Genya Ravan: Einmal Hölle und zurück

Sie war die erste, wildeste und lauteste Frau des Rock. Sie überlebte Nazis, Drogensucht und Lungenkrebs. Heute, mit 68, ist Genya Ravan weise - aber noch immer nicht altersmilde. Ein Hausbesuch bei der Mutter aller Riot Girls.

Fast könnte man denken, man sei zu Besuch bei seiner lieben Tante auf dem Land: Auf dem Tisch stehen Apfelkuchen und eine Kanne Tee, eine Entenfamilie und ein Kanufahrer gleiten auf dem Bach neben der Terrasse vorbei, und die Nachmittagssonne taucht alles in goldenes, einlullendes Licht. Wäre da nicht diese laute, schnarrende Stimme, die immer wieder warnt: „Es waren nicht nur die Zigaretten, es war das Kokain, nein, die Chemikalien im Kokain, die meinen Lungenkrebs verursachten. Lasst euch das eine Warnung sein: kein Kokain!“

Die liebe Tante, die da so laut predigt, ist Genya Ravan. Auf den ersten Blick sieht sie aus, als könne sie kein Wässerchen trüben: ein freundliches, rundes Gesicht, weiß-blitzende Zähne, blonde, volle Locken und eine Figur, für die andere Frauen in ihrem Alter töten würden. Aber dann sind da der Cowboyhut, die dicken Klunker an den Fingern, das knallrote „Hells Kitchen“-T-Shirt, und all diese bunten Geschichten aus ihrem Leben, die sie uns beim Kaffeeklatsch erzählt. Schnell wird klar: In dieser Tante schlummert eine gehörige Portion Rock’n’Roll.

„Ich bin nun mal eine laute Rockerin“, gesteht sie lachend, während sie den Kuchen anschneidet. „Ich fliege immer noch aus Restaurants, und das, ohne betrunken zu sein. Ich habe nie meinen Mund halten können. Schon bei unserer Einwanderung auf Ellis Island: Da habe ich dem Beamten gleich erzählt, wo genau in meinem Mantel das Bargeld eingenäht war. Meine Eltern waren ’not amused‘. Und es wurde nicht besser…“

Wild Child

Nein, wurde es nicht Genya war das, was man „eine Handvoll“ nennt: ein aufmüpfiges, rebellisches Kind, das es der Mutter nie recht machen konnte. Oder wollte.

„Meine Eltern hatten meine beiden Brüder und all ihre anderen Verwandten in Konzentrationslagern verloren. Mein Vater trank viel, und meine Mutter war ein Nervenbündel: Nachdem meine ältere Schwester Helen aus dem Haus war, konzentrierte sich all ihre Aufmerksamkeit auf mich. Sie wollte jeden meiner Schritte kontrollieren. So gab sie mir zum Beispiel nur einen einzelnen Rollschuh, damit ich mit dem anderen Fuß immer auf der Erde blieb. Natürlich reagierte ich mit Rebellion. Selbst das Valium, das sie mir ab meinem elften Lebensjahr verabreichten, nutzte nichts.“

Genya, vielmehr Goldie, wie sie nun in Amerika genannt wurde, schwänzte die Schule und trieb sich mit den Halbstarken ihrer Nachbarschaft, der ärmlichen und von Immigranten besiedelten Lower East Side herum. Sie trug heimlich die verbotenen Blue Jeans, trank, rauchte, tanzte, und nachts, wenn brave Mädchen schliefen, hörte sie R&B- und Gospelsongs, die ihr Lieblings-DJ, „Cat Man“, im Radio spielte. „Ich wuchs mit schwarzer Musik auf, ich saugte sie auf wie ein Schwamm und lernte durch sie Englisch. Ornette Coleman sagte mir Jahre später einmal: Kein Wunder, dass du so gute Ohren und soviel Soul hast.“

Als Goldie 17 war, starteten ihre Eltern einen letzten Versuch, ihr Kind zur Raison zu bringen: Sie verheirateten sie mit einem elf Jahre älteren, wohlhabenden Juden. „Ihnen war egal, was für eine Hautfarbe er hatte. Hauptsache, er war Jude. Aus Trotz versuchte ich, einen schwarzen Juden zu finden. Aber Sammy Davis Jr. war der Einzige weit und breit…“

Natürlich ging die Ehe nicht gut. Noch bevor Genya ihre Jungfräulichkeit im Ehebett verlieren konnte, brannte sie auf dem Rücksitz einer Harley nach Kalifornien durch. Sie kehrte zwar zurück, aber nur unter einer Bedingung: sofortige Scheidung – und ihre eigene Bude. Die Weichen für ein unkonventionelles Leben waren gestellt.

