Fast wie im richtigen Sterben
Mit „Mad Men“-Gesicht durch die Abgründe der Engelsstadt: Der neue Videospiel-Meilenstein „L.A. Noire“ funktioniert wie eine TV-Serie – bei der man die Fälle allerdings selbst lösen muss.
Die Tatwaffe ist ein Seidenstrumpf. Zusammengeknüllt und blutverschmiert liegt er unter einem Baum, nur ein paar Meter von der Leiche der nackten Frau entfernt, in einer Seitenstraße in Downtown Los Angeles. Jemand, vermutlich der Mörder, hat mit rotem Lippenstift „Kiss the blood“ auf ihren Oberkörper geschrieben. Eine Blutspur führt Detective Cole Phelps zur Handtasche, in der er den Namen und die Adresse der toten Frau findet. Die Ermittlungen im Fall „Silk Stocking Murder“ haben begonnen.
Einundzwanzig solcher Rätsel gilt es im neuen Videospiel „L.A. Noire“ von Rockstar Games (unter anderem „Grand Theft Auto“) zu lösen: Der Spieler muss als Detective Phelps im Los Angeles der 40er-Jahre Beweise sammeln, Hinweisen nachgehen, Zeugen verhören. Warum das Spiel schon vor Veröffentlichung als neuer Meilenstein galt: weil „Spiel“ eigentlich der falsche Ausdruck für „L.A. Noire“ ist. Es wirkt viel mehr wie ein Exemplar aus dem derzeit so hoch gehandelten Genre Fernsehserien – inspiriert von Raymond Chandlers oder James Ellroys Krimis, investigativ wie „CSI“, „The Wire“ oder gängige Mystery-Reihen, stilistisch cool wie „Mad Men“. Und auch technisch weit vorn.
Besonders authentisch wird „L.A. Noire“ dadurch, dass die Charaktere im Spiel von echten Schauspielern verkörpert werden. So sieht man beispielsweise Aaron Staton aus, tja, „Mad Men“ in der Hauptrolle des Cole Phelps oder John Noble (der verrückte Professor aus „Fringe“) in einer Nebenrolle als zwielichtiger Immobilienmagnat. Drei Monate dauerte der Dreh mit mehr als 400 Schauspielern, 2000 Seiten umfasste das Drehbuch – fast doppelt so viel wie bei einer normalen TV-Staffel. Das liegt vor allem daran, dass die Geschichten hier zwar linearen Plots folgen, jeder Fall aber auf unterschiedliche Arten gelöst werden kann. Zum Beispiel: Die Adresse einer Bar, die das Opfer besucht hat, kann man durch das Finden einer Streichholzschachtel herauskriegen – oder im Verhör mit einem Verdächtigen.
Die Befragungen sind mit das Spannendste, Trickreichste: Der Spieler muss anhand der mehr oder weniger nervösen Reaktion seines Gegenübers einschätzen, ob jemand die Wahrheit sagt oder lügt. Um das überhaupt möglich zu machen, entwickelte man ein Verfahren, bei dem jeder Schauspieler von 32 rund um seinen Kopf angeordneten Kameras gefilmt wurde – so konnte jede Gesichtsregung erfasst werden. Schluss also mit den hölzernen Charakteren, die selbst dann keine Miene verzogen, wenn gerade ihre gesamte Familie brutal abgeschlachtet worden war.
Selbst die Fälle orientieren sich an echten Polizeiakten aus der Zeit. Einige der spektakulärsten Verbrechen – wie der Fall der schwarzen Dahlie – fanden ihren Weg in „L.A. Noire“. Im wahren Leben wurde der Mörder nie gefasst. Doch im Spiel könnten die blutigen Initialen, die Cole Phelps auf der letzten Leiche gefunden hat, natürlich auch für den „Black Dahlia“-Mörder stehen. Oder für jemanden, der es so aussehen lassen wollte … Aber anders als in einer Krimiserie müssen Sie das hier leider schon selbst herausfinden. michael brunnbauer