Extrem ansteckend
Wer den „Atomkraft? Nein danke“-Pin aus dem Achtzigern noch hatte, war vorbereitet auf den Herbst des Widerstands.
Früher auf dem Schulhof wurden Buttons entweder von verhuschten Alternativen mit Vorliebe für alles getragen, was irgendwie „indie“ war – oder von selbsterklärten linken Aktivisten als Zeichen ihrer Rebellion. Auch im Jahr 2010 waren Buttons die Insignien des Widerstands, allerdings eines durch und durch bürgerlichen, der ausgerechnet in der der Festung des deutschen Wohlstands kulminierte, der Hauptstadt Baden-Württembergs. Widerstand in einer gesellschaftlichen Breite, dass er sich nicht mehr auf ein paar Fernsehbilder von unzufriedenen Verbohrten oder brennenden Mülltonnen reduzieren ließ. Widerstand gegen die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken, gegen den Castor-Transport aus dem französischen La Hague ins niedersächsische Gorleben und gegen den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs als Unter-Tage-Projekt. Widerstand aber auch und vor allem gegen Schlagstöcke, Pfefferspray, Wasserwerfer und Reizgas.
CDU und FDP schienen von der Protestwelle bisweilen überrollt, fanden dann jedoch zu zurück zu blasierter Unnachgiebigkeit. Der Zusatz „notfalls auch mit Gewalt“ kam mit neuer, alter Rechtschaffenheit und mit Nachdruck über amtlich trockene Lippen, Angela Merkel wischte die Probleme mit entschlossener Gleichgültigkeit vom Tisch, die „Süddeutsche“ attestierte den Regierenden „Basta-Politik“. In Stuttgart flogen Kastanien, in Dannenberg harrten Tausende, in Thermodecken gehüllt, auf Bahngleisen aus. Der neo-liberale Reflex, Blockierer und Demonstranten als unvernünftig und demokratieblind abzutun, war wieder intakt, und staatliche Abschreckungsmechanismen funktionierten wie in den Tagen der Pershing- und Atom-Demos in den Achtzigern.
Dabei ging es den allermeisten nicht um Krawall, sondern schlicht darum, das Recht auf Demonstrationsfreiheit wahrzunehmen. Und das nicht etwa für kaum realistische Ziele wie Lohnerhöhungen oder gegen die Anhebung des Renteneintrittalters. Nein, der deutsche Protestler bekundete Zweifel an einem Milliarden verschlingenden Bauprojekt in Zeiten der Wirtschaftskrise und plädierte für den Atomausstieg, der doch längst beschlossen gewesen war. Eine so klare Frontenteilung hatte sich wohl niemand erhofft. Ein bisschen ziviler Ungehorsam war wieder schick. Fast wie damals auf dem Schulhof.