Frontotemporale Demenz: Das ist die Krankheit, an der Bruce Willis leidet
Die Erkrankung ist die häufigste Form der Demenz bei Patienten unter 60 Jahren – so wird sie erkannt und behandelt.
Von Kory Grow
Die Familie von Bruce Willis gab am 16. Februar bekannt, dass bei dem Schauspieler Frontotemporale Demenz (FTD) diagnostiziert wurde – eine seltene Krankheit, die seine Lebensqualität stark beeinträchtigen wird. Laut der Association for Frontotemporal Degeneration steht FTD für eine Gruppe von Erkrankungen, die mit der Rückbildung des Frontal- und/oder Temporallappens des Gehirns einhergehen. In einer gemeinsamen Erklärung bezeichneten Willis‘ Angehörige FTD als „grausame Krankheit“.
Dr. Joel Salinas, Assistenzprofessor für Neurologie an der New York University Langone Health, hat sich als Verhaltensneurologe mit FTD und Alzheimer beschäftigt. Er erklärte ROLLING STONE, wie sich die Krankheit auf Betroffene auswirkt, wie sie erkannt und behandelt werden kann. Seine Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es äußerst schwierig ist, mit FTD zu leben, so Salinas. Die Frage nach der Lebensqualität eines Menschen mit dieser Diagnose sei „herzzerreißend“.
„Wenn die Krankheit fortschreitet, wird die Lebensqualität ziemlich stark beeinträchtigt“, sagt er. „Es gab eine Studie, die untersuchte, wie Angehörige von Erkrankten den Zustand ihrer Liebsten einschätzten und die häufigste Antwort war ,schlimmer als tot‘.“
FTD entwickelt sich, wenn sich bei einer Person fehlgefaltete Proteine in den Frontal- und/oder Temporallappen des Gehirns ansammeln. Durch die Anhäufung dieser Proteine kommt es im Laufe der Zeit zu Entzündungen und Verletzungen der Nervenzellen. Die Symptome hängen davon ab, welcher Teil des Gehirns von der Krankheit betroffen ist.
Formen der Krankheit
Bei einer Rückbildung in den Frontallappen treten häufig Verhaltenssymptome auf. „Dies kann sich in langsamen Verhaltensänderungen äußern, die Persönlichkeitsveränderungen, Enthemmung, Impulsivität, neue Zwangsvorstellungen und Zwänge umfassen“, erklärt der Neurologe. „Häufig wird von zerrütteten Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden, Scheidungen, schlechter Leistung im Beruf, Glücksspiel, übermäßigem Geldausgeben und sexuellen Indiskretionen berichtet. Das verärgert Familienmitglieder und führt zu erheblichen sozialen Beeinträchtigungen.“
Menschen, die an FTD in den Schläfenlappen leiden, haben vor allem häufig Probleme mit Sprache und Kommunikation. „Dort entwickelt sich die so genannte primär progrediente Aphasie, wie sie bei Bruce Willis auftritt“, sagt Salinas. „Sie äußert sich in Schwierigkeiten bei der Wortfindung, beim Verstehen oder beim Schreiben. Mit der Zeit kann es sogar zu Schwierigkeiten beim Formen der Worte mit dem Mund kommen. Mit dem Fortschreiten der Krankheit können die Betroffenen Schwierigkeiten beim Schlucken bekommen, dadurch entsteht ein höheres Risiko für eine Lungenentzündung.“
Eine dritte Gruppe, die weniger häufig auftritt, betrifft Muskelfunktionen. Sie kann wie die Parkinson-Krankheit aussehen – Betroffenen klagen über Muskelschwäche. Laut Salinas sind Menschen, in deren Familie ALS (Lou-Gehrig-Krankheit) vorkommt, anfälliger für diese Form von FTD. „Es ist wichtig zu wissen, dass bei etwa 20 bis 30 Prozent der Menschen, die FTP entwickeln, eine familiäre oder genetische Ursache vorliegt“, sagt er. „Es muss noch viel geforscht werden, um wirklich herauszufinden, was die Ursachen für die übrigen Menschen sind.“
Die Diagnose
Der Mangel an Forschungsergebnissen erklärt, warum die Diagnose bei vielen Patienten oft spät gestellt wird – nämlich erst drei Jahre nach Ausbruch der Krankheit. Oft leiden die Patienten bereits unter leichten Verhaltensstörungen, wenn die Ärzte die Krankheit durch klinische Tests feststellen. FTD wird zur „Demenz“, wenn eine Person nicht mehr in der Lage ist, alltägliche Aktivitäten zu verrichten. Der Grad der Erkrankung kann leicht, mittelschwer oder schwer sein. Die Art und Weise, wie die Krankheit fortschreitet, ist von Person zu Person unterschiedlich und kann sich über sieben bis 13 Jahre hinziehen. Salinas sind jedoch Fälle bekannt, bei denen die Krankheit in nur zwei Jahren oder in 20 Jahren fortgeschritten ist. Menschen können FTD im Alter von 20 Jahren bis zu ihren 80ern entwickeln. Die meisten Diagnosen werden zwischen dem 45. und 65. Lebensjahr gestellt.
