Früher als Chronist des ganz gewöhnlichen Kiffer-Alltages bekannt, hat Gerhard Seyfried nun sein Talent für den historischen Roman entdeckt
Den einst in München arbeitenden Künstler zeichne „eine bedeutende Doppelbegabung“ aus. Laut Meyers Taschenlexikon ist er „ein unerreichter Meister des epigrammat. knappen Textes, verbunden mit satir. Bilderfolgen“. Zwar genügte das nicht für Reich-Ranickis Kanon der Literatur – diktiert für angehende Studienräte, die beim Thema Leit- und Leid-Kultur mitreden wollen -, war aber gut genug für die „Schülerbibliothek“, mit der „Die Zeit“ im November 2002 auf Ranickis Lit-Tipps konterte. Hier kam Wilhelm Busch immerhin in die Top 10.
Die illustrierten Geschichten Wilhelm Buschs erschienen vor mehr als hundert Jahren, da können sie nun auch Heranwachsenden empfohlen werden platziert zwischen die Schubladen mit den vergilbten Labels U und E. Andere Comics bleiben weiter bei U wie Unterhaltung, unterirdisch, unter-Niveau… aber auch U wie Underground, U-Comix usw usf.
So aberwitzig die U-/E-Trennung nach wie vor ist – Gerhard Seyfried hat sie bei seinem waghalsigen Paradigmenwechsel nicht weiter beschäftigt Der gebürtige Münchner, in jeder WG besser bekannt als amtlicher Westberlin-Chronist, legte vor wenigen Wochen seinen ersten Roman vor. Mit „Herero“ (Eichborn) betritt Seyfried in jeder Hinsicht Neuland ganz ernsthaft, ohne Sprechblasen und Colorierung. Location und Handlung sind authentisch, in unserem kollektiven Bewusstsein allerdings ausradiert: Die Niederwerfung des „Herero-Aufstandes“ in Deutsch-Südwestafrika im Jahre 1904 gilt als erster systematischer Völkermord der Deutschen.
Das Thema also finster wie spannend – spannend auch deshalb, weil Seyfried nach jahrelanger Recherche dem Ganzen einen eigenen Dreh gibt: Systematisch, so sein Ergebnis, ging der vom Kaiserreich entsandte General Lothar von Trotha nämlich nicht vor. Allzu neu und unfassbar waren die Umstände, die er in dem riesigen Land vorfand…
Um sie adäquat zu präsentieren, schaltet Seyfried einige Gänge runter und beschreibt auf 600 Seiten eine Zeit, die weiter zurückzuliegen scheint als die vorletzte Jahrhundertwende, weiter weg als Namibia. Informiert und kommuniziert wird via Heliograph, gereist mit Ochsengespannen oder Lokomotiven, die sich wie in Zeitlupe in das weite, öde und faszinierende Terrain fressen.
Wer sich kein U für ein E vormachen lässt, weiß schon von früher, wie belesen Seyfried ist (erkennbar an Referenzen zu Tomi Unger, Herge u.a. ganz zu schweigen von der Im April: Seyfrieds Abrechnung, Ally McBeals Abgang und Philip Roths Todesfuge K KulturgutMitarbeit an Gilbert Sheltons „Freak Brothers“), wie rasierklingenscharf sein Bück, wie spitz die Feder beim Karikieren von „Freakadellen und Bulletten“ (Elefantenpress). So gewitzt-genial er sich mit der Welt in und um Kreuzberg auseinandersetzte – angeräuchert mit den szeneüblichen Gewächsen -, so unprätentiös blieb dabei die Zunge. Es war Seyfrieds Verständnis für die conditio humana, die für die extra Pointe sorgte (und für ebenso viele Lacher und Fans in so mancher Polizeidienststelle…). Dasselbe Verständnis gibt in dem Roman den Ton an.
Doch vor den Geschichten von Hauptmann Franke, Häuptling Petrus und der Fotografin Cecilie Orenstein (quasi Seyfrieds sprachloses Auge, ob der visuellen Macht des „Neuen Kontinents“) rangiert als Protagonist der Kartograf Carl Ettmann. Von der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes entsandt, kommt er als 33jähriger Witwer nach Swakopmund, um das Land zu vermessen, es in den Griff zu kriegen – und wird stattdessen von der Schutztruppe im Krieg gegen die Eingeborenen rekrutiert. „Das war meine Anfangsfrage: Wie geht’s einem, der da hinkommt und in so eine Situation rutscht? Was geht in so einem vor? Kann man da raus? Ich überlegte auch, ihn desertieren zu lassen – aber das kam in der Realität nicht vor. Also habe ich das nicht gemacht, weil ich eben nah an der Geschichte bleiben wollte.“
Hierin unterscheidet sich „Herero“ von den historischen Romanen eines T. C. Boyle („Wassermusik“) und Madison Smartt Bell („Aufstand aller Seelen“) bzw. von den politischen Meditationen zu JFK/Dallas (DeLillo, Mailer und Ellroy): Das personelle Arrangement bleibt übersichtlich, erfunden sind nur die zwei „Augenmenschen“ Cecilie Orenstein und Carl Ettmann. „Tatsächlich fing alles ab militärhistorische Abhandlung an.“
Dass manchem mehr Drama, auch auf Kosten der Authenzität lieber wäre, weiß Seyfried. Er weiß aber auch, was er wollte, und das hat er gemacht. „Das ist immer ein Streitpunkt, irgendwo auch eine Frage der Verantwortung, gerade im Fall des historisch neuen Erzählens des Herero-Aufstands. Die Romanhandlung… ja, sie ist so, wie ich sie gern mag: sanft und zart und verhalten. Zwar immer auch mit viel Gewalt, aber ohne Sex – damit ich um Reich-Ranicki rumkomme – äh heh heheh!“
Womit wir wieder bei den Cartoons wären, der Besessenheit abzubilden, was Wirklichkeit ist, der Liebe zur Kartografie (über die sich schon Kunstprofessor Weigle ausließ, als Seyfried 1986 der „Max-und Moritz“-Preis verliehen wurde, an die sich aber auch jeder erinnert, der einst die Landkarten von „Teuropa“ inspizierte, sich an „Gestankfurt“ und „Kaputtgart“ erfreute…). Doch für Seyfried ist das Geschäft mit den Sprechblasen zerplatzt Von den Ereignissen der Zeit ohnehin überholt, wie mancher meint – „unterbezahlt“, wie er selbst findet – „recherchiert er nun weitere schwarze Flecken deutscher Kolonialgeschichte. „Sachen, die nie richtig gemacht worden sind; oder wenn, dann nur von den Nazis. Das wenigstens versuchsweise objektiv zu machen, gleichzeitig aus deutscher Sicht, dabei also die Deutschen nicht per se zu verteufeln“ bleibt eine Herausforderung.“ Und so liest und schreibt er schon am nächsten Wurf, einem Roman über den Boxeraufstand in Tsing-tau.
Bei aller Zurückhaltung in der Perspektive ist „Herero“ sehr politisch, also sehr Seyfried – und zugleich hochaktuell: Nachdem Kuaima Riruako, Häuptling der Herero, in Washington eine Sammelklage einreichte, wird die Niederwerfung des Aufstandes bald in einem Prozess neu verhandelt (gefordert wird eine Entschädigung in Höhe von 4 Milliarden Dollar). Die Bundesregierung hat sich bis heute nicht zu dem Genozid bekannt.