Goldige Jahre

Geld verdiente sie als „Cheesecake-Model, als Nacktmodell, das bis zur Schamhaargrenze alles zeigte. „Ich bekam 100 Dollar pro Session. Das meiste ging für die Miete drauf, den Rest gab ich abends in Musikschuppen wie der ‚Lollipop Lounge‘ aus.“ An einem solchen Abend schnappte sich die angeheiterte Goldie das Mikrofon und sang mit der Band, The Escorts, mit. So gut, dass Bandleader Richard Perry (produzierte später u.a. Ringo Starr, Carly Simon, Leo Sayer und die Pointer Sisters) sie eine Woche später anrief und heuerte. „Von dem Abend an wusste ich, dass ich singen wollte.“

Goldie nahm eine halbes Dutzend Songs mit den Escorts auf, darunter den Hit „Somewhere“. Doch als Perry und die anderen Mitglieder am Ende des Sommers zurück aufs College gingen, entschied sie: „Ich will meine eigene Band!“ „Damals zog gerade meine Freundin Ginger bei mir ein – mit ihrer riesigen Schuhsammlung und ihrem frechen Affen, Beaumont, der mir immerzu die Bluse aufknöpfte. Ginger spielte Schlagzeug und sah aus wie die junge Sophia Loren: Die ideale Basis für eine reine Mädchenband.“

Verstärkt durch Carol MacDonald an der Gitarre und Margo Crocitto an der Hammond-Orgel legten Goldie And The Gingerbreads los. „Von unseren ersten Gagen kaufte ich einen dicken Schlitten, und befeuert von Speed tourten wir durch die USA. Wir spielten viel auf Air-Force-Basen. Dort lernte ich das Saufen. Das Publikum liebte uns: Wir sahen adrett aus, hatten aber einen ‚dreckigen‘ Sound. Selbst Tom Wolfe schrieb über uns in seinem Buch ‚The Kandy-Kolored Tangerine-Flake Streamline Baby'“.

Noch besser als daheim kamen die Gingerbreads in Europa an: „The Animals hörten uns eines Tages in New York jammen. Sie konnten nicht glauben, dass vier weiße Mädels so einen schwarzen Sound hatten und luden uns nach London ein.“

An Bord der „Mauritania“ setzten sie nach England über – und eroberten von dort aus Europa: „Wir waren hübsch und originell, und die lokale Presse stürzte sich förmlich auf uns“, erinnert sich Genya. „Zuerst wohnten wir in einem Haus mit den Animals, aber Eric Burdons Sammlung von Nazi-Devotionalien verschreckte mich. Kurzzeitig hausten wir in einem Hotel mit Van Morrison, dem ich die Haare schnitt. Dann holten wir uns eine eigene Bude.“

Viel sahen sie nicht von ihrer Wohnung: „Es war eine wilde Zeit: Wir feierten die Nächte mit Dudley Moore, Jimmy Page, Ringo Starr – und vielen Pillen namens ‚Purple Heart‘ – durch. Mit unserem ersten Hit, „Can’t You Hear My Heart Beat“, gingen wir dann auf Tour mit den Rolling Stones, den Hollies, Kinks und den Yardbirds. Ich war die Erste, die Jeff Beck Buddy Guy vorspielte.“

Und: Sie hatte eine Affäre mit Mick Jagger! „Ich hatte ihn, als er noch jung war“, grinst sie, doch das ist alles, was sie dazu sagen will. „Ich schlief auch mit Tony Sheridan, Peter Quaife von den Kinks, Paul Jones von Manfred Mann und Hilton Valentine von den Animals. Damals gab es noch kein AIDS, und nicht umsonst hieß die Zeit ‚The Swinging 60s’…“

Doch irgendwann war der Spaß vorbei: „Wir wurden schlecht von unserem Management beraten, verdienten kaum Geld, es gab Streit zwischen uns Mädels, und wir fanden keine guten Songs. Die Luft war einfach raus. 1967 trennten wir uns. Ich blieb noch eine Weile in London, doch dann packte auch ich meine Koffer.“

