Filmmusik-Koryphäe Nic Raine im Interview: „Soundtracks sind wichtiger als Sound-Design“
Was macht einen guten Score aus? Und wie gut ist heutige Filmmusik eigentlich noch? Ein Gespräch mit dem Dirigenten und Komponisten Nic Raine.
In unserem Filmmagazin MOVIES, das der November-Ausgabe beiliegen wird, küren wir die 60 besten Soundtracks aller Zeiten. Experte für Neu-Einspielungen ist der Dirigent und Komponist Nic Raine, der im Laufe seiner Karriere mit Größen wie Miklós Rózsa und John Barry zusammengearbeitet hat. Wir sprachen mit dem Briten über gute und
schlechte Filmmusik.
MOVIES: Sie sind bekannt für Neueinspielungen legendärer Soundtracks. Als Meisterwerk gilt ihre Fassung von Basil Poledouris’ „Conan der Barbar“, das Sie mit einem größeren Orchester ausstatteten, als der Komponist es 1982 durfte. Wie gelangen Sie an die Original-Noten?
Nic Raine: Zunächst hoffe ich, dass die Noten überhaupt noch existieren. Oder sogar, dass der Score als Tondokument an sich noch existiert. Viele der von mir neu eingespielten Soundtracks entstammen einer früheren Ära, die Noten wurden damals zum Teil handschriftlich verfasst. Sie müssen dann per Computer ausgewertet werden. Es gibt leider sehr viel Filmmusik, deren Noten oder gar Aufnahmen verloren gegangen sind oder zerstört. Da darf man schon froh sein, falls überhaupt Skizzen übriggeblieben sind. Von den Werken Miklós Rózsas (verstorben 1995) zum Beispiel haben wir Notizen einsammeln können – die hat uns seine Familie zur Verfügung gestellt.
MOVIES: Warum gingen Produktionsfirmen so nachlässig mit der Verwaltung von Musik-Einspielungen um?
Raine: Sie dürfen nicht vergessen: Damals, vor bis zu 100 Jahren, ging niemand davon aus, dass Soundtracks länger leben, sich länger im kollektiven Bewusstsein halten würden als deren Filme. Musik wurde aufgenommen und deren Noten – manchmal einfach weggeworfen. Natürlich konnten die Komponisten selbst ihre Aufzeichnungen behalten. Die Produktionsfirmen aber verstauten sie oft in Behältern, und die kamen dann ins Lager. Aufgrund von logistischen Entscheidungen, dieses und jenes musste raus, gingen sicher schon die einen oder anderen wichtigen Noten verloren. Ich als Arrangeur versuche wie ein Detektiv zu arbeiten. Alles heranzuschaffen, was vom Original noch übrig ist.
MOVIES: Welche Art der Verantwortung gegenüber dem Komponisten des Originals verspüren sie, wenn sie mit der Neueinspielung ein voluminöseres Klangbild schaffen können?
Raine: Für „Conan der Barbar“ engagierte ich nur mehr Streicher. Poledouris sah für seinen Score zwölf Holzbläser vor. Also blieb auch ich bei zwölf Holzbläsern. Und wenn eine Musik für sechs Hörner komponiert wird, bleibe ich auch bei sechs. Warum nicht etwa acht? Weil Poledouris sie spezifisch für sechs geschrieben hatte. Würde ich mehr nehmen, triebe ich den Score aus seiner Balance. Hätte Poledouris für „Conan der Barbar“ ein höheres Budget zur Verfügung gehabt, hätte er sicher mehr Streicher eingesetzt. Ich hoffe, dass wir ihm mit unserer Neueinspielung (Raine und das City Of Prague Philharmonic Orchestra veröffentlichten ihre Version 2011, Poledouris verstarb 2006) ein posthumes Geschenk machen konnten. Dazu kommen Möglichkeiten in der digitalen Produktion, die es im Analogen nicht gab, wie die Einbindung von Effekten.
MOVIES: Lassen Sie ihre Neueinspielungen absegnen, etwa von Angehörigen?
Raine: Es ist Teamarbeit, wir binden möglichst viele Leute ein, die am damaligen Werk beteiligt waren. Etwa James Fitzpatrick, der das Reissue-Label „Silva Screen Records“ mitgegründet hatte, als Produzent. Natürlich wollen wir, dass Neuaufnahmen besser klingen als das Original. Das gebietet der heutige Standard. Und wäre das nicht mein Anspruch, bräuchte ich mich nicht an die Arbeit machen.
„Es gibt heute noch Komponisten, wie Alexandre Desplat, die Melodien in den Vordergrund stellen“
MOVIES: Dieser Spruch wird niemals alt: Früher war alles besser. Täusche ich mich, oder ist die goldene Ära der Soundtracks spätestens seit den frühen 1990er-Jahren vorbei? Wo sind die heutigen John Barrys oder Jerry Goldsmiths? Heute klingt alles nach Hans „Loudness“ Zimmer.
