Georgien: Vom Klassik-Festival bis Underground-Techno – die neue Kulturszene am Rande Europas

Georgien ist der Flüstertipp unter Kultur-Travellern. Das Tsinandali Festival mausert sich zum Salzburg des Kaukasus, der Bassiani Club zum Berghain von Tbilisi. Klassik, Techno und Electro-DJs prägen eine aufblühende Kulturszene – die auch gefährdet ist. Ein Besuch vor Ort.

Der Kleinbus kurvt durch die Bergregion oberhalb der georgischen Hauptstadt Tbilisi. Immer wieder wird die Fahrt von Baustellen mit staubigen Schotterstrecken verlangsamt. Nach gut zwei Stunden ein scharfer Knick. Über eine schmale Stichstraße geht es zum „Tsinandali Estate“.

Eine weitläufige Parklandschaft aus dem 19. Jahrhundert mit Weinkeller, historischen Villen und einem Museum, in dem das erste Piano Georgiens steht. Während der Zarenzeit residierte hier das Adelsgeschlecht Chavchavadze. Schriftsteller wie Alexandre Dumas oder Alexander Puschkin kamen zu Besuch. In der Sowjetunion erlebte das Anwesen seinen Niedergang. Gebäude und Weinbau verkamen.

„Als Tsinandali dann ab Mitte der 2000er-Jahre im großen Stil revitalisiert werden sollte, hatten wir den Traum ein Musikfestival mit internationaler Strahlkraft zu etablieren. Eine Art Bayreuth oder Salzburg des Kaukasus“, sagt David Sakvarelidze mit einem Lächeln, der zuvor das Opernhaus in Tbilisi geleitet hatte. Heute ist er General Direktor innerhalb des Teams um Dirigent Gianandrea Noseda als Musikchef und Martin Engstroem vom schweizerischen Verbier Festival. „Aufgrund seiner Geschichte bot sich Klassik in Tsinandali natürlich an. Doch mit den Möglichkeiten auf dem Gelände sind natürlich auch andere Musikfarben möglich, wie etwa unser Abschlussabend mit Jazz und Elektronik gezeigt hat“, so Sakvarelidze.

Was 2008 mit einem Konzert des Star-Violinisten Gidon Kremer begann, ist längst zum zehntägigen Tsinandali Festival geworden. Große Namen wie David Garrett oder Jefim Bronfman waren zu Gast. In Mai 2024 konnte man gar die Berliner Philharmoniker zu einem ihrer Europa-Konzerte gewinnen, begleitet von der georgischen Star-Geigerin Lisa Batiashivili. Beim eigentlichen Festival im September wird das große Amphitheater und der Kammermusiksaal von mittags bis abends bespielt.

Tsinandali hat sich zu einem kulturellen Zentrum entwickelt

Tsinandali hat sich zu einem Höhepunkt im georgischen Kulturjahr entwickelt. Wie überhaupt das Land mit den rot-weißen Georgskreuzen in der Landesfahne zur Trend-Destination geworden ist, mit seiner Gastfreundschaft und großen Wein-Tradition, dem Schwarzes Meer und Wanderungen in Kaukasus, dem Klassik-Festival und den Technoclubs von Tbilisi. Zuletzt brachte das couragierte Auftreten bei der Fußball-EM weitere Sympathie-Punkte. Geographisch zwar weit weg von Europa, doch bislang klar auf dem Weg nach Europa.

Tsinandali Festival: Pianist Boris Giltburg spielt Schumann und Liszt

Dabei sind sich die Tsinandali-Gründer durchaus bewusst eine explosive Region zu bespielen, mit Konflikten zwischen Armenien und Aserbaidschan und dem Krieg in der Ukraine. In Georgien selbst sind die Provinzen Abchasien und Südossetien weiterhin russisch besetzt. Innenpolitisch schwebt die Parlaments-Wahl vom 26. Oktober wie ein Mentekel über dem ambitionierten Konzertprogramm.