„Leichte Beeinträchtigungen betreffen alltägliche Dinge wie die Erledigung von Korrespondenzen und Finanzen, öffentliche Verkehrsmittel, die Fähigkeit, aufzustehen und einer Arbeit nachzugehen“, erklärt der Professor. „Sobald jemand in das mittlere Stadium gelangt, sehen wir mehr Abhängigkeit bei den grundlegenden Aktivitäten des täglichen Lebens: Duschen, Anziehen, Toilettengang und Schwierigkeiten beim Essen. Wenn jemand dann in fast allen Bereichen sehr abhängig ist, spricht man von einer schweren Form. Wenn die Krankheit so weit fortgeschritten ist, dass der Kranke nicht nur Schwierigkeiten beim Schlucken, sondern auch beim Essen hat und nur noch sehr eingeschränkt interagieren kann, nennen wir das ,Endstadium‘.“
Behandlungsmöglichkeiten
In ihrem Statement sagte die Familie Willis, dass es keine Behandlungen für die Krankheit gibt. Salinas erzählt, dass Ärzte mit den Patienten abhängig von deren Symptomen arbeiten. Sie würden einen Patienten mit Sprach- und kognitiven Therapeuten zusammenbringen, um seine Kommunikation zu fördern, und in einigen Fällen, wenn nötig, Medikamente wie Antipsychotika für Menschen in schwerer Notlage verschreiben. Aber: „Es gibt keine Heilung für diese Krankheit. Letztlich lernen die Ärzte diese Krankheit immer noch kennen.“
Der Mangel an Forschungsergebnissen ist eine Folge des mangelnden Bewusstseins für diese Krankheit. „Nicht viele Menschen wissen davon, obwohl es sich um die häufigste Form der Demenz unter 60 handelt“, sagt er. „Und die Betroffenen sind oft nicht in der Lage, für sich selbst einzutreten.“ Der Neurologe wünscht sich insbesondere mehr Forschung über den biologischen Mechanismus der Krankheit. Außerdem sollten mehr klinische Studien durchgeführt werden, um festzustellen, ob experimentelle Medikamente in einem frühen Stadium der Krankheit wirksam sind.
Salinas hofft, dass Frühsymptome, wie z. B. Wortfindungsstörungen, besser erkannt werden und die Krankheit so früher diagnostiziert werden kann. Wenn Menschen FTD besser verstehen und Ärzte mehr Forschung betreiben können, könnte dies das Leben der Betroffenen erheblich verbessern. „Die Kosten können manchmal doppelt so hoch sein wie bei Menschen mit Alzheimer“, sagt er.
Willis‘ Familie gab im März 2022 bekannt, dass sich der Schauspieler vom Filmgeschäft zurückziehen würde, da er an einer Aphasie leide. „Da Bruce‘ Zustand immer weiter fortschreitet“, schrieb die Familie in ihrer Erklärung, „hoffen wir, dass sich die Aufmerksamkeit der Medien darauf konzentrieren kann, ein Licht auf diese Krankheit zu werfen, die viel mehr Bewusstsein und Forschung benötigt.“
Aus dem Amerikanischen übersetzt, erstmal erschienen auf rollingstone.com