Flying Lotus im Porträt: Ein Schnellkurs in menschlicher Vielfalt
Thom Yorkes Lieblings-DJ, Flying Lotus, schätzt gutes Gras und sinniert über Sterblichkeit
Ist das grape ape?“, fragt Steven Ellison. Er nimmt ein Tütchen mit medizinischem Marihuana in die Hand und schnuppert liebevoll. „Hmmm. Eine meiner Lieblingssorten.“ Es ist 18 Uhr und Ellison, besser bekannt als der DJ und Produzent Flying Lotus, der mit seinem kosmischen Dance-Jazz-HipHop-Abenteuer „You’re Dead!“ für Furore sorgte, ist soeben in seinen Tour-Bus geklettert. Drinnen: Kristalle in Regenbogenfarben, die in Wände und Decke eingelassen sind, Unmengen von Gras, Räucherstäbchen im Abwaschbecken, eine mysteriöse Sehtest-Tafel (a x yuiz ådkvy), die neben einer fast leeren Hennessy-Flasche hängt.
Ellison, 31, hat sich im Lauf der letzten acht Jahre als gleichberechtigter Sparringspartner von Musik-Visionären wie Erykah Badu und Thom Yorke etabliert. Angesagte Rapper wie Kendrick Lamar und Snoop Dog geben „You’re Dead!“ und Ellisons Karriere nun noch einen weiteren Schub. Schon Stunden vor der Show belagern Dutzende von Kids den Eingang des Clubs – und alle paar Minuten klopft einer von ihnen an den Bus, um seinen Helden vielleicht persönlich kennenzulernen. Sie alle müssen unverrichteter Dinge umkehren. „Ich bin nun mal etwas empfindlich“, sagt er. „Äußere Reize kann ich nur häppchenweise verarbeiten. Und das gilt auch für meine sozialen Kontakte.“ Er führt die Menschenscheu auf seine Kindheit zurück, die er im San Fernando Valley verbrachte. Seine alleinerziehende Mutter träumte von einer Schauspielkarriere, und die Großmutter hatte sich einst als Songschreiberin für Motown versucht: „Love Hangover“ von Diana Ross stammt aus ihrer Feder.
Für Ellison wurde das Valley zu einem Schauplatz der Extreme. „Einerseits lebt man in Suburbia, wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Gleichzeitig gibt es aber diese ghetto-artigen Nischen, in denen das Leben absolut lebensunwürdig ist.“ Er sollte beide Extreme zur Genüge kennenlernen. „Manchmal war genug Geld da, manchmal waren wir so blank, wie man es sich nicht vorstellen kann. Zeitweise hatten wir nicht mal ein Telefon, geschweige denn etwas Vernünftiges zum Essen.“
Eine der wenigen häuslichen Konstanten war die Musik. Ellisons Großtante, Alice Coltrane – John Coltranes Witwe und selbst eine brillante Jazz-Musikerin –, war in seiner Kindheit und Jugend ein wichtiger Fixpunkt. Davon abgesehen war seine Umgebung wenig inspirierend. „Es gibt keine Kunst im Valley – nichts, was im Entferntesten mit Kreativität zu tun hätte. Die Menschen bleiben lebenslänglich in ihrem Loch kleben. Ich wuchs mit der Gewissheit auf, dass auch ich keine Chance bekommen würde.“
In der Schule war er ein Paria, und er begann mit dem Kiffen, als er gerade mal 14 war. Es dauerte nicht lange, bis er mit Gras und Acid zu dealen begann. Mit 16 wurde er festgenommen, weil er einem verdeckten Ermittler einen Tipp gegeben hatte, wo er Gras kaufen könne. Das anschließende Bewährungsprogramm, in das man ihn mit 30 bis 40 anderen Jugendlichen steckte, war jedoch alles andere als das, was Ellison erwartet hatte. „Es war mehr so eine Art ,Breakfast Club‘, dem aber nur die sogenannten Problemkinder angehörten. Ich hatte jedenfalls das Gefühl, endlich mein Zuhause gefunden zu haben. Es gab eine Handvoll Mädchen, die von ihren Eltern misshandelt worden waren – und zum ersten Mal begegneten mir hier auch ein paar Schwule. Es war ein Stelldichein mit der Realität, ein Schnellkurs in Sachen menschlicher Vielfalt.“
Als Ellison ein paar Jahre später die Highschool abschloss, hatte er zumindest gelernt, seine Entfremdung mit kreativen Aktivitäten zu kompensieren. Er produzierte mit einer Groovebox HipHop-Beats und sammelte Sounds, wo immer er konnte: bei Electro-Zauberern wie Aphex Twin und Squarepusher, bei Underground-Rappern wie J Dilla und Madlib. Als er sich gerade auf der Los Angeles Film School eingeschrieben hatte, zeigte ihm ein Freund, wie man einen Laptop zur Musikprogrammierung nutzt. „Ich dachte mir: Das will ich in meinem Leben machen. Ich schwänzte Vorlesungen und machte Beats – auch wenn niemand sie hören wollte.“
Anfangs musste Ellison seine selbst gebrannten CDs Fremden oder Familienangehörigen geradezu aufdrängen, doch wenig später war er bereits Teil einer vielversprechenden Progressive-Beat-Szene, die sich in Los Angeles zu etablieren begann. 2006 veröffentlichte er sein Debütalbum, und ein Jahr später unterschrieb er beim verdienstvollen englischen Electro-Label Warp.
Ende 2012 machte Ellison sich daran, sein bislang ehrgeizigstes Projekt in Angriff zu nehmen: ein Konzeptalbum über die Sterblichkeit des Menschen. „Ich wollte etwas machen, das den Moment des Todes beschreibt und alles, was danach passiert. Merkwürdigerweise hatte ich mit ,You’re Dead!‘ mehr Spaß als je zuvor in meinem Leben.“
Wobei das Thema des Albums eher bedrückend ist und von einigen Todesfällen inspiriert wurde: Ellisons Mutter, sein Musikerfreund Austin Peralta, Alice Coltrane und ein Kumpel aus dem Bewährungs-programm starben in den vergangenen Jahren. Auf einer anderen Ebene, so Ellison, thematisiere das Album aber auch die unerwarteten Haken, die seine Karriere geschlagen habe. „Ich habe den Eindruck, dass die Szene, die ich selbst mit geschaffen habe, bereits Vergangenheit ist. That shit is dead. Wir leben schon in einer anderen Ära, in der das Konzept des Albums von vorgestern ist.“ Er klingt nicht einmal beunruhigt, als er das sagt. Er wirkt sogar enthusiastisch. „Ich werde gern mit Herausforderungen konfrontiert“, sagt er, als wir den Bus verlassen und zum Club rübergehen. „Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, was als Nächstes passiert. Aber gerade das gibt mir den Kick.“