Auf zehn Rädern in die Carnegie Hall

Zurück in New York erfand sich Goldie neu: Sie nannte sich nun Genya Ravan, weil das „schwärzer, verruchter“ klang, und sie entdeckte den Jazz: „Auf einmal wurden im Radio Songs gespielt, die zehn bis 15 Minuten lang waren, von Bands wie Blood, Sweat Et Tears. Es war ein aufregender Sound, und obwohl ich die Kameradschaft der Mädels vermisste, gründete ich mit einem Haufen Männern die Jazz-Rock-Combo Ten Wheel Drive.“

Es war die richtige Band zur richtigen Zeit: Bereits zu ihrer ersten Show in New Yorks „Bitter End“ erschien ein neugieriger Miles Davis, und gleich das erste Album, „Construction #1“, riss Kritiker zu Lobeshymnen und Vergleichen mit Billie Holiday und Janis Joplin hin. Doch vor allem die Live-Auftritte waren es, die für Furore sorgten: Auf der Bühne des „Fillmore East“ erschien Genya in Schlaghosen, Keuschheitsgürtel – und mit nacktem, bemaltem Oberkörper. Bei einem Konzert mit den Chambers Brothers verpasste sie zugedröhnt fast ihren Einsatz, nachdem sie einen mit PCP versetzten Joint geraucht hatte: „Man hatte mich davor gewarnt, dass Wasser der Chambers Brothers zu trinken, denn das war chronisch mit LSD verseucht. Aber vor den Joints hatte mich niemand gewarnt…“ Und bei einem nächtlichen Jam in einem Club in Manhattan, rief sie kurzerhand die im Publikum sitzende Janis Joplin zum Duett zu sich auf die Bühne. „Ich war die ewigen Vergleiche mit ihr leid und wollte beweisen, dass wir komplett unterschiedliche Typen waren – das gelang.“

Trotzdem: Es gab keine Fehde zwischen ihr und Janis. „Ich nahm ihr nur übel, dass sie immer und überall „Southern Comfort“ trank – und mir so meinen Lieblingsdrink verleidete. Ansonsten mochte ich sie. Sie war einsam und unglücklich, und sie heulte sich Backstage bei mir aus.“

Drei Alben nahm Genya mit Ten Wheel Drive auf. Sie spielten vor 350.000 Zuschauern beim Atlanta Pop Festival, im Central Park und gleich zwei Mal in New Yorks Carnegie Hall. Doch all der Erfolg täuschte nicht über eine Tatsache hinweg: Genya fühlte sich in der Männerband unwohl. „Jazzer sind komplizierte Typen“, weiß sie heute. „Sie haben ein verqueres Frauenbild: Sie wollen ins Bett mit dir, aber sie behandeln dich wie den letzten Dreck.“

Auf einem Rad in die Hölle

Als ihr der Produzent Clive Davis anbot, sie solo bei CBS unter Vertrag zu nehmen, sagte Genya zu. Ein Fehler, wie sich bald herausstellen sollte: „Er wollte mich als die nächste Janis Joplin vermarkten, doch dazu hatte ich überhaupt keine Lust.“ Sie nahm ein Album für Davis auf, doch sie boykottierte seine Strategie. Nach einem Konzert mit Sly & The Family Stone in New Jersey wurde sie verhaftet, weil sie auf der Bühne mehrmals „Fuck“ gerufen hatte. Angeblich waren es Muhammad Ali und seine Familie, die sich über das obszöne Wort beschwert hatten. Und bei einem Auftritt in Johnny Carsons „Tonight Show“ präsentierte sie sich als eine überdrehte Mischung aus männermordendem Vamp und Stand-Up-Comedian. Nichts davon entsprach Clive Davis‘ Vorstellung von einem erdigen Joplin-Ersatz. Er feuerte sie.

Genya floh nach Hollywood, hatte eine Affäre mit dem Schauspieler Peter Lawford, nahm zwei wirre, schlecht produzierte Alben auf, hatte eine Abtreibung und kehrte zwei Jahre später nach New York zurück: ziemlich abgebrannt und ziemlich süchtig nach Kokain. „Ich habe nur wenig gute Erinnerungen an Hollywood: Frank Zappa war nett zu mir. Als er herausfand, dass ich jüdisch war, nahm er mich mit zu ‚Canter’s‘, dem besten jüdischen Restaurant der Stadt. Ich lernte etwas in LA.: Nach zwei desaströsen Alben wusste ich, dass ich selbst produzieren musste.“