Mit ihren jüngsten Gesetzen zur Einschränkung der Rechte von Homosexuellen und zur Finanzierung ausländischer NGOs zerschreddert die Regierungspartei „Georgian Dream“ gerade den demokratischen Kurs einer Ausrichtung nach Westen. „Wir sind in diesem Spiel nur eine soft power. Doch wir versuchen, durch die Musik eine gemeinsame, friedliche Botschaft zu vermitteln.“

So liegt ein Schwerpunkt des Festivals auf dem Pan Caucasian Youth Orchestra (PCYO), in dem junge Talente Erfahrungen in großen Ensembles sammeln können. Vor Ort findet wochenlange Workshop-Arbeit mit renommierten Coaches statt. Am Ende steht die Praxis. An vier Abenden kommt mit wechselnden (Star-)Solisten die hoch konzentrierte Spielfreude des jungen Orchesters zur Geltung.

Das zentrale Auditorium ist eine aufwendig zum Amphitheater umgebaute Backsteinhalle am Fuße einer Freitreppe, die geradewegs in die mit alten Bäumen bestandene Parklandschaft hineinführt. Wer keine Karten für die meist ausverkauften Konzerte mehr bekommen hat, kann in der großen Außengastronomie den herüber wehenden Festival-Tönen lauschen, was die gesamte Anlage zu einem beschwingten Klangkörper werden lässt.

Tsinandali Festival: Pan-Caucasian Youth Orchestra macht sich locker

An einem der Tische sitzt der Botschafter von Usbekistan. Sein Land soll Partner des Festivals 2025 werden. „Ein Land mit 35 Millionen Einwohnern und einer reichen Musiktradition“, schwärmt Festival-Direktor Sakvarelidze. Alle hoffen darauf, dass sich auch die politische Situation entspannen wird. Russland etwa ist zum wiederholten Mal nicht nach Tsinandali eingeladen worden. Die Veranstalter hoffen, eines Tages wieder musikalische Brücken bauen zu können.

Ein Techno-Tempel logiert unter dem Stadion von Dynamo Tiflis

Zum großen Finale noch das Konzert mit Dirigent François Leleux und Cellist Edgar Moreau, wiederum begleitet vom PCYO – dann geht es zurück durch die Nacht nach Tbilisi, einen Absacker im Innenhof der „Fabrika“ nehmen. Ein Gegenpol zum Klassik-Arkadien in den Weinbergen. Gelegen im ehemaligen deutschen Wohnviertel Neu-Tiflis bildet die ehemalige Textilfabrik das atmosphärische Zentrum der „left bank“, der linken Uferseite von Tbilisi. Hier sind die Treffpunkte der Alternativszene wie der „TES Club“ oder der Techno-Tempel „Bassiani“ im Souterrain des Fußballstadions von Dynamo Tiflis. Auf der anderen Seite des Flusses Kura liegt der „offizielle“ Teil der Hauptstadt, mit dem Friedensplatz, den Museen und Regierungsgebäuden am verkehrsumtosten Rustavelli Boulevard.

Fabrika: Treffpunkt für Locals und auswärtige Besucher / MUA Architecture

Der „Fabrika“-Gebäudekomplex aus den 1970er-Jahren stand nach der Unabhängigkeit Georgiens lange leer. Die beiden Gründer des Architekturbüros MUA (Multiverse Architecture), Devi Kituashvili und Gogiko Sakvarelidze, widmeten sich dem industriellen Erbe aus Sowjetzeiten. Sie wollten den Bestand erhalten und gleichzeitig den toten Bezirk zu einem Treffpunkt für locals und auswärtige Besucher machen.

Sakvarelidze erzählt von der anfänglichen Skepsis und düsteren Prognosen: Niemand würde kommen. Doch seit der Eröffnung 2016 ist die „Fabrika“ zum Herz des Quartiers geworden. Und das angrenzende Viertel mit seinen zweistöckigen Häusern hat längst Hipster-Charakter. Eine quirlige Kleinstadt innerhalb der Millionenmetropole. Auch das Büro von MUA befindet sich in dem Komplex. Am lauen Abend ist die Stimmung im „Fabrika“-Hof entspannt. Neben einem Hostel gibt es einige Restaurants, einen Platten- und Klamottenladen. An den Bier- und Wein-Tischen ein jüngerer Publikumsmix, der man auch in Barcelona oder Rotterdam finden könnte. Gesprochen wird vor allem Georgisch, Kommunikation auf Englisch ist allerdings kein Problem.

