ROLLING-STONE-Guide: Die wichtigsten Alben von George Michael und Wham!
Wir blicken auf die Diskografie des ehemaligen Wham!-Sängers, der zu einem der größten Pop-Stars aller Zeiten wurde – und wie kaum ein anderer mit dem Ruhm haderte
Essenziell
Listen Without Prejudice, Vol. 1 (1990)
George Michael wusste, er würde immer nur ein weißer Junge bleiben. Aber er hielt sich ran. Über eine Lagerfeuergitarre („Waiting For That Day“) legte er ein Sample von James Browns „Funky Drummer“-Beat, seinen Walzer „Cowboys And Angels“ ließ er von Andy Hamiltons Saxofon illustrieren, Stevie Wonders „They Won’t Go When I Go“ spielte er allein ein, live am Klavier. Michael war 27, er plante den Abschied vom Popstar-Dasein, an dem er sich bis zu seinem Tod erfolglos abarbeiten würde.
Im Clip zu „Freedom! ’90“ vernichtete der Ausnahmesänger sein Image als hüftschwingendes Jeansmonster und verbrannte die „Faith“-Sonnenbrille. Es ist viel in Bewegung auf dieser Platte, aber alles, was für den Dancefloor komponiert wurde, klingt wie Musik, zu der man trotz allem tanzen kann – wie der Dirty Dub von „Soul Free“. Und es gelang ihm, ernster genommen zu werden. „Mother’s Pride“, eine Ballade über einen gefallenen Jungsoldaten, wurde während des Zweiten Golfkriegs 1991 ein Radiohit – die wichtigsten Friedenslieder sind eben nicht die, die in Kriegszeiten veröffentlicht werden, sondern solche, die schon da waren, die den Krieg vorausgeahnt zu haben scheinen.
Seine bedeutendste Aufnahme stellte er an den Anfang seines besten Albums (das er am wenigsten schätzte): „Praying For Time“ über einen Gott der den Glauben an Menschen, die den Krieg lieben, verloren hat: „God can’t come back/ Cause he has no children to come back for.“ Ein seltenes Beispiel eines glaubhaften Protestlieds, geschrieben von einem Superstar seiner Zeit. Im Videoclip tritt George Michel nicht auf – er zeigt nur den Songtext auf schwarzem Hintergrund.
Older (1996)
Das Heroin kam später, hier kiffte er nur, um die Trauer, die er nie bewältigen würde, zu ertragen. Nach dem Tod seines Idols Antônio Carlos Jobim starb auch sein Lebensgefährte Anselmo Feleppa. Ein verzweifelteres Abschiedslied als „You Have Been Loved“ würde Michael nicht mehr komponieren, auch wenn das Album zeitlich mit dem – wohl leider von Austin Powers und Mike Flowers eingeläuteten – Lounge-Revival zusammenfällt.
Die Text-Assoziationen von „To Be Forgiven“: der Fluss, die Jahreszeiten als Sinnbild für Tod und Geburt, zeigen, wie sehr er sich in den Bossa nova à la Jobim und João Gilberto zu versenken vermochte. Im UK gelang ihm der Rekord von sechs Top-3- Singles, von denen fünf nur von starker Konkurrenz vom Thron abgehalten wurden, darunter „Wannabe“ von den Spice Girls und „Candle In The Wind 1997“ von Elton John. „Jesus To A Child“ dürfte die einzige Nummer eins sein, in der ein schwuler Mann den Aidstod seines Partners betrauert. In den USA war er nach seinem Coming-out zwei Jahre später erledigt.
Patience (2004)
Das letzte Studioalbum. Er starb erst zwölf Jahre später, und doch finden sich auf dieser Platte des erst 41-Jährigen Spuren eines Alterswerks. Mit House und R&B tanzte er über Schatten hinweg, aber die Balladen erzählen von Schmerz. Suizid in der Familie („My Mother Had A Brother“), die Kindheit als Sohn eines griechischen Einwanderers („Round Here“) und, ein Thema seit Wham!-Tagen, der Zweifel am Wert, den Popstars für die Gesellschaft haben („John And Elvis Are Dead“).
Im „Shoot The Dog“-Video parodiert er Tony Blair und George W. Bush, gegen deren Irakkrieg er sich positionierte – sein wichtigster politischer Song. In „Precious Box“ heißt es: „Have I a family? I guess not/ Because no one comes in the morning/ No one comes in the evening time.“ Er war zuletzt einsam. Am ersten Weihnachtsfeiertag 2016 wurde der „Last Christmas“-Sänger leblos in seinem Bett aufgefunden.
Lohnend
Faith (1987)
„The Joshua Tree“, „Hysteria“, „Appetite For Destruction“, „Bad“, „Kick“ und „Sign O’ The Times“: Kein Musikjahr der Achtziger war härter umkämpft – und doch wurde das Solodebüt des 24-Jährigen das meistverkaufte Album des Jahres. George war unsicher, übte sich in Hommagen an Otis Redding („One More Try“) und Prince („I Want Your Sex“), außerdem war der Titelsong mehr Shakin’ Stevens als Elvis, das Video sah aus wie eine Levi’s-Werbung. Das für ihn komponierte „Kissing A Fool“ hatte Sinatra abgelehnt.
Insgesamt vier Nummer-eins-Hits in den USA (nur Michael Jackson hatte mit fünf aus „Bad“ mehr), und 1988 brach George Michael zu seiner letzten großen Welttournee auf – Jackson und Prince buchten in jenem dicht gedrängelten Konzertsommer Stadien, er selbst erstaunlicherweise nur Hallen.
