Freuden des ewigen Eises
Der junge Songwriter Simon Lynge liebt vor allem Folk aus den Sechzigern und ist der erste Inuit mit einem weltweiten Plattenvertrag. Ein Besuch in seiner grönlandischen Heimat.
Einer meiner Lieblingsorte auf diesem Planeten“, schreit Simon Lynge und versucht, den Lärm des Hubschraubers zu übertönen, als wir über Qaqortoq in Grönland, der Heimat seines Vaters, fliegen. Es ist das einzige Mal auf unser einwöchigen Expedition, dass der sonst so stoische Lynge etwas lauter wird, aber es ist nicht das einzige Mal, dass er mit sichtlichem Stolz von seiner Heimat spricht.
„Ich habe hier Freunde und Verwandte, aber auch Erinnerungen. Es ist immer eine emotionale Angelegenheit, hierher zurückzukommen … Das Gefühl ist schwer zu beschreiben, und es überkommt mich auch erst, wenn ich wieder vor Ort bin. Es lässt sich kaum in Worte fassen, weil es eben so unvergleichlich ist.“
Lynge lebt heute mit Frau und Kind in Jefferson County, 100 Kilometer von Seattle entfernt, wo er einige Jahre an seinem Debütalbum „The Future“ gearbeitet hat. Dies ist der erste Trip nach Hause seit mehr als einem Jahr, und bereits Stunden nach unserer Ankunft fallen ihm die gravierenden Veränderungen ins Auge. Nicht ohne Grund wurde Grönland vom „National Geographic“-Magazin als „Ground Zero for Global Warming“ bezeichnet.
„Es hat sich schon zu meinen Lebzeiten verändert, aber mein Vater behauptet, dass die sichtbarsten Folgen des Klimawandels erst in den letzten Jahren eingetreten sind.“ Lynge sitzt hinter dem kleinen Holzhaus seines Vaters und spielt geistesabwesend auf seiner Gitarre. „Die Eisberge schmelzen inzwischen viel schneller. In den Fjorden, die wir von hier aus sehen, kann man normalerweise Dutzende sehen. Und auf den Bergen hinter uns lag immer Schnee. Ich möchte ja nicht gleich prophezeien, dass Grönland in 100 Jahren eine tropische Insel ist, aber die Veränderungen sind definitiv beunruhigend.“
Auch wenn so mancher Zeitgenosse kopfschüttelnd auf seine Jahre als Teenager zurückblickt, fallen Lynges prägende Jahre in einer Inuit-Siedlung sicher aus dem Rahmen. „Als ich 17 war, erlegte ich mein erstes Rentier. Ich kam gerade über diesen Hügel, als es plötzlich vor mir stand. Ich schoss, zerlegte das Tier und schleppte dann das Fleisch zu meinem Boot. Ich hatte kein Hemd an, und als ich das Blut auf meinem Oberkörper sah, erinnerte es mich an ein heidnisches Ritual. Am nächsten Tag segelte ich zurück, und mein Vater verkündigte die Neuigkeit über das VHF-Radio. Alle beglückwünschten mich und sagten, dass ich nun ein echter Mann sei.“
„Sicher“, sagt er grinsend, „das ist nicht gerade ein Erlebnis, mit dem Teenager in der westlichen Welt aufwachsen, aber hier ist es die Normalität. Obwohl diese Rituale allmählich auch verschwinden. Die Inuit-Traditionen, mit denen ich noch aufgewachsen bin, sind in den letzten Jahren aufgeweicht worden. Die Dinge verändern sich überall rasend schnell, aber an einem Ort, der so tief in seinen Traditionen verwurzelt war, fällt es einem besonders auf.