Raine: Ich möchte mir keine Qualitätsurteile erlauben. Aber man könnte sagen, dass Hans Zimmer und sein Team die Melodie im Film getötet haben. Seine Kompositionen bestehen vor allem aus Rhythmus, aus Beats. Sie erinnert an Temp Music (Provisoriumsmusik, die in einer frühen Schnittphase unter den Film gelegt wird, um die Stimmung einer Szene zu evozieren). Darüber werden dann Streicher- oder Bläser-Akkorde gelegt. Aber es gibt noch einige junge Komponisten, die Melodie in den Vordergrund stellen, etwa Alexandre Desplat. Heute klingt der „neue Score“ eines Musikers oft wie der „alte Score“ – weil der Regisseur insistiert, dass sein Komponist das Erfolgsmodell wiederholt, keine Experimente wagt.
MOVIES: Temp Tracks machen es einem Komponisten auch sehr leicht.
Raine: Wenn immer wieder Zimmer-Stücke unter nichtfertigem Film gelegt wird, gewöhnen die Macher sich halt irgendwann daran. Dabei hat Zimmer in seinen frühen Tagen viele Soundtracks geschrieben, die reich waren an Melodien, ich erinnere an „Driving Miss Daisy“ von 1989.
MOVIES: Von der alten Garde sind heute nur noch zwei übrig: John Williams, 85, und Ennio Morricone, 89.
Raine: Williams ist ein ganz klassisch ausgebildeter Komponist. Das hört man in jeder Note. Er schreibt nicht aus der Sicht eines einzelnen Musikers, sondern aus der komplexen Sicht vieler Musiker, eines Orchesters. Wenn Williams am Klavier eine Note spielt, weiß er gleich, welche Instrumente ihn wie begleiten sollen. Ein anderes Prinzip, aber nicht minder beeindruckend, verfolgte Elmer Bernstein (1922-2004). Einmal gingen wir die Noten durch und ich fragte ihn: ‘Welches Instrument soll diese Melodie spielen? Die Geige?‘. Er sagte nur: ‚Das überlasse ich ganz Dir!‘. Es war ein freiheitlicher Ansatz. John Barry (1927-2011) wiederum gab mir einst Noten zum Arrangieren in die Hand, und ich dachte nur: was für eine einfache Schönheit. Musik wie 1-2-3 oder A-B-C. Aber oft ist es erst das Orchester, das einem Stück die Würde gibt, die Bedeutung.
MOVIES: Man mag gar nicht nachvollziehen, wie viele Scores gerade von Größen wie John Barry oder Jerry Goldsmith zu den „Rejected Scores“ zählen – in Auftrag gegebene Filmmusiken, die nie zum Einsatz kamen.
Raine: Am Ende wurde John in Hollywood als Musik-Dinosaurier betrachtet. Er hatte Schwierigkeiten mit der Generation von Regisseuren zusammenzuarbeiten, wie sie seit ungefähr 20 Jahren vorzufinden ist. Die heutigen Filmemacher verlangen vorab gerne eine Orchester-Simulation per Synthesizer. So fühlen sie sich besser vorbereitet und können, wenn sie den Komponisten dann im Studio besuchen, mitreden. Das war früher anders. Regisseure mussten ihren Komponisten, wie Elmer Bernstein, John oder Maurice Jarre, nach Auftragserteilung erstmal vertrauen. Sie schrieben Musik, und dann spielten sie die Stücke dem Regisseur auf dem Klavier vor. Das volle prächtige Lied gab es dann erst später im Studio zu hören.
MOVIES: Wie sind Ihre Erfahrungen mit den „Rejected Scores“?
Raine: Mit Maurice Jarre arbeitete ich für David Leans „Die Reise nach Indien“ (Oscar für die „Beste Filmmusik“ 1985) zusammen. Wir erhielten viele Bitten um Änderung einzelner Passagen, und dem kamen wir dann auch nach. John Barry war da eben etwas anders: Er hat den Regisseuren seine Ideen manchmal nicht vorgespielt. Meistens gab er den Leuten zwei Musikthemen, auf dem Klavier gespielt, manchmal mit ein paar Streichern aufgenommen. Sein Motto: „Dies bildet die Basis für den Score – und jetzt lasst mich in Ruhe!“ Das kann einigen Produzenten nicht gefallen haben.
