Fremder im eigenen Land: Zum 70. Geburtstag von Wim Wenders
Wim Wenders Filme waren immer Crossmappings: Reisen mit einer falschen Karte durch ein vertrautes Land. Heute wird der große deutsche Regisseur 70 Jahre alt.
„Wir sind fertig mit ihm. Wir brauchen ihn nicht mehr. Wir haben ihn hinter uns.“ So begann Andreas Kilb seinen Text zum 70. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder in der Maiausgabe des ROLLING STONE. Man könnte diese Sätze auch auf den gesamten deutschen Autorenfilm der 70er-Jahre beziehen, der nur noch zu runden Geburts- und Todestagen aus dem muffigen Keller geholt wird.
Vielleicht, weil er von einem Land erzählt, das es nicht mehr gibt, von Sehnsüchten, die man nicht mehr teilt, in einer Sprache, die viele nicht mehr verstehen. Nachdem in den vergangenen Monaten also der 1982 verstorbene Fassbinder gewürdigt wurde, trifft es nun Wim Wenders. Obwohl sie sich gut kannten, bereits in den Sechzigern gemeinsam an der Jukebox des „Bungalow“ in der Schwabinger Türkenstraße standen, das amerikanische Kino liebten und sich gegenseitig auch in späteren Jahren sehr schätzten – Fassbinder sagte mal, Wenders sei neben ihm der einzige Autorenfilmer, der das Metier perfekt beherrsche –, kann man sich wohl kaum größere Gegensätze vorstellen als diese beiden Regisseure.
Das filmische Werk der bekanntesten deutschen Autorenfilmer lässt sich wohl am besten anhand der mit ihnen assoziierten Hauptdarsteller charakterisieren. Werner Herzogs Klaus Kinski entspricht dem romantischen Bild von Genie und Wahnsinn, Fassbinders Hannah Schygulla ist das pralle Leben – melodramatisch, erotisch und verrucht. Wenders’ Rüdiger Vogler dagegen wirkt verschlossen, ein stiller Grübler; über ihn ließe sich kein Film wie „Mein liebster Feind“ drehen, Herzogs Hassliebeserklärung an Kinski und mittlerweile bezeichnenderweise sein beliebtestes Werk. Vogler ist kein Exzentriker, ja, nicht mal ein Handelnder, eher ein Zuschauer, ein Sensibilist, der sehnsuchtsvoll aus dem Fenster guckt. Er wäre gerne wie John Wayne, ist aber eher wie Peter Handke. Das ist auch das Bild, das man sich von Wim Wenders macht, wenn man seine Filme gesehen hat.
Der Beobachter
Bezeichnend ist wohl eine Episode aus seiner Studentenzeit. Mit seinen Kommunarden war Wenders von München nach Palermo gefahren, um sich mit den streikenden Hafenarbeitern zu solidarisieren. Vor die Wahl gestellt, von dort weiter nach Palästina zu reisen um sich von der Befreiungsbewegung Al Fatah für den radikalen linken Widerstand (also: Terrorismus) schulen zu lassen oder zurück an die Filmhochschule zu gehen, brachte kein hitziger Austausch von Argumenten die Entscheidung. Wenders schaute in die Ferne, setzte seine Kopfhörer auf, warf den klobigen Uher-Rekorder an, der ihn auf jeder Reise begleitete, und hörte das dritte Album von The Velvet Underground. Bei den Zeilen „Between thought and expression lies a lifetime/ Situation arise, because of the weather/ And no kinds of love are better than others“ sei ihm klar gewesen, schrieb er später, dass er ein Künstler, ein Beobachter und Erzähler sein wollte und kein Aktivist.
Songs haben Wenders in den folgenden Jahren oft den Weg gewiesen bei seinen Erkundungen. Seine Filme waren Crossmappings, Reisen mit einer falschen Karte durch ein vertrautes Land. Wenn Rüdiger Vogler etwa in der Goethe-Adaption „Falsche Bewegung“ (1975) als Wilhelm Meister auf den Marktplatz von Glückstadt schaut, legt er wie selbstverständlich immer und immer wieder eine Single von The Troggs auf – nachdem er das Fenster zerschlagen hat, um vom Innen ins Außen zu gelangen, sogar mit blutender Hand. Diese Szene zeigt den ganzen Wenders, das Bekenntnis zur deutschen Innerlichkeit bei gleichzeitigem Misstrauen gegenüber deutschen Liedern, Bildern und Mythen, das sich in einer Sehnsucht nach dem Anderen manifestiert.