Einige Blocks von der „Fabrika“ entfernt liegt das „Klara“, eine rustikale Indie-Bar für queere Kleinkunst und Stand-Up-Comedy. Mit Backsteinwänden und Euro-Paletten als Bühne bildet der kleine Laden ein Kontrastprogramm zum „Bassiani“. Giorgi Kikonishvili hat in das neue Nebenprojekt des berühmtesten Nachtclubs der Stadt geladen, der am 4. Oktober sein 10-jähriges Jubiläum mit einer 48-Stunden-Party feiert. Lange Zeit als Berghain des Ostens gehandelt, hat man sich längst vom Berliner Vorbild emanzipiert. Auf dem eigenen Label „Bassiani Records“ veröffentlichen viele heimische Acts.

„Zu uns kommt mittlerweile auch eine ganz neue Generation von Clubgängern. Was geblieben ist, dass wir uns neben der Party stets als politische Institution verstanden haben“, so Kikonishvili. Als im Mai 2024 das umstrittene NGO-Gesetz (auch „Agenten-Gesetz“ genannt) beschlossen wurde, stand man geschlossen dagegen. „Vor allem die elektronische Musikszene hat sehr laut gegen dieses Gesetz protestiert. Die Clubs spielen da eine aktive Rolle und mobilisieren viele junge Menschen“. In einem gemeinsamen Online-Aufruf vom 24. Mai heißt es mit Innbrunst: „Die Kunst hat sich stets als mächtiges Instrument im Kampf für die Freiheit erwiesen. Wir, die Fackelträger dieser musikalischen Sphären, sind der festen Überzeugung, dass Politik und Musik untrennbar miteinander verbunden sind.“ Das Beben vom Mai ging quer durch die Musikstadt.

Seit der Eröffnung 2016 ist die „Fabrika“ zum Herz des Quartiers geworden / MUA Architecture

Vom Berghain des Ostens zum Elektronik-Festival mit Kölner Gast-DJ

Eine Schockwelle bis hin zum „4 GB-Festival“, dem wichtigste Elektronik-Festival in Tbilisi. Michael Mayer, der Kölner DJ und Mitbetreiber des Labels Kompakt ist hier Dauergast. „Unsere 2024er-Ausgabe war komplett organisiert. Doch begannen die Demonstrationen gegen das umstrittene Gesetz über ‚ausländische Agenten‘“, erzählt Nika Japaridze. „Die Sache eskalierte immer weiter, mit Polizeigewalt. Vor dem Mai-Wochenende waren einige aus unserem Team und Freunde verhaftet worden. Keine Stimmung für ein Festival. Und so haben wir schweren Herzens abgesagt. Zum Glück haben alle Sponsoren und Künstler die Situation verstanden. Finanziell natürlich eine Katastrophe, doch es ging nicht anders.“

Im September deuten nur die Metall-Wände und einige Protestbanner vor dem Parlamentsgebäude auf die gespannte Lage. Das Nachtleben glimmt vor sich hin. Neben Jazz-Adressen wie dem „1984“ im dritten Stock eines alten Hauses am Rustavelli Boluevard bestimmen vor allem die elektronischen Clubs den Beat der Stadt. Direkt an der Uferstraße der Kura liegt ein verlassenes Industriegelände, das mit dem „Left Bank“, dem „TES“, dem „C.C.A.“ unterschiedliche popkulturelle Räume vereinigt.

Der Avantgarde-Club „Mutant Radio“, der sich als „media platform“ von Folk bis Spoken Word versteht, ist der profilierteste. Auf dem Innenhof steht eine Sendestation für Streaming-Übertragung, die in einem Bauwagen untergebracht ist. Es spielen Underground-Acts oder man steht einfach herum und trinkt Bier. Neben der Theke hängt ein Poster mit der Aufschrift „By enterting the territory of Mutant Radio you accept that Putin is a war criminal“. Klare Ansage auch für russische Gäste: „Russia is an occupier of the integrity of Ukrayine!”

„Wir befinden uns mittlerweile in Vorbereitung für das Jahr 2025“, sagt 4GB-Festivalmacher Japaridze. „Mit dem Sommer kam erstmal der Urlaub. Und damit eine trügerische Ruhe. Unser Rahmen steht, doch mit konkreten Schritten warten bis nach den Wahlen im Oktober. Kann man optimistisch sein? Schwer zu sagen, keine Ahnung. Ich kann nicht abschätzen, wie groß die Protest-Bewegung wirklich ist.“

TSINANDALI Festival
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