Sie hatte die Ohren, das notwendige Feeling und nötige Knowhow, und schon bald saß Genya als „Rock’s Only Woman Producer“ (so das Label RCA) an den Reglern. Sie produzierte Punkbands für ihren Freund Hilly Kristal, Betreiber des legendären Punkschuppens „CBGB’s“, und Perlen wie das Debütalbum der Dead Boys, „Young, Loud And Snotty“ sowie Ronnie Spectors „Siren“. Und sie produzierte zwei Alben für sich selbst: „Urban Desire“ und „And I Mean It“. Alben, die sie noch heute als „ihre beste Arbeit“ bezeichnet. Der große Erfolg blieb dennoch aus. Was an verschiedenen Faktoren lag: Fehlgeleitete PR-Aktionen („Urban Desire“ wurde mit einem masturbierenden Mann beworben, der sein Glied mit dem Plattencover abdeckte), gar keine PR-Aktionen (Nach den Aufnahmen zu „And I Mean It“ ging das Label Bankrott), und Genyas immer heftiger werdende Kokainsucht.

1980 gründete sie ihr eigenes Label, „Polish Records“, doch eigentlich war das Projekt von Anfang an zum Scheitern verurteilt. „Wir hätten uns gleich ‚Cocaine Records‘ nennen sollen: Wir finanzierten uns mit Drogengeld, unsere Musiker wurden zum Dealen abkommandiert, und als PR-Gag ließen wir T-Shirts mit dem Schriftzug „Who Do I Fuck To Get Off This Label?“ drucken und Platten pressen, deren Loch nicht in der Mitte sondern am Rand saß. Es war der reine Wahnsinn. Als das FBI dann anfing, unsere Telefone abzuhören, beschloss ich auszusteigen.“

Landflucht

Genya floh nach Palenville, ca. 200 Kilometer nördlich von New York. Doch egal, wie weit sie zog: Die Drogen folgten ihr nach. „Eine Zeitlang hatte ich einen Kolumbianer, der mir das Koks bis aufs Land lieferte. Dann arbeitete ich in einer Bar, hatte ein Verhältnis mit einem Zimmermann, der an meinem Haus bastelte, heiratete einen Typen, den ich kaum kannte…ich war ein Wrack.“ Die Rettung kam, wie so vieles in Genyas Leben, in ungewöhnlicher Form: „Am 11. August 1990 diagnostizierten Ärzte Lungenkrebs bei mir. Und so seltsam es sich anhören mag: Das rettete mir das Leben.“ Schon ein paar Monate zuvor hatte Genya aufgrund ihres starken Hustens mit dem Rauchen aufgehört, und dann, mithilfe der Anonymen Alkoholiker, auch ihr Trinken runtergeschraubt. „Aber ich kokste immer noch, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ich wieder mit dem Schnaps und den Zigaretten angefangen hätte. Erst die Diagnose rüttelte mich wach.“

1991 wurde Genya operiert, bekam Chemotherapie und überlebte. Seitdem hat sie nicht mehr geraucht, keinen Schluck mehr getrunken und keine Nase mehr genommen. „Nicht, dass ich nicht ab und an noch Lust dazu hätte. Glaubt mir: Das geht nie weg. Aber ich weiß: Sobald ich auch nur einen Drink nehme, löst sich all das hier in Luft auf: mein Haus, mein Freund, mein ganzes Leben.“ Und Genya liebt ihr jetziges Leben in der Kleinstadt Saugerties, New York. „Es ist paradiesisch hier. Ich kann in meinem Pavillon am Fluss malen, ich habe ein kleines Tonstudio, einen Job, eine Katze, ein Ferienhaus in Mexiko, einen festen, lieben Freund, und jede Menge Pläne: Mein Freund arbeitet daran, Goldie And The Gingerbreads in die Rock’n’Roll-Hall of Fame zu bekommen, und ich möchte eine Reality-TV-Show produzieren, eine Mischung aus Big Brother und American Idol für junge Musikerinnen.“

Täglich checkt sie ihre Webpage und ihre Myspace-Seite, hört sich MP3s an, die ihr junge Musiker schicken und freut sich über Mails und Einträge, in denen sie als Inspiration bezeichnet wird. „Das entlohnt mich für all den Mist. Mein Leben lang habe ich gekämpft. Immer wollte ich beweisen, wie tough ich bin. Heute muss ich niemandem mehr etwas beweisen. Ich ruhe in mir, bin so glücklich wie nie zuvor, und dafür danke ich dem Himmel.“ Ist sie etwa religiös geworden? „Nein, nicht religiös. Aber spirituell. Religion ist für Menschen, die Angst vor der Hölle haben. Spiritualität ist für Menschen, die bereits in der Hölle waren…“

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