Wham!
Make It Big (1984)
Hieße das Duo nicht Wham! und hätte dessen Sänger nicht im selben Jahr „Last Christmas“ veröffentlicht, dieses Album wäre als das anerkannt worden, was es ist: SophistiPop. „Careless Whisper“, vor allem aber „Wake Me Up Before You Go-Go“ hätten von The Style Council eingespielt werden können – keiner hätte gegrinst. Das Saxofonsolo von „Careless Whisper“ schrieb Michael mit siebzehn, „Everything She Wants“ ist die unerreichte Arbeiterklasse-Hymne der Generation Electro-Pop.
Wham!
Fantastic (1983)
Das Debüt. „Wham Rap! (Enjoy What You Do)“ beinhaltete den Bandnamen als Proklamation (vom Punk übernommen, leider aus der Mode gekommen) und handelt von einem Schmarotzer, der Sozialhilfe kassiert, statt sich einen Job zu suchen. George Michael trat dem halbwegs neuen Genre Rap, wie so viele weiße Künstler, mit Satire entgegen – er rappt wie vom Blatt abgelesen. Das herrlich swingende „Club Tropicana“ ist, damals selten erkannt, pure Ironie, ein Kommentar gegen den Pauschaltourismus.
Ergänzend
Songs From The Last Century (1999)
Der Jahrtausendwechsel inspirierte einige Künstler zur Kanonisierung der Musik des 20. Jahrhunderts. Mit Produzent Phil Ramone kleidete George Michael nun zehn Stücke würdevoll in ein Swingund Jazz-Arrangement. Acht Lieder waren schon in der Vorlage Jazz, mit zwei weiteren Pop-Pickings („Roxanne“, „Miss Sarajevo“) bewies er Geschmack.
Five Live (1993)
Sehr erfolgreiche, clever kompilierte EP, mit der er sich mitten in einer sechsjährigen Albumpause im Gespräch halten konnte. Die fünf Songs waren keine Eigenkompositionen, sondern Coverversionen wie das „Papa Was A Rollin’ Stone/Killer“-Medley sowie das tolle „Somebody To Love“ vom Freddie-Mercury-Tribute-Konzert.
Schwächer
Symphonica (2014)
Orchesteralben können visionär sein – wenn ein Musiker mit dem Orchester neues Material einspielt. Begleitet es nur alte Hits, wirkt die Neuinterpretation eines Back-Katalogs stets etwas hilflos, riecht aufgewärmt. Manches klingt gruselig („A Different Corner“), aber zumindest die Auswahl der Coverstücke, wie „Let Her Down Easy“ von Terence Trent D’Arby, zeugt von Michael’scher Extravaganz. „Ich und Orchester? Das hätte doch was von Rod Stewart“, winkte er noch ein paar Jahre vorher ab. Tja.
Film
„A Different Story“ (2004)
An Uneitelkeit unübertreffliche Doku rund um das Erscheinen des Albums „Patience“. Stoisch beantwortet Michael auch überflüssige Fragen: „Ob ich auf Andrew Ridgeley stand? Nicht mein Typ!“ Es macht Spaß und ist gleichzeitig traurig zu sehen, wie er sich lachend durch die Gartenhecken seines Elternhauses schleicht und anmerkt, diese Zeit sei leider vorbei.
Preziosen
Demos, Live-Aufnahmen, Duette und Tribute
„You And I“
Nach „They Won’t Go When I Go“, „Blame It On The Sun“, „Love’s In Need Of Love Today“ und „As“ sein letztes Stevie-Wonder-Cover. Hochzeitsgeschenk für William und Kate.
„Desafinado“
Bossa-nova-Legende Astrud Gilberto, heute 81, lebte schon 1996 zurückgezogen. Hier sang sie mit Michael – beide auf Portugiesisch.
„December Song (I Dreamed Of Christmas)“
„Last Christmas“ ähnelt dem Peaches-&-Herb-Klassiker „Reunited“ arg. Mit dieser zweiten, 2009 veröffentlichten Weihnachtssingle wollte er es noch einmal wissen. Und: Dieser Song ist tatsächlich schöner!
„White Light“
Bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in London 2012 sangen Popstars britische Evergreens. Nur Michael wollte unbedingt vor Millionenpublikum seine neue Single promoten. Technoide Ödnis über angebliche Nahtoderfahrungen – schwer mit Olympia in Verbindung zu bringen.
„Blue (Armed With Love)“
Die einzige originäre Wham!- B-Seite gibt es nur auf einer japanischen Best-of und als Live-Version auf der VHS von „Wham! In China“.
„Trojan Souls“
Auf SoundCloud: Instrumentalfassung des 1993 und bis heute unveröffentlichten Albums mit Songs für andere Künstler und vielsagenden Arbeitstiteln wie „Seal’s Song“.
„Jive Talkin’“
Wer in den Achtzigern aufwuchs, hielt den Bee-Gees-Song vielleicht für einen von George Michael. Andros Georgiou holte den mit ihm verwandten Sänger in seine Duettformation Boogie Box High, aus der 1987 diese Coverversion entsprang.
„Heal The Pain“
Das beatleske „Listen Without Prejudice“-Lied in einer Neueinspielung, gemeinsam, natürlich, mit Paul McCartney.
„This Is How (We Want You To Get High)“
Erste posthum veröffentlichte Single von 2019. Die Nachlassverwalter des Sängers halten sich hinsichtlich möglicher Archivschätze seit Jahren bedeckt. Diesen Eurodance-Song mit Klassikfetzen ließ George Michael vielleicht nicht ohne Grund im Tresor.