsch, der Mann also zu unspektakulär. Man probte mit Sebastian Bach (Ex-Skid Row) und Travis Meeks (Ex-Days OfThe New) – und überraschte dann alle: Scott Weiland sollte es sein, der einstige Stone Temple Pilots-Sänger, der in den letzten Jahren vor allem durch Drogenprobleme und Gerichtstermine auffiel.
Den Sommer verbrachten Velvet Revolver im Studio, doch Ende Oktober wurde Weiland schon wieder verhaftet Er hatte ein parkendes Auto gerammt, offensichtlich benebelt und wurde zu zehn Tagen in der Entgiftungs-Station verdonnert, bekam aber täglich vier Stunden „frei“, um – in Begleitung eines Polizisten weiter aufzunehmen. Sechs Monate Reha kommen nun noch auf ihn zu. Ob es für ihn ein Happy End gibt wie bei Nikki Sixx? Einer der ersten Velvet Revolver-Songs, der fertiggestellt werden konnte, heißt „Fall To Pieces“.