Gegen den Strom

Die Debatten um Atomausstieg und Energiewende haben gezeigt, dass wir unser Leben ändern müssen. Ein Besuch bei Menschen, die das bereits getan haben. Fotos Von DIETER EIKELPOTH RedaktioN und INTERVIEWS von MAIK BRÜGGEMEYER

Drachenmühle

Sachsen

Christian Schembritzki lebt mit seiner Frau Melanie Schreiber und den Kindern Pan, Landon und Lili in einer alten Mühle am Fuß von Deutschlands vermutlich ältestem Vulkan, dem Collm, beim sächsischen Schweta. Dort betreibt er seit 2004 das Naturprojekt Drachenmühle, das bereits zwei Mal von der UNESCO als Projekt der UN-Dekade „Bildung für nac**altige Entwicklung“ ausgezeichnet wurde. Im Garten hat er einen Biomeiler, der durch Verottung von Grünholzhäcksel Energie erzeugt. In Hof und Stall tummeln sich Wollschweine und andere heimische Nutztiere. „Für die Gesellschaft bin ich ein Exot – dabei scheint mir das, was ich tue, völlig normal zu sein. Vielleicht sagt diese Sichtweise also mehr über die Gesellschaft als über mich. Der Grundgedanke hinter unserer Lebensweise ist ganz einfach: Nach unserer Geburt ernähren wir uns von der Milch, die unsere Mutter uns gibt. Wenn wir heranwachsen, ernähren wir uns von dem, was die Erde uns gibt – sie ist also unsere zweite Mutter. Und so sollten wir sie auch behandeln. Wir produzieren so viele Dinge, die wir für ein gutes Leben nicht brauchen, die aber unser Ökosystem belasten. Meine Philosophie ist die Permakultur: Das Zusammenleben von Menschen, Tieren und Pflanzen muss so gestaltet werden, dass die natürlichen Kreisläufe unbegrenzt funktionieren und möglichst die Bedürfnisse aller Elemente erfüllt werden.“

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Arborn

Westerwald

Im Westerwald, in der Nähe von Mengerskirchen, lebt Wolfgang Hamacher in einem alten Bauwagen ohne Wasser- und Stromanschluss. Er kocht mit Gas und heizt mit Holz, das er auf dem Waldboden findet. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich mit einer kleinen Schafherde und den Landschaftspflege-Subventionszahlungen der EU.

„Schopenhauer hat gesagt, der Idealzustand ist die Nichtexistenz. Ansonsten unterliegt man den Zwängen der Physik und der Gene. Da sind wir alle gleich, und ich gehe nur den direkten Weg, den jedes Lebewesen gehen würde. Es passt sich seinen Bedingungen an. Das ist auch eine Frage der Intelligenz. Ein Wal braucht keinen Bagger, keinen Computer, nichts. Der hat ein riesiges Gehirn, einen riesigen Körper und ist unserer Entwicklung um eine Million Jahre voraus, würde ich sagen. Denn wir akzeptieren ja noch nicht mal das Seelenleben der Pflanzen. Es gibt Veganer, die kopflos jede Pflanze meucheln ohne moralische Bedenken und jeden Tierverzehr verurteilen – die wurden ja regelrecht militant, es gab Überfälle auf Metzgereien. Meine Erfahrung hat dazu geführt, dass ich alleine geblieben bin, weil ich gemerkt habe, wenn wir viele sind, sind wir so eitel, dass ein jeder auf seine individuellen Bedürfnisse pocht und nichts gemacht wird. Und daran ist Kommune 1 in Berlin schon gescheitert – am liegen gebliebenen Abwasch. Das bedeutet nicht, dass ich eine Hierarchie befürworte. Ich bin Anarchist. Und der Kerngedanke des Anarchismus lautet: Meine Freiheit geht nur so weit, wie ich die Freiheit des anderen nicht einschränke. Für mich ist das wahre Demokratie.“

Sieben Linden

Altmark

Das Ökodorf Sieben Linden ist als Genossenschaft organisiert. Viele der über 120 Bewohner leben noch in Bauwagen, Ziel ist jedoch langfristig eine feste Siedlung aus Niedrigenergiehäusern. Das soziale Leben ist in sogenannten Nachbarschaften organisiert, die jeweils eigenständige Lebensentwürfe verfolgen. Die Illustratorin Julia Kommerell (siehe S. 38) lebt seit elf Jahren in Sieben Linden: „Das Interesse an unserem Lebensstil ist mittlerweile sehr groß. Unsere Seminare sind voll, wir bekommen viele Medienanfragen. Neulich wollte RTL einen Bericht machen, aber wir waren denen nicht extrem genug. Doch genau darum geht es uns: zu zeigen, dass sich ein nac**altiger Lebensstil durchaus mit einem bürgerlichen Leben verbinden lässt. Das ist allerdings nicht billig. Jeder Bewohner muss für Nahrungsmittel, Miete, Strom (der zu 75 Prozent aus den gemeinschaftlichen Photovoltaik-Anlagen stammt), Wasser und Brennholz monatlich 500 bis 600 Euro zahlen. Unser Ziel ist es, dass nac**altiges Leben möglich ist, dass wir in Frieden zusammenleben können und dass das Ganze auch Spaß macht.“

Der Journalist Jan Grossarth hat einen Sommer lang Aussteiger besucht, mit ihnen gelebt und dabei viel über unsere Gesellschaft erfahren.