MOVIES: Mit Barry arbeiteten Sie für die Bond-Filme „Im Angesicht des Todes“ (1985) sowie „Der Hauch des Todes“ (1987) zusammen. Auffallend war, dass die Musik bei letzterem elektronischer klang …
Raine: Mit dem Engagement Timothy Daltons als James Bond wollte auch John etwas Neues probieren, daher der neue Sound. Wir arbeiteten, für das „Bond Theme“ sowie für Musik zu den Verfolgungsjagden, mit elektronischem Bass und elektronischem Schlagzeug. 007 sollte moderner klingen. Das Arrangement war vielleicht nicht avantgardistisch, aber es war ungewöhnlich. Zu Barrys „Das Schwarze Loch“ von 1978 hatte ich jüngst ein bemerkenswertes Produktionsfoto gesehen: Das Orchester und John waren wie in einem Quadrat angeordnet, die Musiker in Blöcken, und er dirigierte in der Mitte, tiefer gestellt, was sich vielleicht auf den Klang ausgewirkt hat. Vielleicht probierte die Produktionsfirma Disney einen Stereoeffekt aus.
MOVIES: Filmmusik-Tourneen wie von Hans Zimmer, James Newton Howard oder Howard Shore gelten heute als das große Ding. Familientaugliche Events voller Effekte, inszeniert fast wie Musicals. War dieser Markt zu Lebzeiten Barrys, Jarres oder Elmer Bernsteins nicht vorhanden?
Raine: Maurice Jarre war zeitlebens immer aktiv, trat regelmäßig in London mit dem London Philharmonic Orchestra auf, es gab Welttourneen. Aber, ja: Filmmusik-Tourneen waren damals bei weitem nicht so populär wie heute. Meine ersten „James Bond“-Konzerte gab ich in den 1980er-Jahren, vielleicht war ich einer der ersten mit einem Live-Filmmusik-Programm. John hatte immer wieder Konzertreihen geplant, die er leider nicht umsetzte.
„Manche Großen dirigieren nicht gern“
MOVIES: War die Nachfrage nach Konzerten ein Gradmesser für die Komponisten, ob sie als gut wahrgenommen wurden?
Raine: Wenn ein berühmter Komponist nicht live auftritt, muss das nicht unbedingt etwas mit geringem Publikumsinteresse zu tun haben. Manche Komponisten mögen einfach nicht gerne dirigieren oder orchestrieren – oder können es gar nicht, oder nur mit einem so genanntem Klick-Track, einem Metronom.
MOVIES: Worin unterscheidet sich Ihre heutige Arbeitsweise von der damaligen?
Raine: Damals gab es Notenblätter, aus denen ich Struktur, Lautstärke, Dynamik ablas. Heute werden mir MIDI-Files oder MP3 von Demos geschickt, komplexe Aufnahmen, aus denen ich fürs Orchester Ableitungen ziehe. Bei Notenblättern sehe ich alles auf einen Blick, bei digitaler Musik belegt jeder Ton an sich einen Track, jede Lautstärke einen Track …
MOVIES: Von wem fühlen Sie sich bei der Komposition Ihrer eigenen Scores beeinflusst?
Raine: Es ist unmöglich, nicht beeinflusst zu sein. Sobald man mit einer Komponistengröße zusammengearbeitet hat, nimmt man aus der Partnerschaft etwas mit, daraus entsteht fast eine eigene Musikbibliothek im Kopf. Vieles an der Komposition ist aber auch einfach nur Technik und Handwerk. Darin fließt auch die nüchterne Überlegung ein, mit welchem Instrument welcher Effekt beim Hörer erzielt werden soll. Es ist die Kombination aus dem, was man weiß, was man tun will – und einem eher kleinem Anteil an Inspiration. Der aber immer wichtiger wird, sobald sich eine Idee entwickelt. Die Eingebung: „Oh, hier passt diese Melodie hinein!“
MOVIES: Haben Sie einen Lieblingskomponisten oder Lieblingssoundtrack?
Raine: Ehrlich gesagt, nein. Mein Fokus liegt auf der jeweiligen Arbeit, beim Einspielen oder Dirigieren also auf dem jeweiligen Score. Zuletzt nahm ich „Ben Hur“ auf, also war das mein favorisierter Score.
MOVIES: Reissue-Labels wie Silva Screen, Intrada oder La-La-Land geben hochwertige Neueinspielungen in Auftrag oder bringen alte Scores mit Archivmaterial neu heraus. Liebhaber-Wiederveröffentlichungen. Woher weiß man, ob sich das finanziell lohnt?
