Futter für das Marketing
Wie alle anderen wichtigen und wegweisenden Bands vor und nach ihnen, traten die Sex Pistols mit einer Single auf den Plan. „Anarchy In The UK“ war eruptiv wie ein Vulkan und die Nachbeben, eines heftiger als das andere, hatten ähnlich desaströse Auswirkungen: „God Save The Queen„, „Pretty Vacant“, „Holidays In The Sun“, mit heißer Nadel gestrickt, konzentriert, komprimiert, kompromißlos, Schlag auf Schlag, nur für den Moment, mit viel Sinn für Effekt, aber ohne Effektivität. Als nach zwei Jahren endlich das Album kam, war es eine Anti-Climax, eine Nachgeburt. Never mindthe bollocks.
Das könnte heute nicht mehr passieren. Man hat dazugelernt, arbeitet professionell. Wie das aussteht? Nun, zuerst muß so eine hoffnungsfrohe Newcomer-Band unter Vertrag genommen werden, für drei Alben. Plus Optionen, versteht sich. Dann treibt man ihr die Flausen aus und schickt die überhitzte Combo erstmal zur Abkühlung in den Übungsraum für, na, sagen wü; sechs Monate. Proben, proben, proben. Die Kanten abschleifen, das Fieber senken. Dann geht es ins Studio, wo unter Anleitung eines Profis am Sound gearbeitet wird, der noch immer zu unbändig aus den Speakern kracht. Die Musiker mögen aufmucken, doch Musiker sind wie Kinder: Sie wissen einfach nicht, was gut für sie ist.
Der Profi redet mit Engelszunge. Ihr wollt doch ins Radio, erklärt er mit Eselsgeduld, aber das könnt ihr vergessen, wenn das Produkt nicht kompatibel ist Das Radio, weiß der Profi, spielt keine „Ausreißer“, also Titel, die anders klingen als jene, die schon auf der Playlist sind. Das leuchtet unmittelbar ein, und so macht man sich an die Aufnahme von Demos. Die sind wichtig, weil die oberen Label-Etagen wissen wollen, ob das bisher angelegte Geld auch Resultate zeitigt, und weil die allgewaltige Marketing-Abteilung informiert werden muß über die „Anmutung“ des Neuzugangs, seine Zielgruppe, das Image-Tuning und Release-Timing. Viele gute Geister werkeln bereits an der vielversprechenden Karriere, doch nur der Manager weiß davon. Die Band darf sich noch ein wenig austoben und die Hörner abstoßen, vielleicht auf einer Tour durch die Provinz. Auch das ein überaus wichtiger Test, findet der A&R-Manager. Ein Jahr ist vergangen.
Die Band wird ins Studio zurückbeordert. Die Demos waren okay, aber irgendwie old hat. Was fehlt, ist der Akzent auf Drum’n’Bass, verstehst du? Da ist bereits ein Cro&sover von den Clubs in die Charts im Gange, und wer Trends verschläft, ist selber schuld.
Der Sänger nickt Er ist auf Draht Der Gitarrist ist unglücklich. Pech für ihn. Der Drummer revoltiert, aber er ist ohnehin das schwächste Glied, zu amateurhaft, zu musikbesessen. Eine Rhythmus-Box übernimmt seinen Job, nur im Studio natürlich und nur vorübergehend. Kommt Zeh, kommt Rat.
Die neuen Demos sind der Gesprächsstoff auf allen Etagen. Wie die Simple Minds mit dem Sänger von Simply Red, schwärmt einet So gut Beim Roundtable mit der Geschäftsführung meidet sich schüchtern der Gitarrist und moniert, daß ihm jetzt alles zu soft klinge und zu wenig nach Rock’n’Roll. Er wird überstimmt Jetzt, sagt der Vice-President (der mit dem Pferdeschwanz) zufrieden, könne es ja richtig losgehen. Und während die Jungtalente im Studio unter der Ägide von, genau, Profis, an ihrem ersten Album basteln, wird andernorts ein Budget festgesetzt, eine Marketing-Kampagne ausbaldowert und die Vor-Veröffentlichungs-Maschinerie angeworfen. Stylisten müssen ran für den letzten Schliff, ein Choreograph für die Synchron-Hopserei im ersten Video (proben, proben, proben), und zur Session für die geilen Promo-Fotos fliegt man eben mal nach Tunesien. Zurüde ins Studio, es wird gemixt, dann Clips zwei und drei, und schon ist es soweit.
Gut zwei Jahre und eine halbe Million Mark nach ihrer Entdeckung freut man sich dumm und dämlich im Lager der erfreulich homogenisierten Newcomer-Band über die allererste Veröffentlichung, eine „Vbrabauskopplung* (Profi-Lingo) ihres ersten Longplayers. Der kommt sechs Wochen später, und dann wird weiter ausgekoppelt, ad infinitum. Um den Nachwuchs sei es nicht zum besten bestellt, klagt man in Industrie-Kreisen. Kaum zu glauben, wo man sich doch so rührend um ihn kümmert. Vor 20 Jahren war Pop schnell und quecksilbrig, akut und abenteuerlich. Drei-Minuten-Statements aus der Hüfte, nicht selten tödlich. Heute sitzt auf jeder Produktion eine Hypothek aus Overheads, die Kreativität sabotiert und Spontaneität killt Nur noch ganze elf Singles in den deutschen Top 100 dieser Woche sind genuin, autonom und aktuell. Der Rest ist nur Mittel zum Zweck der Ankurbelung von Album-Sales, nur Zweitverwertung, bevor dasselbe Stück zur Drittverwertung auf einer obligatorischen Hits-Compilation zur letzten Ruhe gebettet wird.
Die Sex Pistols wären heute absolut chancenlos. Keine Zukunft.
Like punk never happend.