Gerade in diesem Sommer, ein Jahr nach meiner Reise, traf ich in Frankfurt wieder einen sogenannten Selbstversorger. Der Mann kam mit einem alten rostigen Transporter vom Vogelsberg, wo die Häuser nur noch 50.000 Euro kosten und wo er seit mehr als 20 Jahren einen kleinen Hof bewirtschaftet. Er brachte sein Buch als Geschenk mit: „Genug kann genügen – Plädoyer für einen frohen Verzicht“. Er hatte es mit der Schreibmaschine geschrieben, es ist gerade in einem kleinen regionalen Verlag erschienen. Der Mann hieß Achim, er war Ende 50, und mit ihm war es wieder da: dieses braungebrannte, furchige, zufriedene Aussteigergesicht, das man wohl erst dann bemerkenswert findet, wenn man sich selbst nach einigen Wochen im Büro im Spiegel anschaut.

Wenn wir jetzt, mitten im Rekordwachstum, nicht nur eine Schuldenkrise haben, sondern eine Sinnkrise, deren Ausdruck die allgemeine Freudlosigkeit ist und deren Ursprung das rein ökonomische Denken, dann wird wieder eine Aussteiger-Bewegung kommen. So wie es immer war in den bürgerlichen Jahrhunderten, wenn Überdruss herrschte an der rein technischen Weltsicht. Ob 1900 oder 1968. Dann kommen die Zeiten des Antiprofessionalismus, da verspricht man sich mehr von den Randfiguren als von den Etablierten und den Institutionen.

Was kann man von Aussteigern lernen? Wahrscheinlich kann man sich bei ihnen nicht das Lebensmodell abgucken, das für alle funktioniert und sicher glücklich macht. Man kann sie aber ein bisschen bewundern. Für ihren Mut und ihre Konsequenz. Den etwa, der im Bauwagen lebt, ohne Strom und Wasser am Waldrand. Wolfgang Hamacher, ein älterer Mann, der mit seinem Nikolausbart aussieht wie der Darsteller eines Aussteigers. Der die Verantwortungslosigkeit als Angestellter nicht mehr ausgehalten hat. Als Waldschäfer ist er jetzt für alles, was er tut, verantwortlich. Viele in seinem Wohnort Arborn im Westerwald finden ihn unerträglich. Er sagt, was er über sie denkt.

Wolfgang Hamacher sieht vom Fenster seines gemütlichen, staubigen Bauwagens aus unten im Tal das Dorf liegen. Die Leute, die dort wohnen, hält er für Städter, die sich in ihren „luxusgestylten Wohnhöhlen“ der totalen Artifizialität hingeben. Er hat viel zu sagen über sie und die Welt. Er flucht und schimpft. Er sieht eine Welt kommen, in der Natur, so wie er sie von seinen Schafweiden kennt, nur noch als Artefakt in virtuellen Werbungswelten existiert, während die Landschaft mit der Landwirtschaft industrialisiert wird. Er schreit sozusagen noch, so wie Babys schreien, wenn er sich sorgt. Aber niemand hört ihm mehr zu. So geht es vielen Aussteigern.

Es war die Geschichte eines Bauern, die mich so faszinierte, dass ich von Aussteigern wie ihm eineinhalb Jahre nicht wegkam. Er lebte in Niedersachsen, mähte das Heu für seine zwei Kühe mit der Sense, sammelte über Jahre seine seltsam tiefe, beschränkte, irrsinnige Kleinbauernlyrik in einem buchdicken Ordner. Nur arbeiten mit Muskelkraft sei nac**altig, sagt er. Wer keinen Atomstrom wolle, der müsse dies konsequenterweise auch tun, Heu mit der Sense mähen. Andere wie Reiner und Heike aus der Uckermark leben auch wahrhaft nac**altig. Sie wahren die ökologischen Kreisläufe. Sie haben einen Klärteich. Sie verfüttern ihre Fäkalien an ihre Hühner. Sie essen die Eier. Zunächst wirken sie ein bisschen befremdlich, doch nach einigen Tagen erscheinen ihre radikal anderen Weltsichten ganz logisch, und die „normale“ Welt wirkt verrückt.

Ein einfaches Leben wie dieses hilft, die Abhängigkeiten zu überwinden, die notwendigerweise entstehen in einer modernen, hoch arbeitsteiligen Wirtschaft. Es ist mehr Raum für Überraschung, echte, zwischenmenschliche Solidarität, für Mystik und Spiritualität. Es ist mehr Raum für Eigenbrötlereien. Eine gute Erfahrung in Zeiten des politisch als alternativlos angesehenen Atomausstiegs: Man kann auch sehr einfach leben, und es ist gar nicht so schlimm.Ein Heidelbeerzüchter aus der Oberpfalz etwa zeigt, dass es tausend Wege gibt, zu Geld zu kommen, wenn der letzte Arbeitgeber im „strukturschwachen“ Ort schließt. Blaubeeren sind teuer, dachte Ralf, also mache ich in Blaubeeren. Wenn die reif sind, fährt er mehrmals in der Woche mit seinem alten Audi 80 von Bayreuth bis Hof und verkauft sie an Bioläden. Er arbeitet vier Wochen im Jahr.