Raine: James Fitzpatrick gehörte mit „Silva Screen“ sicher zu den Pionieren. Zu Anfang konzipierte er vor allem noch Compilations anstelle von Neueinspielungen. James wusste aber auch, dass ich John-Barry-Experte bin, als kamen wir ins Gespräch. Danach folgten die Williams- und Goldsmith-Sammlungen, „Conan der Barbar“ wiederum nahm ich für die Plattenfima „Promotheus“ auf. Ich bin manchmal selbst von der Auftragslage überrascht: Denn der Markt ist so klein, und ich könnte nicht sagen, ob die Labels ihr Geld zurückbekommen. Gedankenspiel: Wenn ein Reissue 3.000 Exemplare absetzt, lässt sich daraus vielleicht nicht einmal das Orchester refinanzieren oder die Arbeit, die durch die Rekonstruktion alter Musik entsteht. Aber ich kann mich nicht beklagen, denn so lerne ich Filmmusik kennen, die ich vorher nicht kannte.
MOVIES: Sie arbeiteten mit den renommiertesten Orchestern zusammen. Wonach entscheiden Sie, ob etwa das London Symphony Orchestra für eine Aufnahme besser ist als das Royal Philharmonic Orchestra?
Raine: Das hängt oft mit dem zur Verfügung stehenden Budget zusammen – oder einfach mit der Verfügbarkeit des Orchesters. Viele Musiker haben ihren Tagesjob und für unsere Arbeit weniger Zeit, als man denkt. London verfügt über eine herausragende Szene an „Freelance Orchestras“, die für schnelle Lösungen zu haben sind und trotzdem herausragende Arbeit bieten. Aber sie sind auch teuer.
MOVIES: Mit wem arbeiten Sie am liebsten?
Raine: Derzeit fühle ich mit dem „City Of Prague Philharmonic Orchestra“ am wohlsten. Die Prager gelten als meistbeschäftigte Soundtrack-Musiker: Sie nehmen jeden Tag auf. Jeden Tag ein neuer Komponist für sie, jeden Tag ein neuer Stil. Sie sind sehr flexibel und extrem schnell im Notenlesen und Verstehen. Sie lesen, das rote Studiolicht geht an, vorher kein Rehearsal und los geht’s. Mit Ihnen bin ich auch bei meiner aktuellen „Klassik Radio“-Tournee unterwegs.
MOVIES: Für Oliver Stones Sandalenfilm „Alexander“ (2004) haben Sie Musik von Vangelis neu orchestriert und dirigiert. Warum hat er das nicht selbst übernommen?
Raine: Vangelis ist ein sehr besonderer Komponist. Er hat viele Bilder im Kopf, aber er schreibt seine Musik nicht spezifisch für das Leinwandgeschehen. Er sitzt an seinem Keyboard, dann improvisiert er. Für „Alexander“ dürfte er um die fünf Stunden Musik aufgenommen haben. Oliver Stone suchte sich passende Sequenzen heraus.
MOVIES: Ein Blick auf die letzten zehn Oscar-Jahre zeigt, dass es klassische Soundtracks immer schwerer haben. Justin Hurwitz’ „La La Land“ bot Musical, „The Social Network“ von Trent Reznor und Atticus Ross vor allem Geräusche, A.R. Rahmans „Slumdog Millionaire“ polierte ethnische Musik.
Raine: Es werden auch häufiger Scores nominiert, in denen allein das Piano eine zentrale Rolle spielt, oder eine Art „Neue Klassik“. In der heutigen Zeit ist „Sound Design“ manchmal wichtiger als „Soundtrack“. Die Rolle des „Music Supervisors“ wird immer wichtiger – also eine übergeordnete Person, die Ratschläge erteilt. Früher gab es diese Leute nicht, nur den Komponisten und den Schnittmeister. Und nun werden Supervisors in den Credits auch noch vor dem Komponisten genannt – schon bizarr. Heutzutage mischen Komitees mit, hören sich die Demos an, das geht dann an die vielen Produzenten. Und alle haben unterschiedliche Meinungen.
MOVIES: Sie vertonen gerne Stummfilme. Weil es eine Herausforderung darstellt, Bildern, für die es keine Töne gab, neue zu geben?
Raine: Sie sollten ja nie stumm sein. Musik sollte immer zu hören sein, es war nur technisch eben nicht möglich. Bei Vorführungen wurden viele dieser Filme von Klavierspielern begleitet, die Stücke spielten, die jeder kannte. Heutige Komponisten sind meist versierter als diejenigen, die es in der Stummfilm-Ära gab. Ich finde es reizvoll und erfüllend, die im Stummfilm dargebotenen Gefühle durch Musik nachzuvollziehen oder zu verstärken. Filmmusik braucht drei Dinge: den Film, die Musik – und den Zuschauer. Jede Musik wird zu jedem Film passen, solange der Betrachter die Verknüpfung zieht.
Nic Raine befindet sich derzeit auf seiner „Klassik Radio Tournee“, deren Termine Sie auf seiner Website finden. Die Homepage Raines bietet auch Video- und Soundproben seiner aktuellen Arbeiten.