Ewig rauscht die Linde
Legenden sind dazu da, immer wieder erzählt zu werden — sie halten die Gemeinschaft zusammen. Das ist im Pop nicht anders als in einem kleinen Dorf, das noch von Geschichten lebt und nicht von günstigen Zufahrtswegen in die nächstgrößere Stadt und billigen Grundstückspreisen.
Haldern am Niederrhein ist so ein Dorf. Jeder der 5000 Einwohner kennt jeden, alle haben irgendwann schon mal miteinander gefeiert im Saal vom „Gasthof Tepferd“ — und immer wieder erzählen sie sich folgende Geschichte:
14 Messdiener und ihre beiden Ober-Ministranten veranstalteten 1981 eine Party, die ein derart großer Erfolg wurde, dass man im nachfolgenden Jahr eine noch größere veranstaltete und ein Jahr später noch einen draufsetzte, 1984 schließlich entschlossen sich die von der Popmusik beseelten Ministranten, richtige Bands einzuladen, statt Musik aus der Konserve zu spielen. Um die Kosten zu tragen, gründete man den Verein „Raum 3“, in dem jedes der 54 Mitglieder eine Einlage von 500 Mark zahlen musste, und lockte damit The Chameleons, Nightwing und Herne 3 an den Niederrhein.
So ging denn am 21. Juni 1984 das erste „Haiderner Open Air Festival“ über die Bühne – die war übrigens „Marke Eigenbau“, wie sich Stefan Reichmann, bis heute Organisator des Festivals, erinnert – „mit Strommasten, alten Dachsparren, Gerüste-Elementen und gestellten Spanplatten, da wir dem Schreiner dafür ein komplettes Haus abgerissen hatten.“
Als ein verblüffter Ministrant hinter der Bühne von einem Band-Techniker nach einem Geldschein gefragt wurde und zusehen musste, wie dieser damit eine weiße Substanz in sich hinein staubsaugerte, kamen den Organisatoren zwar erste Zweifel, ob die Liaison von Katholizismus und Pop nicht doch eine teuflische war, doch der Stolz über das erste Festival ließ alle weitermachen – auch wenn im ersten Jahr jeder der „Raum 3“-Aktionäre 130 Mark draufzahlen musste.
Das wurde in den folgenden Jahren nicht besser, größtenteils unbekannte Bands und schlechtes Wetter rissen sogar noch größere Löcher in die Kassen. Erst als man 1988 Element Of Crime fürs Festival gewann (auf dem Foto lins oben verlässt Sven Regenergerade die Bühne), gab es einen ersten Achtungserfolg. Ein Jahr später kamen dann zu BAP und Fischer Z schon über 2000 Zuschauer, und 1991 kam mit Bob Geldof der erste internationale Star.
I n diesem Jahr findet nun das 25. „Haldern Pop Festival“ – so heißt es mittlerweile offiziell – statt (siehe Kasten oben rechts), und auf der—mittlerweile sehr professionellen – Bühne haben über die Jahre schon Künstler wie Patti Smith, Franz Ferdinand, Bright Eyes, Evan Dando, Travis, Blumfeld, Tocotronic und Jan Delay gestanden. Da entstanden richtige Freundschaften. Neil Hannon von The Divine Comedy spielte mit einem Orchester aus dem Umland ein denkwürdiges Konzert. Ein großer Fan der lokalen Küche und der niederrheinischen Mentalität wurde auch Paul Weller, der 2004 in Haldern nach eigener Einschätzung eines seiner besten Konzerte spielte. Und wer neue Indie-Acts entdecken will, ist eh nirgendwo besser aufgehoben als am Niederrhein, wo etwa Starsailor und die Turin Brakes ihre Karriere begannen und im äußerst lauschigen ROLLING STONE-Spiegelzelt (damals noch) echte Geheimtipps wie Francoiz Breut. Patrick Wolf oder Final Fantasy spielten. Mittlerweile gibt es gar ein eigenes „Haldern Pop“-Label.
Aber vor allem ist das Festival, das nun immer Anfang August stattfindet, mit seinen 5000 Besuchern mittlerweile eine Art Dorf im Dorf geworden. Auch hier trifft man jedes Jahr alte Bekannte, erzählt sich Geschichten von früher und stimmt gemeinsam das Haldern-Lied an: „Niemals kann ich dein vergessen/ Wo ich wandre, wo ich bin/ Haldern, deine Linden rauschen/ 1 mmer mir durch Herz und Sinn.“
In Haldern braucht es keinen Udo Lindenberg, damit die Linde rauscht.