Man kann es sich einfach machen wie die Leute, die zum Stamm der Likatier nach Füssen ziehen. Sie arbeiten in den Unternehmen des „Stammes“ und begnügen sich mit einem kleinen Taschengeld. Dafür sind sie rundum versorgt. Es gibt unendlich viele Kinder in diesem Stamm, und ein Zusammenbruch der staatlichen Rentenversicherung würde niemandem von den Likatiern Angst machen.

Pavlik, der sich mittlerweile „Elf“ nennt, verzichtet ganz aufs Geld. Weil er meint, die Versachlichung der Beziehungen durch das Geld sei ein Übel der Mensc**eit. Damit hat er wahrscheinlich recht. Es ist eine interessante Erfahrung, dass man sich plötzlich lebendiger fühlt, wenn man für ein paar Tage Müllgemüse aus dem Lidl-Container mit ihm isst. Aber wer traut sich schon, das bei vollem Verstand nicht drei Tage, sondern ein Leben lang zu tun?

Man kann etwas lernen auch von Mönchen, den Ur-Aussteigern, oder von der esoterischen Gemeinschaft in Piemont: dass auch aufgeklärte Erwachsene an eine nicht materielle Realität ernsthaft glauben können. Weil sie sich ihr anvertrauen und sie dann auch als Realität erleben. Ich denke an den früheren Schweizer Richter, der, um Jesuit zu werden, 100.000 Franken im Jahr und seine Freundin aufgibt. Da kommt man nicht weit mit dem Zynismus, der einen reflexartig befällt, wenn man von Leuten hört, die noch an so etwas wie Wahrheit glauben und mit ihrer Lebensweise unsere eigene infrage stellen.

So wie das politische Vorzeigeprojekt Sieben Linden. Die rund 120 Aussteiger haben sich an den Waldrand getraut und Häuser aus Stroh und Lehm gebaut, mit Muskelkraft. Sie pflügen ihre Gemüsefelder mit Pferdekraft. Sie haben es sich, so scheint mir, zum Ziel gesetzt, möglichst viele Menschen davon zu überzeugen, auf ähnliche Art zu leben wie sie. Doch die Organisation dieses schon relativ großen Projekts erfordert viele Regeln, die vielen, die so ein enges Gemeinschaftsleben nicht gewohnt sind, wie Dogmen erscheinen mögen. Neue Bewohner müssen eine Probezeit absolvieren, bevor sie in Sieben Linden aufgenommen werden können, Handies sind strengstens verboten, es gibt rote und grüne Steine an den Wegen, die roten Wege sind nur für Einwohner, die grünen Wege auch für Gäste.

Achim vom Vogelsberg schreibt in seinem Buch, dass man als einfacher Gärtner sehr glücklich sein kann. Er zitiert Hermann Hesse und ähnliches. Er wirkt authentisch dabei. Er scheint sich etwas von der Lebendigkeit bewahrt zu haben, die uns schon lange verloren gegangen ist.

Im Titelstück des neuen Albums von Ja, Panik, „DMD KIU LIDT“ („Die Manifestation des Kapitalismus in unseren Leben ist die Traurigkeit“). heißt es: „Die kommende Gemeinschaft liegt hinter unseren Depressionen/ Denn was und wie man uns kaputt macht, ist auch etwas, das uns eint/ Es sind die Ränder einer Zone, die wir im Stillen alle bewohnen.“ Und am Ende von Michel Houellebecqs aktuellem Roman „Karte und Gebiet“ steht eine heimelige Utopie eines Frankreichs, das entwicklungstechnisch hinter die industrielle Revolution zurückgefallen ist. Vielleicht liegt tatsächlich eine Gegenbewegung in der Luft zum atomisierten Dasein, dem Wettrüsten der Lebensläufe und der auf Karrieremessen gepredigten totalen Anpassung. Man muss wirklich nicht glauben, dass tausend kleine Gemeinschaften besser sind als wenige große, und auch nicht, dass eine Welt humaner ist, die im Gegensatz zur bürgerlichen wieder Sympathie für Gaukler, Wahnsinnige und Propheten hat. Es ist wohl kein Zufall, dass die meisten Aussteiger sich selbst eher als Einsteiger sehen. Wenn man ihnen wieder zuhört, kann es ein Gewinn sein, frei nach Foucault zu bemerken: Wir sind alle längst selbst wahnsinnig, wenn wir nicht erkennen, dass wir mit denen, die wir „wahnsinnig“ nennen, auf rätselhafte Weise verbunden sind.

Jan Grossarth ist Wirtschaftsredakteur bei der „FAZ“. In seinem Buch „Vom Aussteigen und Ankommen“ (Riemann Verlag, 18,95 Euro) hat er die Erfahrungen seiner Reise aufgezeichnet.

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