Für Erdoğan ist der Eurovision Song Contest eine „Bedrohung für die Familie“
Scharfe Kritik aus der Türkei: „Bei solchen Veranstaltungen ist es unmöglich geworden, einen normalen Menschen zu treffen“
Auch zwei Wochen nach dem ESC-Finale, dessen „unpolitischer“ Charakter immer wieder betont wird, setzt es weiterhin Kritik aus dem politischen Lager. Jetzt meldet sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zu Wort. In einer Rede im Anschluss an eine Kabinettssitzung bezeichnete er die Teilnehmer des Wettbewerbs als „trojanische Pferde der sozialen Korruption“.
Das langjährige ESC-Land Türkei, das den Wettbewerb im Jahr 2003 mit Sertab Ereners „Everyway That I Can“ gewonnen hatte, ist bereits seit 2012 nicht mehr dabei. Was einst als Streit über den Jury-Modus begann, bekam in der Folgezeit immer mehr weltanschauliche Gründe. 2013 und 2014 ist der Wettbewerb nicht einmal mehr auf dem staatlichen Sender TRT übertragen worden.
Die konservative Anstalt monierte damals die Teilnahme von Conchita Wurst an den 2014er-Finals. Später wurde erklärt: „Als öffentlich-rechtlicher Sender können wir auch nicht um 21 Uhr – wenn Kinder noch wach sind – jemanden wie diesen bärtigen Österreicher live senden, der einen Rock trägt, nicht an Geschlechter glaubt und sagt, dass er sowohl ein Mann als auch eine Frau ist.“
Erdoğan tutet nun ins gleiche Horn. Er kritisiert den Song Contest scharf, weil dieser „Geschlechtsneutralisierung“ und „soziale Korruption“ fördern würde und somit auch die traditionelle Familie bedrohe. „Bei solchen Veranstaltungen ist es unmöglich geworden, einen normalen Menschen zu treffen“, sagte er.
Eine offensichtliche Anspielung auf Irlands Beitrag Bambie Thug („Doomsday Blue“) sowie den nicht-binären Schweizer Siegerbeitrag von Nemo mit „The Code“; einer operettenhaften Pop-Rap-Ode, in der es um den Lebensweg geht, sich für eine geschlechtliche Identität entschieden zu haben, die nicht eindeutig zuzuordnen ist.
„Wir verstehen nun besser, dass wir die richtige Entscheidung getroffen haben, indem wir die Türkei in den letzten zwölf Jahren aus diesem schändlichen Wettbewerb herausgehalten haben“, deutet Erdoğan den Ausstieg aus dem ESC vollends nach der seiner Agenda. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung hat ihre Wurzeln in der islamischen Bewegung der Türkei. Die türkischen Offiziellen sind in den letzten Jahren verschärft gegen die weiterhin existente LGBTQ+-Community vorgegangen. Bei der Gay Pride Parade in Istanbul kam es immer wieder zu Schikanen und Verhaftungen.
Erdoğans Aussagen stehen zudem im Kontext einer Sitzung, auf der die Familienpolitik des Landes thematisiert worden ist. Der Präsident nannte den signifikanten Rückgang der Geburtenraten als „existenzielle Bedrohung“ und „Katastrophe“ für die Türkei. Letzte Woche hatte das staatliche Statistikamt bekannt gegeben, dass die Geburtenrate des Landes im Jahr 2023 auf 1,51 Kinder pro Frau gesunken sei. Erdoğan fordert seit langem, dass Familien mindestens drei Kinder haben sollten.