Für einen Fremden im eigenen Land ist jeder Ort nah und fern zugleich
Das zeigt sich in seinem Blick. So setzte Wenders in seinem schönsten Film, „Im Lauf der Zeit“ (1976), die deutsch-deutsche Grenze im amerikanischsten alle Genres, dem Road Movie, ins Bild und wählt als Vorbild für seine Einstellungen die Aufnahmen, die der US-Fotograf Walker Evans im Amerika der Depressionszeit machte; Patricia Highsmiths Roman „Ripley’s Game“ verlegte er für seine Adaption nach Motiven von Edward Hopper, „Der amerikanische Freund“ (1977), nach Hamburg.
Als er schließlich in den USA, dem vermeintlichen Ziel seiner Sehnsucht, angekommen ist, scheitert er bei der Produktion von „Hammett“ (1982) am Hollywoodsystem, dreht frustriert über die unerwiderte Liebe die Abrechnung „Stand der Dinge“ (1982) und findet die alte Sehnsucht schließlich in einem amerikanischen Nicht-Ort wieder, dessen Name wie Heim- und Fernweh zugleich klingt: „Paris, Texas“ (1984).
„Wenn man doch nur so filmen könnte, wie man manchmal die Augen aufmacht. Nur schauen, ohne irgendetwas beweisen zu wollen“
Wenders’ beste Filme sind Reisen durch eine Seelenlandschaft, zeigen das Innenleben als Road Movie. Sie haben kein Drehbuch, sie folgen einer Idee, und man schaut dem Regisseur dabei zu, wie er diese weiter-, aber niemals zu Ende denkt, wie er nach Wegen sucht, die ihn zu einem Ziel führen, von dem er noch nicht weiß, was es genau ist. Eine Form von Wahrheit vielleicht. Wenn Wim Wenders durch den Sucher einer Kamera schaut, sucht er wirklich etwas.
„Wenn man doch nur so filmen könnte, wie man manchmal die Augen aufmacht. Nur schauen, ohne irgendetwas beweisen zu wollen“, sagt er in seinem Filmessay „Tokyo-Ga“ (1985). Er ist mit dem Kameramann Ed Lachman in die japanische Metropole gereist, um nach Spuren des 1963 verstorbenen Regisseurs Yasujiro Ozuzu suchen, nur um festzustellen, dass er der Reizüberflutung dieser Mega-City nicht standhalten kann und sich nach der mythischen geordneten Stadt aus Ozus Filmen sehnt. „Vielleicht war es das, was es nicht mehr gab“, sagt er, „ein Blick, der noch Ordnung schaffen könnte in einer heillosen Welt, der die Welt noch durchsichtig machen könnte. Vielleicht wäre so ein Blick auch einem Ozu heute nicht mehr möglich. Vielleicht hatte die hektisch wachsende Inflation von Bildern schon zu viel zerstört. Vielleicht sind Bilder, die die Welt einen und eins mit der Welt sein können, heute schon für immer verloren.“
Die Kraft der Bilder
In „Der Himmel über Berlin“ (1987) schickt er zwei himmlische Beobachter, Damiel und Cassiel, in die geteilte Stadt. Ihnen erscheint die Welt noch immer durchsichtig, im ordnenden Schwarz-Weiß der klassischen Ozu-Filme. Ihre Perspektive ist jedoch nicht, wie beim japanischen Großmeister, die eines demütig hockenden Menschen, sondern die der Engel, die über den Dingen schweben. Kein Wunder, dass einer von ihnen sich in eine Trapezkünstlerin verliebt. So ganz scheint Wenders seinen Bildern hier jedoch schon nicht mehr zu trauen, denn er lädt sie mit den tiefsinnigen Sätzen seines Freundes Peter Handke poetisch auf.
Die Tonspur scheint nun von Film zu Film wichtiger zu werden, die Bilder mit (Be-) Deutungen zu überdecken. Vielleicht ist sein Zweifel an der Kunstform Film gar der Grund dafür gewesen, dass Wenders sich schließlich anderen Künsten zuwandte, Dokumentationen über Musik, Tanz, Architektur und Fotografie drehte, die ihm in den vergangenen Jahren bei Kritikern und Publikum sehr viel mehr Erfolg brachten als die Spielfilme „Palermo Shooting“ (2008) und „Everything Will Be Fine“ (2015), die noch immer von Orten und der inneren Suche nach Wahrheit handeln.
Das scheint unzeitgemäß in einer Welt, in der die Kommunikationstechnologie jedes Ortsgefühl eliminiert hat, „Suche“ nur ein Synonym für Google ist und die Reflexion aus Zeitmangel dem Reflex gewichen ist. Doch man sollte sich Zeit nehmen für diesen im besten Sinn unzeitgemäßen Regisseur. Vor allem für seine langsamen, wortkargen Filme aus den Siebzigern. Für zwei, eher drei Stunden fühlt man sich weniger verloren in dieser heillosen Welt und gewinnt vielleicht sogar den Glauben an die Kraft der Bilder zurück.