„Fuocoammare“ und die Flüchtlinge: Es brennt auf dem Mittelmeer

Es ist nicht so, als wäre die Flüchtlingssituation bislang nicht auf der Berlinale wahrnehmbar gewesen. George Clooneey traf sich sogar eigens mit Angela Merkel zum Refugee-Talk. Mit Gianfranco Rosis erschütternd-anrührendem Dokumentarfilm "Fuocoammare" ist das Thema nun unmittelbar ins Zentrum dieses noch jungen Festivals gerückt.

Flüchtlinge kurz nach ihrer Rettung auf dem Meer. Müde, ausgelaugt und doch froh, am Leben zu sein, sitzen sie im Dunkel, eingehüllt in die goldenen Isolierdecken der Küstenwache. Es könnten Könige aus fernen Ländern sein, sie sind aber die Elenden dieser Welt. Europa will sie mit aller Macht von seinen Außengrenzen fernhalten. Aufgenommen wurde dieses bleibende Bild im Hafen von Lampedusa, einem Hotspot der Einwanderung nach Europa. Es ist zentral in Gianfranco Rosis famosem Wettbewerbsbeitrag, dem Dokumentarfilm Fuocoammare. Der Filmtitel ist einem Schlager entnommen, in dem vom Feuer über dem Meer die Rede ist. Es brennt auf dem Mittelmeer – was das heißt, muss man dieser Tage nicht mehr erklären.

Das schlechte Gewissen Europas

In den siebziger und achtziger Jahren wusste kaum ein Europäer, dass es die italienische Insel Lampedusa überhaupt gibt. Noch in den neunziger Jahren wussten nur wenige, wo sie eigentlich liegt. Inzwischen ist Lampedusa der Inbegriff des schlechten Gewissens Europas. Die Insel ist zu einem der zentralen Schauplätze einer Tragödie geworden, die in den letzten zwanzig Jahren fast 15.000 Menschenleben gekostet hat.

Etwa 4.000 Menschen leben auf der Insel, die einen Vorposten der Festung Europa bildet. Von diesem Fleck Erde aus versucht die Europäische Union mit modernster Waffentechnik, ihren Wohlstand vor den Flüchtlingen dieser Welt abzuschirmen. Der italienische Dokumentarfilmer Gianfranco Rosi hat sich gefragt, wie es sich auf dieser Insel lebt, aus deren Häfen Fischerboote auslaufen und mit Flüchtlingen statt mit dem Tagesfang zurückkehren. Wo sich eine permanente Katastrophe vor der eigenen Haustür vollzieht und mit den Flüchtlingen die Folgen der Globalisierung in eine Welt dringen, die aus längst vergessenen, traditionellen Lebensformen besteht.

Auch Rosi kommt nicht umhin, für diese zwei völlig unterschiedlichen Welten zwei Erzählstränge zu entwickeln. Da ist zum einen die Abbildung der Katastrophe, die sich vor den Küsten dieser (und inzwischen bei weitem nicht nur dieser) Insel täglich ereignet. Rosi schont die Zuschauer dabei in keiner Weise, zwingt sie, (endlich) hinzusehen. Er ist mit den Rettungsteams auf das Meer hinausgefahren und hielt selbst dann noch die Kamera auf die Geschehnisse, als es der Verstand schon nicht mehr ertragen kann. So dokumentiert er den unerbittlichen und endlosen Kampf um das Leben der Schutzsuchenden nahezu lückenlos. Zentral ist dabei ein Einsatz, bei dem ein Boot mit dutzenden Toten unter Deck aufgebracht wurde. Rosi bildet hier unmittelbar die Wirklichkeit ab, die Bilder sind nahezu unerträglich, wühlen auf und wecken eine kaum zu bändigende Wut im Bauch.

Angst schnürt die Luft ab

Im Zentrum des zweiten Erzählstrangs steht der zwölfjährige Samuele, der auf der Insel aufwächst. Er trägt in sich eine kindliche Unschuld, die Rosi der politischen Situation kontrastierend gegenüberstellt. Er begleitet den Jungen auf seinen Streifzügen über die Insel, filmt ihn bei der Vogeljagd mit der selbstgebauten Schleuder und beobachtet ihn beim Verschlingen von Omas Pasta. Samuele ist ein Lausebube im besten Sinne des Wortes mit vielen Flausen im Kopf, dessen Naivität man angesichts der erschütternden Bilder der Flüchtlingskatastrophe neidet.