Wenn man die Wahl hat, sein Abendessen im Supermarkt zu kaufen – oder sein Leben auf der Jagd zu riskieren, wird man natürlich zum Supermarkt gehen. Ich habe viel Verständnis für den menschlichen Trieb, sich weiterzuentwickeln und die Mühen einer primitiveren Existenz hinter sich zu lassen, aber erst wenn man in der modernen Welt lebt, wird einem klar, dass damit auch automatisch der Stress kommt: die Rechnungen, die bezahlt werden müssen. Und die unangenehme Tatsache, dass man jeden Morgen an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen hat.“
Lynge wurde in Dänemark geboren, verbrachte aber den größten Teil seiner Jugend in Grönland. Er lebte in einem kleinen Dorf namens Alluitsoq, das genau 50 Einwohner zählte. Eine „normale Schule“ besuchte er erst mit acht Jahren, als sich seine Eltern scheiden ließen und er mit der Mutter wieder nach Dänemark zog. „Als ich 16 war, kehrte ich nach Grönland zurück und entdeckte das traditionelle Leben aufs Neue. Ich arbeitete als Bote für den Supermarkt in Qaqortoq, merkte aber schnell, dass ich lieber Musik machen wollte als in einem Supermarkt zu arbeiten. Kein normaler Job schien für mich in Frage zu kommen. Ich hatte Simon & Garfunkel, Crosby, Stills & Nash und Cat Stevens entdeckt und fühlte einfach den Drang, mich genauso auszudrücken.“
Lynge kam im Musikkonservatorium im dänischen Holstebro unter, wo er drei frustrierende Jahre verbrachte. „Ich studierte Oper, Schlagzeug, Klavier und Musik-Theorie, bewegte mich also in den konventionellen Bahnen eines Konservatoriums. Irgendwann ging mir der Zustand dann doch auf den Keks. Wann immer ich meine Musik in der Klasse vorstellte, blockten die Lehrer gleich ab. Ich gründete daraufhin mehrere Bands und ließ mich in Kopenhagen als Songschreiber nieder. Und irgendwie fand ich mich plötzlich in Nashville wieder, wo ich als Songschreiber für die Music Row arbeitete, bevor ich 2002 nach Los Angeles zog. Im Laufe der Jahre bot sich mir mehrfach die Chance, ein Album aufzunehmen, aber die Zeit schien nie reif zu sein. Und es fehlten mir die richtigen Leute, mit denen ich hätte arbeiten können.“
In Los Angeles wurde schließlich Matt Forger auf ihn aufmerksam, der als Toningenieur unter anderem Michael Jacksons „Thriller“ betreut hatte. Dabei fand der erste Kontakt an einem höchst ungewöhnlichen Ort statt, und zwar im Scientology-Center, wo Lynge zufällig auftrat. Forger bot ihm spontan an, sein erstes Solo-Album kostenlos zu produzieren – und gleich auch ein paar befreundete Cracks aus der L.A.-Session-Scene einzuladen. Das Resultat ist „The Future“, und es ist sicher eines der eindruckvollsten Debüt-Alben der letzten Jahre.
„Ich war gerade in L.A. angekommen und bekam die Einladung, im Scientology-Center zu spielen“, erinnert sich Lynge. „Ich hatte keine Ahnung, was das für eine Location war; für mich war es ein Gig wie jeder andere. Aber Matt Forger war zufällig im Publikum, und nach dem Auftritt lud er mich gleich in sein Studio ein. Am nächsten Tag ging ich hin, und wir waren sofort auf der gleichen Wellenlänge. Matt kannte all diese unglaublichen Musiker, die für Springsteen, James Taylor und Paul Simon gearbeitet haben – und weil es nun mal eine Independent-Produktion ohne großes Budget war, spielten sie alle umsonst, nur weil ihnen die Songs so gut gefielen. Und das war für mich ein doppeltes Geschenk: Sie kamen nicht ins Studio, weil sie dafür bezahlt wurden.“
Der Tatsache zum Trotz, dass Lynge aus einem so fremden Kulturkreis wie Grönland stammt, sind die Einflüsse von Simon & Garfunkel und Cat Stevens bis hin zu Nick Drake und Elliott Smith nicht zu überhören. Und auch wenn sich eine positive Grundstimmung (man könnte sogar sagen: eine kindliche Naivität, die jeden Zyniker zur Verzweiflung treibt) durch all seine Songs zieht, macht sich unter der Oberfläche doch immer wieder eine subtile Tristesse bemerkbar.
„Ich bin stolz auf meine Herkunft“, sagt Lynge, „und sie hat definitiv meine Musik geprägt. Und was die Trauer in meinen Songs betrifft: Ich glaube, man muss tief sinken, um neue Höhen zu erklimmen. Um eine positive Ausstrahlung haben zu können, muss man die Tiefen der Depression kennengelernt haben – und das war bei mir sicher der Fall. In bin vom Naturell nicht der optimistische, gut gelaunte Naturbursche – sondern ich bin es, weil ich mich bewusst für diese Perspektive entschieden habe.“
Lynge sieht sich durchaus als ein Botschafter seiner Heimat. Er ist sich bewusst, dass die meisten Leute ein ziemlich ungenaues Bild von Grönland haben, doch er besteht darauf, dass das Land wesentlich mehr zu bieten hat, als nur ein besonders deprimierendes Anschauungsobjekt für den globalen Klimawandel zu sein. „Keiner scheint irgendwas Genaueres über Grönland zu wissen – außer vielleicht, dass es sich um eine ziemlich große Insel mit einer Menge Eis handelt, das gerade im Begriff ist wegzuschmelzen“, sagt er mit einem schiefen Lächeln. „Oder die Leute denken an Hundeschlitten und Iglus. Aber es gibt hier wirklich sehr viel mehr zu entdecken.“
„Ich habe gehört“, sagt er zum Ende meines Besuches, „dass ich der erste Inuit bin, von dem weltweit ein Album veröffentlicht wird. Natürlich bin ich stolz darauf. Aber es gibt in meiner Heimat inzwischen eine Vielzahl von jungen Leuten, die sich kreativ ausdrücken und damit die Welt erobern wollen – Musiker, Autoren, Maler und Dichter. Wenn man in dieser Umgebung aufwächst, ist es fast unmöglich, sich nicht irgendwie ausdrücken zu wollen.“