Freigeistige Lieder
Mit neuem kreativen Mut und großer Geste finden die Tindersticks in erweiterter Besetzung zur Magie ihrer Anfangstage zurück.
Als die Tindersticks 2008 das Album „The Hungry Saw“ veröffentlichten, war man freudig überrascht. Fünf Jahre lang hatte die Band nichts von sich hören lassen, womöglich war sie war längst aufgelöst. „So um das fünfte Album herum waren wir sechs Leute, die im Kreis standen und sich anstarrten“, sagt Stuart Staples jetzt, „wir waren unfähig, über den Tellerrand zu sehen, und hielten krampfhaft an der Band fest, so dass sie kaum atmen konnte – so konnte es nicht weitergehen.“
Doch auch als die Band vor zwei Jahren in geschrumpftem Line-up wieder zusammenkam, war der Ausgang offenbar unsicher. Staples und Keyboarder David Boulter mögen nichts Schlechtes über „The Hungry Saw“ sagen, nennen die Platte aber doch ein Nummer-sicher-Werk. „Wir taten, was wir konnten“, sagt Boulter, „das musste für den Anfang reichen.“
Erst jetzt, für „Falling Down A Mountain“, habe er seine Band auf neues Terrain führen können, sagt Staples. „Wir können der Band jetzt Raum zum Atmen geben, ohne dass sie deshalb die Idee dessen verwässert, was die Tindersticks sind. Da hat sich etwas Neues zwischen uns entwickelt. Vielleicht ist es Altersgelassenheit.“ Neben Langzeit-Kollaborateur Terry Edwards an der Trompete sind auch der Schlagzeuger Earl Harvin und der irische Gitarrist/Songwriter David Kitt im aktuellen Line-up. Letzterer war lange im Vorprogramm der Tindersticks dabei, nun ist er aufgestiegen. Sind die Tindersticks jetzt ein Sextett? „Es ist nicht wichtig, wer ein reguläres Mitglied ist und wer nicht“, sagt Staples, „wir planen ohnehin höchstens drei Monate im Voraus.“
Obwohl die Tindersticks innerhalb ihrer Parameter arbeiten, erkennt man an „Fading Down …“den Willen zum kreativen Mut. In sehr unterschiedlichen Lieder buchstabieren die Tindersticks jede Idee aus und lassen das jeweilige Gefühl zur vollen Größe heranwachsen. „Früher haben wir unsere Lieder der Band gefügig gemacht“, sagt Keyboarder David Boulter, „diesmal haben wir getan, was sie von uns verlangten.“
„Falling Down A Mountain
Erörfnungs- und Titelstück, Exposition: Gleich zu Beginn des Albums weist „Falling Down A Mountain“ den Weg.
Sechseinhalb Minuten schwankt der düster psychedelische Blues-Jazz-Jam durchs Unterbewusste. Staples und David Kitt singen von Absturz und Höhenflug, die Worte ergeben vor allen auf einer intuitiven Ebene einen Sinn. „Ich hatte die Basslinie und die Gesangsmelodie geträumt“, erinnert sich Staples. „David und ich haben bei mir zu Hause das Demo voll aufgedreht und einfach dazu gesungen. Die jazzmäßige Trompete hat Terry aufgenommen, ohne irgendetwas zu hören – ich habe ihm nur erzählt, wir haben dieses Lied, es ist ein bisschen abstrakt. Er hat dann einfach drauflos gespielt, in die Stille.“ Boulter: „Oft standen wir vor einem fertigen Song und kratzten uns am Kopf. Wir wussten nicht, ob das total super oder Unsinn war. Wir mussten den Glauben aufbringen, dass es funktionieren wird.“
„Peanuts
Ungefähr in der Mitte des Albums wird es ganz still. Staples singt gemeinsam mit der Kanadierin Mary Margaret O’Hara ein betont schlichtes Duett über Herzschmerz und Erdnüsse. Man ist sich nicht sicher, ob man die ultrasimple Lyrik berührend oder albern finden soll. Doch die angepeilten Gefühle – Unschuld, Naivität, Verletzlichkeit werden deutlich, auch weil die Tindersticks wundervoll ökonomisch spielen. Die zentrale Zeile des Liedes („I still love peanuts“) stammt aus Fritz Längs Filmklassiker „Blinde Wut“, der den Künstler direkt zur Komposition inspirierte. „Ich wollte diese Gefühle zum Ausdruck bringen, aber das ging nicht so, hier sind die Akkorde, jetzt spielen wir das Lied“, sagt Staples, „vielmehr war es, hier sind die Noten, aber wir müssen richtig arbeiten, wenn aus ihnen etwas werden soll.“
„Piano Music“
Am Schluss des Albums wundert man sich noch einmal. „Piano Music“ ist ein auf dramatischen Akkorden aufgebautes Instrumental mit dick aufgetragenen Streichern. Wohl sind die Tindersticks in den letzten Jahren des Öfteren cineastisch geworden, nämlich im Rahmen der vielen Soundtracks für die französische Regisseurin Ciaire Denis. Doch hört man dort eher die experimentellen, kunstfeinen Seiten der Tindersticks. Die Tindersticks folgen dem Diktat der Idee und erlauben keine Zensur. Naja, fast keine Zensur. „Wir hatten ein teures Studio in Brüssel gemietet, ein teures Arrangement in Auftrag gegeben und ein teures Orchester gebucht“, erinnert sich Staples, „aber alles klang viel zu schön – eben zu teuer. Wir haben die Streicher schließlich durch ein einziges Mikro direkt durch ein Hallgerät aufgenommen, damit es etwas schäbiger klingt.“
Man versteht ja den Unterschied: Spielt da bloß jemand einen Akkordwechsel, oder sind die Akkorde ein Mittel zum Zweck, um etwas anderes sichtbar zu machen? Ohne eine Auseinandersetzung mit dem emotionalen Gehalt einer Idee will Staples es in Zukunft nicht mehr machen. „All diese Lieder sind auf der Platte, weil es einen Moment gab. Wären wir diesem Moment nicht treu geblieben, dann hätten wir nichts gehabt – bloß Gedudel. Aber wenn man dran bleibt, findet man etwas Offenes, in dem der Geist frei herumlaufen kann.“