Ein glücklicher Zufall, dass Rosi in Samuele schon kurz nach seiner Ankunft auf der Insel im Herbst 2014 nicht nur eine faszinierende Hauptfigur, sondern auch die Verkörperung der großen Metapher dieses Filmes gefunden hat. Die Angst schnürt ihm die Luft ab, seine imaginierten Feinde auf dem Meer ballert er gnadenlos nieder. Außerdem hat er ein träges Auge, er benutzt immer nur das linke, wenn er seine Ziele ins Visier nimmt. Ihm wird eine Blende verschrieben, mit der er das gesunde Auge abdecken soll, um das kranke zum Sehen zu zwingen. Welch gelungene poetische Allegorie auf die Europäische Union, die auf dem Auge der Menschlichkeit blind ist und stattdessen nur das andere Auge nutzt, das der Jagd, der militarisierten Abwehr der imaginierten Feinde, die vom Meer her kommen.

„Kein politischer Film“

Er habe keinen politischen Film machen wollen, sagte Rosi am Samstag in Berlin. Der Film wird aber gerade durch die Abwesenheit einer solchen Intention politisch. Der in Eritrea geborene Filmemacher, der 2013 mit Das andere Rom in Venedig den Goldenen Löwen gewonnen hat, will keine bestimmte Geschichte erzählen. Nein, er will einfach nur erzählen, von den Menschen und ihren Schicksalen. Und das macht er hier einerseits in radikal ehrlichen, unzensierten Bildern der Schutzsuchenden, andererseits mit romantischen Impressionen der in ihren Traditionen verwurzelten Insel und ihrer Bewohner. Von der europäischen Gesellschaft ist hier nichts zu sehen. In dieser Abwesenheit schafft Rosi wahrscheinlich das ehrlichste Porträt dieses Staatenbunds und seiner aktuellen Befindlichkeit, das man in diesem Jahr auf die Berlinale sehen wird.

Vor allem aber gibt Rosi mit jedem Bild den Flüchtlingen ein Stück ihrer Würde zurück, holt sie raus aus ihrer Rolle eines Objekts (der Berichterstattung, der Inszenierung, der Fremdenfeindlichkeit) und zeigt sie als Subjekte, die Unfassbares erlebt haben, die um die Toten weinen und das eigene Überleben in melancholischen Gesängen feiern. Er verneigt sich mit der Dokumentation aber auch vor den Helfern, die täglich mit den Folgen der rigiden europäischen Einwanderungsgesetzgebung konfrontiert sind.

Einer dieser Helfer ist Pietro Bartolo, ein Arzt, der im Film eine tragende Rolle einnimmt. Seit Jahren ist er am Hafen, wenn die Flüchtlinge ankommen, reibt sich auf für das Leben jener, die der EU so wenig wert sind. Auf der Pressekonferenz gefragt, warum die Menschen in Lampedusa diese Situation so stoisch hinnehmen und nicht auf die Barrikaden gehen, sagte er, dass die Menschen in seiner Heimat Fischer seien und alles, was vom Meer kommt, mit offenen Armen empfangen.

Bären-Favorit

Der Arzt ist einer der wenigen Zeugen, der die Tragödie, die sich in Lampedusa seit Jahren vollzieht, von Anfang an begleitet und dokumentiert hat. Er untersucht und behandelt die ankommenden Flüchtlinge, so sie noch am Leben sind, die Toten kann er nur noch obduzieren. Unzählige Tote habe er seit dem Beginn der Massenhaften Einwanderung über Lampedusa gesehen, sagte er auf der Pressekonferenz. »All das erzeugt so eine Wut, eine Leere im Bauch«, sagt er in einer Sequenz, die Rosi erst vor wenigen Wochen gedreht hat. »Jeder Mensch, der sich so nennt, muss diesen Menschen helfen« appelliert Pietro Bartolo im Film. Eine Botschaft, die passender nicht sein könnte.

Noch hat das Festival kaum Fahrt aufgenommen, hinterlässt dieser Film einen überaus starken Eindruck. Für Vorhersagen ist es noch zu früh, aber über die Frage, ob die Jury des selbsternannten politischsten aller Filmfestivals Rosis Beitrag unberücksichtigt lassen kann, wenn es um die Bären geht, kann man durchaus schon einmal nachdenken.

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