Gigant aus dem Schatten
Fast zehn Jahre spielte JAMES GANDOLFINI in vielen Filmen nur am Rande mit. Seit er als Tony Soprano zum TV-Star wurde, stiehlt er auch im Kino allen die Show
Die italienische Abstammung sieht man ihm nicht unbedingt an. Ihm fehlt der stereotype Charme, diese sizilianische Glut oder patriarchalische Ausstrahlung wie etwa von AI Pacino, Danny Aiello, Robert Loggia oder amore, amore – Dean „Dino Crocetti“ Martin. James Gandolfini, korpulent, ja fast massig, mit Halbglatze, fleischiger Nase und den Gesichtszügen eines traurigen Clowns, sieht vielmehr aus wie ein beliebiger Mittelklasse-Amerikaner. Er könnte Autoverkäufer sein, Bauarbeiter, Vertreter für Rasenmäher oder einer dieser anonymen Angestellen und Familienväter, die zwischen New York und den Suburbs von New Jersey pendeln.
In einem dieser Orte, Westwood, ist Gandolfini auch geboren und aufgewachsen. Mehr als sein halbes Leben hat er in New Jersey verbracht, dort die Rutger Universität besucht, dann Lastwagen gefahren und als Barkeeper gearbeitet, bis er nach New York auf die Schauspielschule ging. Danach hat er Theater gespielt und seit Anfang der Neunziger auch Kinorollen. Nebenrollen in großen Filmen. Acht, neun Jahre, in denen er nahezu unbeachtet blieb und gerade genügend Aufmerksamkeit erregte für den nächsten Job. Anders verläuft das Dasein in New Jersey auch nicht. Die Devise seines Vaters sei immer gewesen, so Gandolfini: „Niemand ist etwas Besseres als die Anderen.“
Vielleicht ist es daher auch kein Zufall, sondern schicksalhafte Folgerichtigkeit, dass er eines Tages den Part in der Sene „Die Sopranos“ angeboten bekam und so zum TV-Star wurde. Er spielt Tony Soprano, den überforderten Boss und Spross einer mal einflussreichen Mafiafamilie in New Jersey. Die Geschäfte gehen schlecht. Tony bringt meistens den Falschen um oder macht alles noch viel schlimmer, wenn er seine Autorität behaupten will. Ehefrau und Kinder tanzen ihm auf der Nase rum, Statussymbole wie Zigarre und Geliebte wirken bei ihm wie Relikte eines erschlafften Glanzes.
Tony steckt in der Midlife-Crisis – und verliebt sich in seine Psychiaterin. Ein Mobsterleben, so frustrierend wie jede andere Alltagsexistenz auch.
„Die Sopranos“ ist in Amerika ein Hit von der Größenordnung wie „Ally McBeal“ oder „Seinfeld“, begeistert wie auch diese aber hierzulande nur einen kultischen Zirkel. Gandolfini hat den Golden Globe und den Emmy erhalten und ist doch nicht das, was die Amerikaner als celebrity bezeichnen. Er zeigt sich wenig, noch weniger mit seiner Frau Marcy und seinem Sohn Michael und antwortet auf Fragen zu seinem Privatleben meist, dass interessiere doch gar nicht, er spiele doch nur eine Rolle. Das sagen zwar viele Stars.
Gandolfini aber sagt auch: „Ruhm ist hässlich.“ Er wolle ja nicht undankbar sein, „aber ich möchte keine Privilegien haben und finde es schon etwas seltsam, auf eine Stufe mit Brad Pitt gestellt zu werden“. Und so ist aus „the man with no name“, wie der 40-Jährige am Anfang seiner plötzlich steilen „Sopranos“-Karriere ehrfurchtsvoll tituliert worden ist, respektvoll „the man with no ego“ geworden.
Die Reihe geht nun in die dritte Saison und stellt Gandolfini vor ein Problem, das Leonard Nimoy, David Duchovny oder Calista Flockhart bereits kennen, wenn er selbstironisch knurrt: „Don’t call me Tony“. Früher und besser als jene hat er allerdings schon die Chance genutzt, dieser Imagefalle zu entgehen, indem er quasi an den Anfang zurückgekehrt ist, zum Kino. Es sind wieder Neben- oder Ensemblerollen, noch ist er der Co-Star, nur kann ihn jetzt eigentlich keiner mehr übersehen. Julia Roberts wollte ihn an ihrer Seite in „The Mexican“ als Killer Leroy, der eiskalt handelt und schwul ist
und mit ihr herzergreifende Gespräche über Einsamkeit, Liebe und Hemmungen beim Flirten führt. In „The Man Who Wasn’t There“ von den Gebrüdern Goen glänzt er gerade als brachialer Kaufhausbesitzer und Schwerenöter Big Dave. Und demnächst ist er neben Robert Redford als Colonel Winter in „Die letzte Festung“ zu sehen.
Dieser Part ist schon so etwas wie eine zweite Hauptrolle. Und obwohl die Figur ziemlich nahe an der Eindimensionalität liegt, macht Gandolfini ein Ereignis daraus und das Einzige, was an diesem patriotischen Militär-Drama überhaupt interessiert. Winter ist der Direktor einer Haftanstalt der Armee und fühlt sich unterfordert, zu kurz gekommen, also zu Höherem berufen. Er sammelt alte Kavallerie-Säbel und Pistolen, Insignien glorreicher Schlachten, das Gegenteil seiner Schreibtischposition. Den Frust und Selbsthass und daraus resultierenden Sadismus dieses Durchschnittsmannes mit der Kassenbrille zeigt Gandolfini nicht als brutal und laut verzerrte Fratze, sondern gebremst, schwankend, unmerklich. Der Blick ist oft gesenkt, versunken oder erstarrt aus dem Panoramafensters seines Büros auf den Hof gerichtet, seine Stimme ist sanft, belehrend und wie ein Nadelstich, wenn er sich empört oder verletzt fühlt. Die Hände sind oft im Schoss gefaltet, seine Haltung ist leicht gebeugt. Wenn er sich plötzlich strafft, spürt man die ganze Melancholie und Unsicherheit dieses Charakters. Gandolfini braucht nur kleine Gesten, um Komplexität auszudrücken. Eine Nominierung für den Oscar wäre nicht nur gerecht, sondern ist zusammen mit den anderen beiden Rollen in diesem Jahr und seiner derzeitigen Popularität als Tony Soprano durchaus möglich.
Wenn man sich nun seine Darstellungen in früheren Filmen anguckt, in „Angie“ und „Nacht über Manhattan“, „The Mighty“, „Zivilprozess“, „Acht Millimeter“, „Get Shorty“ oder dem kleinen mexikanischen Independent-Road-Movie „Perdita Durango“, vor allem aber in „True Romance“ als philosophierender Killer, dann stellt man fest, dass sich sein Spiel nicht geändert hat. Gandolfini ist nie aus der Rolle gefallen, nimmt sich zurück und entfaltet damit ein Talent für Präzision und die richtige Einstellung. „Es ist ein Job wie jeder andere auch“, sagt er. „Ich mache ihn und gehe nach Hause.“ Glückliches New Jersey.